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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Leopold Aiimmerlich

vor dem Examen Tag und Nacht; aber er merkte bald, daß seine Auffassungs¬
gabe für viele juristische Fragen gar nicht ausreichte. Er arbeitete sich ganz
dumm und wurde körperlich elend dabei.

Als nun der schwere Tag herangekommen war, fiel Leopold Kümmerlich
rettungslos selbst durch das engmaschige Netz, in das die jungen Juristen von
den nachsichtigen Professoren beim Examen geworfen zu werden Pflegen. Eine
Stelle im 0orxu8 snris, die ihm zur Übersetzung vorgelegt wurde, und vor
der er ganz hilflos stand, brach ihm den Hals.

Nun war er völlig geknickt; besonders der Gedanke an seinen alten Vater
und das versetzte vorxns jais quälte ihn. Sehen Sie, sagte er zu mir, als
ich ihn nach dem unglücklichen Ausfall traf, das ist die gerechte Strafe. Ich
hätte das Vorpu8 juris, das mir mein guter Vater wie einen Talisman mit¬
gab, nicht versetzen sollen. Aber ich bin immer ein guter Lateiner gewesen
und glaubte genug Latein für einen Juristen zu wissen.

Er wurde nun noch menschenscheuer als vorher und ging selbst mir aus
dem Wege, wenn er mich kommen sah. Eines Nachmittags sah ich ihn ganz
allein vor dem schwarzen Brete stehen. Er las aufmerksam einen Anschlag
und notirte sich etwas. Ich wollte ihn anreden, aber er verschwand durch
die Hinterthür ins Kastanienwäldchen. Ich suchte nach dem Anschlag, der
seine Aufmerksamkeit erregt haben könnte, und fand ihn bald heraus: Ein
wenig benutztes voraus juris ist billig zu verkaufen. Näheres im Kohlen¬
geschäft Alexanderplatz 97.

Ein paar Stunden später schlenderte ich die Friedrichsstraße hinunter,
und da kam mir Leopold abermals in den Weg. Er war so mit sich be¬
schäftigt, daß er nicht einmal die solenne Auffahrt einer Studentenverbindung
bemerkte, die in prächtigen Karossen mit galonnirten Kutschern und Dienern
selbstbewußt und protzenhaft nach den Linden fuhr. Er lief mir gerade in
die Arme, und ich hielt ihn fest. Er war ganz atemlos, sein Gesicht war erhitzt,
und er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Mensch, wo kommen Sie her? rief ich. Da streckte er mir freudestrahlend
ein altes dickes Buch entgegen: Denken Sie sich diese Überraschung! stammelte
er- Ich möchte an ein Wunder glauben! Ich habe es wieder, das alte Vorpn8
M'is von meinem Vater!

Alle Wetter, Sie haben es wohl aus einem Backofen geholt! rief ich.
Woher sind Sie denn so erhitzt bei dieser Kälte? Wie sehen Sie aus? Sie
können sich ja kaum auf den Beinen halten.

Ich will es Ihnen später erzählen, sagte er mühsam. Ich bin wirklich
nahe daran, umzufallen.

Ach zog ihn in eine Kneipe in der Mittelstraße und bemerkte, als wir
uns an den Tisch gesetzt hatten, daß dem armen Menschen die Hände
zitterten.


Leopold Aiimmerlich

vor dem Examen Tag und Nacht; aber er merkte bald, daß seine Auffassungs¬
gabe für viele juristische Fragen gar nicht ausreichte. Er arbeitete sich ganz
dumm und wurde körperlich elend dabei.

Als nun der schwere Tag herangekommen war, fiel Leopold Kümmerlich
rettungslos selbst durch das engmaschige Netz, in das die jungen Juristen von
den nachsichtigen Professoren beim Examen geworfen zu werden Pflegen. Eine
Stelle im 0orxu8 snris, die ihm zur Übersetzung vorgelegt wurde, und vor
der er ganz hilflos stand, brach ihm den Hals.

Nun war er völlig geknickt; besonders der Gedanke an seinen alten Vater
und das versetzte vorxns jais quälte ihn. Sehen Sie, sagte er zu mir, als
ich ihn nach dem unglücklichen Ausfall traf, das ist die gerechte Strafe. Ich
hätte das Vorpu8 juris, das mir mein guter Vater wie einen Talisman mit¬
gab, nicht versetzen sollen. Aber ich bin immer ein guter Lateiner gewesen
und glaubte genug Latein für einen Juristen zu wissen.

Er wurde nun noch menschenscheuer als vorher und ging selbst mir aus
dem Wege, wenn er mich kommen sah. Eines Nachmittags sah ich ihn ganz
allein vor dem schwarzen Brete stehen. Er las aufmerksam einen Anschlag
und notirte sich etwas. Ich wollte ihn anreden, aber er verschwand durch
die Hinterthür ins Kastanienwäldchen. Ich suchte nach dem Anschlag, der
seine Aufmerksamkeit erregt haben könnte, und fand ihn bald heraus: Ein
wenig benutztes voraus juris ist billig zu verkaufen. Näheres im Kohlen¬
geschäft Alexanderplatz 97.

Ein paar Stunden später schlenderte ich die Friedrichsstraße hinunter,
und da kam mir Leopold abermals in den Weg. Er war so mit sich be¬
schäftigt, daß er nicht einmal die solenne Auffahrt einer Studentenverbindung
bemerkte, die in prächtigen Karossen mit galonnirten Kutschern und Dienern
selbstbewußt und protzenhaft nach den Linden fuhr. Er lief mir gerade in
die Arme, und ich hielt ihn fest. Er war ganz atemlos, sein Gesicht war erhitzt,
und er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Mensch, wo kommen Sie her? rief ich. Da streckte er mir freudestrahlend
ein altes dickes Buch entgegen: Denken Sie sich diese Überraschung! stammelte
er- Ich möchte an ein Wunder glauben! Ich habe es wieder, das alte Vorpn8
M'is von meinem Vater!

Alle Wetter, Sie haben es wohl aus einem Backofen geholt! rief ich.
Woher sind Sie denn so erhitzt bei dieser Kälte? Wie sehen Sie aus? Sie
können sich ja kaum auf den Beinen halten.

Ich will es Ihnen später erzählen, sagte er mühsam. Ich bin wirklich
nahe daran, umzufallen.

Ach zog ihn in eine Kneipe in der Mittelstraße und bemerkte, als wir
uns an den Tisch gesetzt hatten, daß dem armen Menschen die Hände
zitterten.


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[0192] Leopold Aiimmerlich vor dem Examen Tag und Nacht; aber er merkte bald, daß seine Auffassungs¬ gabe für viele juristische Fragen gar nicht ausreichte. Er arbeitete sich ganz dumm und wurde körperlich elend dabei. Als nun der schwere Tag herangekommen war, fiel Leopold Kümmerlich rettungslos selbst durch das engmaschige Netz, in das die jungen Juristen von den nachsichtigen Professoren beim Examen geworfen zu werden Pflegen. Eine Stelle im 0orxu8 snris, die ihm zur Übersetzung vorgelegt wurde, und vor der er ganz hilflos stand, brach ihm den Hals. Nun war er völlig geknickt; besonders der Gedanke an seinen alten Vater und das versetzte vorxns jais quälte ihn. Sehen Sie, sagte er zu mir, als ich ihn nach dem unglücklichen Ausfall traf, das ist die gerechte Strafe. Ich hätte das Vorpu8 juris, das mir mein guter Vater wie einen Talisman mit¬ gab, nicht versetzen sollen. Aber ich bin immer ein guter Lateiner gewesen und glaubte genug Latein für einen Juristen zu wissen. Er wurde nun noch menschenscheuer als vorher und ging selbst mir aus dem Wege, wenn er mich kommen sah. Eines Nachmittags sah ich ihn ganz allein vor dem schwarzen Brete stehen. Er las aufmerksam einen Anschlag und notirte sich etwas. Ich wollte ihn anreden, aber er verschwand durch die Hinterthür ins Kastanienwäldchen. Ich suchte nach dem Anschlag, der seine Aufmerksamkeit erregt haben könnte, und fand ihn bald heraus: Ein wenig benutztes voraus juris ist billig zu verkaufen. Näheres im Kohlen¬ geschäft Alexanderplatz 97. Ein paar Stunden später schlenderte ich die Friedrichsstraße hinunter, und da kam mir Leopold abermals in den Weg. Er war so mit sich be¬ schäftigt, daß er nicht einmal die solenne Auffahrt einer Studentenverbindung bemerkte, die in prächtigen Karossen mit galonnirten Kutschern und Dienern selbstbewußt und protzenhaft nach den Linden fuhr. Er lief mir gerade in die Arme, und ich hielt ihn fest. Er war ganz atemlos, sein Gesicht war erhitzt, und er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mensch, wo kommen Sie her? rief ich. Da streckte er mir freudestrahlend ein altes dickes Buch entgegen: Denken Sie sich diese Überraschung! stammelte er- Ich möchte an ein Wunder glauben! Ich habe es wieder, das alte Vorpn8 M'is von meinem Vater! Alle Wetter, Sie haben es wohl aus einem Backofen geholt! rief ich. Woher sind Sie denn so erhitzt bei dieser Kälte? Wie sehen Sie aus? Sie können sich ja kaum auf den Beinen halten. Ich will es Ihnen später erzählen, sagte er mühsam. Ich bin wirklich nahe daran, umzufallen. Ach zog ihn in eine Kneipe in der Mittelstraße und bemerkte, als wir uns an den Tisch gesetzt hatten, daß dem armen Menschen die Hände zitterten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/192>, abgerufen am 03.07.2024.