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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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völlig gleichgiltig, ob Jesuiten im deutschen Reiche weilen oder nicht und
wie viel ihrer sind, und zweitens werden wir es den verbündeten Regierungen
und dem Reichstage nicht verargen, wenn sie der Macht des Aberglaubens
Rechnung tragen. Wir haben diese Zeilen nur geschrieben als Ehrenrettung
sür die zahlreichen deutschen Protestanten, die dem Wahne nicht huldigen.

Drei Klassen insbesondre giebt es unter den deutschen Protestanten, die
ihm in alle Ewigkeit nicht verfallen können. Erstens die gläubigen evange¬
lischen Christen, die für die Drohung, jesuitische Schlauheit, Überredungskunst
oder Zaubermacht werde thuen ihren Glauben entreißen, nur ein verächtliches
Lächeln haben. Zweitens die echten, humanistisch und philosophisch gebildeten
Protestanten, die von dem vernünftigen Zusammenhange der weltgeschichtlichen
Ereignisse und von der Verhältnismäßigkeit zwischen Ursache und Wirkung über¬
zeugt sind und allen geistigen Richtungen den freien Wettkampf und das volle
Sichausleben gönnen. Drittens die Vertreter der historischen Wissenschaft, die
an den auf .Kosten der Jesuiten in Umlauf gesetzten Altweibergcschichtcn und
Ammenmärchen keinen Teil haben.




Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern
höhern Schulen

ant hat den Materialismus überwunden, sagt Albert Lange in
seiner Geschichte der materialistischen Weltanschauung. Das kann
man zugeben; aber zu glauben, daß der Materialismus uun
auch überwunden sei, wäre ein großer Irrtum. Zwar ist die
Zeit vorbei, wo die Gartenlaube in populärer Naturwissenschaft
machte, und wo es zum guten Ton gehörte, Büchners "Kraft und Stoff" ge¬
lesen zu haben. Die große Masse der Gebildeten macht sich heutzutage über¬
haupt wenig Sorge um eine Weltanschauung; zur Zeit schwärmt sie für fran-
zösisch-russisch-skandinavische Sittenverderbnis. In einer einflußreichen Klasse
von Gebildeten aber ist der Materialismus noch durchaus die herrschende
Weltanschauung: in dem Kreise der akademisch gebildeten Vertreter der Natur-
wissenschaft. Einflußreich ist diese Klasse insofern, als zu ihr die Lehrer der
höhern Schulen gehören, die ihre Ansichten natürlich auf die Schüler über¬
tragen. In den jugendlichen Köpfen pflegen diese nun zwar nicht zu einer
festen Weltanschauung auszureisen, wohl aber die ärgste Begriffsverwirrung
anzurichten und ein beispiellos unklares Denken zu züchten. Und immer noch


völlig gleichgiltig, ob Jesuiten im deutschen Reiche weilen oder nicht und
wie viel ihrer sind, und zweitens werden wir es den verbündeten Regierungen
und dem Reichstage nicht verargen, wenn sie der Macht des Aberglaubens
Rechnung tragen. Wir haben diese Zeilen nur geschrieben als Ehrenrettung
sür die zahlreichen deutschen Protestanten, die dem Wahne nicht huldigen.

Drei Klassen insbesondre giebt es unter den deutschen Protestanten, die
ihm in alle Ewigkeit nicht verfallen können. Erstens die gläubigen evange¬
lischen Christen, die für die Drohung, jesuitische Schlauheit, Überredungskunst
oder Zaubermacht werde thuen ihren Glauben entreißen, nur ein verächtliches
Lächeln haben. Zweitens die echten, humanistisch und philosophisch gebildeten
Protestanten, die von dem vernünftigen Zusammenhange der weltgeschichtlichen
Ereignisse und von der Verhältnismäßigkeit zwischen Ursache und Wirkung über¬
zeugt sind und allen geistigen Richtungen den freien Wettkampf und das volle
Sichausleben gönnen. Drittens die Vertreter der historischen Wissenschaft, die
an den auf .Kosten der Jesuiten in Umlauf gesetzten Altweibergcschichtcn und
Ammenmärchen keinen Teil haben.




Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern
höhern Schulen

ant hat den Materialismus überwunden, sagt Albert Lange in
seiner Geschichte der materialistischen Weltanschauung. Das kann
man zugeben; aber zu glauben, daß der Materialismus uun
auch überwunden sei, wäre ein großer Irrtum. Zwar ist die
Zeit vorbei, wo die Gartenlaube in populärer Naturwissenschaft
machte, und wo es zum guten Ton gehörte, Büchners „Kraft und Stoff" ge¬
lesen zu haben. Die große Masse der Gebildeten macht sich heutzutage über¬
haupt wenig Sorge um eine Weltanschauung; zur Zeit schwärmt sie für fran-
zösisch-russisch-skandinavische Sittenverderbnis. In einer einflußreichen Klasse
von Gebildeten aber ist der Materialismus noch durchaus die herrschende
Weltanschauung: in dem Kreise der akademisch gebildeten Vertreter der Natur-
wissenschaft. Einflußreich ist diese Klasse insofern, als zu ihr die Lehrer der
höhern Schulen gehören, die ihre Ansichten natürlich auf die Schüler über¬
tragen. In den jugendlichen Köpfen pflegen diese nun zwar nicht zu einer
festen Weltanschauung auszureisen, wohl aber die ärgste Begriffsverwirrung
anzurichten und ein beispiellos unklares Denken zu züchten. Und immer noch


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[0211] völlig gleichgiltig, ob Jesuiten im deutschen Reiche weilen oder nicht und wie viel ihrer sind, und zweitens werden wir es den verbündeten Regierungen und dem Reichstage nicht verargen, wenn sie der Macht des Aberglaubens Rechnung tragen. Wir haben diese Zeilen nur geschrieben als Ehrenrettung sür die zahlreichen deutschen Protestanten, die dem Wahne nicht huldigen. Drei Klassen insbesondre giebt es unter den deutschen Protestanten, die ihm in alle Ewigkeit nicht verfallen können. Erstens die gläubigen evange¬ lischen Christen, die für die Drohung, jesuitische Schlauheit, Überredungskunst oder Zaubermacht werde thuen ihren Glauben entreißen, nur ein verächtliches Lächeln haben. Zweitens die echten, humanistisch und philosophisch gebildeten Protestanten, die von dem vernünftigen Zusammenhange der weltgeschichtlichen Ereignisse und von der Verhältnismäßigkeit zwischen Ursache und Wirkung über¬ zeugt sind und allen geistigen Richtungen den freien Wettkampf und das volle Sichausleben gönnen. Drittens die Vertreter der historischen Wissenschaft, die an den auf .Kosten der Jesuiten in Umlauf gesetzten Altweibergcschichtcn und Ammenmärchen keinen Teil haben. Der naturwissenschaftliche Unterricht auf unsern höhern Schulen ant hat den Materialismus überwunden, sagt Albert Lange in seiner Geschichte der materialistischen Weltanschauung. Das kann man zugeben; aber zu glauben, daß der Materialismus uun auch überwunden sei, wäre ein großer Irrtum. Zwar ist die Zeit vorbei, wo die Gartenlaube in populärer Naturwissenschaft machte, und wo es zum guten Ton gehörte, Büchners „Kraft und Stoff" ge¬ lesen zu haben. Die große Masse der Gebildeten macht sich heutzutage über¬ haupt wenig Sorge um eine Weltanschauung; zur Zeit schwärmt sie für fran- zösisch-russisch-skandinavische Sittenverderbnis. In einer einflußreichen Klasse von Gebildeten aber ist der Materialismus noch durchaus die herrschende Weltanschauung: in dem Kreise der akademisch gebildeten Vertreter der Natur- wissenschaft. Einflußreich ist diese Klasse insofern, als zu ihr die Lehrer der höhern Schulen gehören, die ihre Ansichten natürlich auf die Schüler über¬ tragen. In den jugendlichen Köpfen pflegen diese nun zwar nicht zu einer festen Weltanschauung auszureisen, wohl aber die ärgste Begriffsverwirrung anzurichten und ein beispiellos unklares Denken zu züchten. Und immer noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/211>, abgerufen am 26.08.2024.