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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Die Mina'rvorlage und der Antrag Bennigsen

Gerechtigkeitsgefühl entspricht, wenigstens annähernd zur Wahrheit gemacht.
Zugleich würde bei den Fußtruppen jeder Soldat die Gewißheit erhalten, nach
dem zweiten Dienstjahr entlassen zu werden, was für den einzelnen eine große
Wohlthat wäre und den Militärdienst überhaupt wesentlich erleichterte. Es
fiele damit zugleich die üble Einrichtung der Dispositionsurlauber weg (daß
nämlich ein Teil der Mannschaft schon nach dem zweiten Jahre entlassen wurde),
eine Einrichtung, die nur allzu leicht als willkürliche Begünstigung der einen
und Benachteiligung der andern empfunden wurde. Natürlich müßte das Recht
jedes Soldaten auf Entlassung nach zweijährigem Dienst gesetzlich festgestellt
werden. (Darin hat ohne Zweifel Herr von Bennigsen Recht.)

Es würden ferner die dreijährigen Übungen der Ersatzreservisten weg¬
fallen, durch die diese Leute in ihrem bürgerlichen Gewerbe oft sehr gestört
wurden, und die doch zu keiner vollkommnen militärischen Ausbildung führten.

Man kann hiernach sagen, daß die Reform darauf abzielt, die schwere
Militürlast durchweg gleichmäßiger auf die Schultern der einzelnen zu ver¬
teilen. Diesem Vorteil steht allerdings die Thatsache gegenüber, daß die Last
selbst um ein bedeutendes vergrößert wird.

Damit aber erreichen wir -- und das ist die Hauptsache --, daß wir
Frankreich auch in der Zahl unsrer Truppen überlegen bleiben. Die deutsche
Heeresverwaltung würde uach der neuen Organisation jährlich gegen 263000
Rekruten einstellen und ausbilden.*) Frankreich vermag ein gleiches nur mit
230000 Rekruten zu thun. Darin liegt die beste Bürgschaft für den Frieden
Europas.

Wie hat sich nun der deutsche Reichstag zu diesen Forderungen gestellt?

Die konservativen Parteien haben anfangs dem Reformplan zum Vorwurf
gemacht, daß er die dreijährige Dienstzeit aufgeben wolle. Viele Konservative
haben seit langen Jahren, Hand in Hand mit der preußischen Regierung, die
dreijährige Dienstzeit als Notwendigkeit verteidigt; und es ist natürlich, daß
es ihnen schwer wurde, von diesem Gedanken, in den sie sich eingelebt hatten,
abzugehen. Gleichwohl sind sie im Laufe der Verhandlungen vollständig auf
die Seite der Regierungsvorlage getreten. Ihnen nachzusagen, sie hätten sich
dazu erst entschlossen, nachdem sie gesehen, daß die Vorlage doch keine Aus¬
sicht auf Erfolg habe, halten wir nicht für gerechtfertigt.

Von den Sozialdemokraten brauchen wir nichts zu sagen. Ihre Haltung
versteht sich von selbst.

Die freisinnige Partei und das Zentrum haben sich bereit erklärt, soviel
Mannschaften für den zweijährigen Dienst mehr zu bewilligen, als durch die
vollständige Entlassung der Mannschaften im dritten Jahre erspart werden.



Die norddeutsche Allgemeine Zeitung sagt: nicht 263000 Rekruten, sondern nur
248 bis 249000, also weit weniger, als die Broschüre annimmt, sollen jährlich eingestellt werden.
Die Mina'rvorlage und der Antrag Bennigsen

Gerechtigkeitsgefühl entspricht, wenigstens annähernd zur Wahrheit gemacht.
Zugleich würde bei den Fußtruppen jeder Soldat die Gewißheit erhalten, nach
dem zweiten Dienstjahr entlassen zu werden, was für den einzelnen eine große
Wohlthat wäre und den Militärdienst überhaupt wesentlich erleichterte. Es
fiele damit zugleich die üble Einrichtung der Dispositionsurlauber weg (daß
nämlich ein Teil der Mannschaft schon nach dem zweiten Jahre entlassen wurde),
eine Einrichtung, die nur allzu leicht als willkürliche Begünstigung der einen
und Benachteiligung der andern empfunden wurde. Natürlich müßte das Recht
jedes Soldaten auf Entlassung nach zweijährigem Dienst gesetzlich festgestellt
werden. (Darin hat ohne Zweifel Herr von Bennigsen Recht.)

Es würden ferner die dreijährigen Übungen der Ersatzreservisten weg¬
fallen, durch die diese Leute in ihrem bürgerlichen Gewerbe oft sehr gestört
wurden, und die doch zu keiner vollkommnen militärischen Ausbildung führten.

Man kann hiernach sagen, daß die Reform darauf abzielt, die schwere
Militürlast durchweg gleichmäßiger auf die Schultern der einzelnen zu ver¬
teilen. Diesem Vorteil steht allerdings die Thatsache gegenüber, daß die Last
selbst um ein bedeutendes vergrößert wird.

Damit aber erreichen wir — und das ist die Hauptsache —, daß wir
Frankreich auch in der Zahl unsrer Truppen überlegen bleiben. Die deutsche
Heeresverwaltung würde uach der neuen Organisation jährlich gegen 263000
Rekruten einstellen und ausbilden.*) Frankreich vermag ein gleiches nur mit
230000 Rekruten zu thun. Darin liegt die beste Bürgschaft für den Frieden
Europas.

Wie hat sich nun der deutsche Reichstag zu diesen Forderungen gestellt?

Die konservativen Parteien haben anfangs dem Reformplan zum Vorwurf
gemacht, daß er die dreijährige Dienstzeit aufgeben wolle. Viele Konservative
haben seit langen Jahren, Hand in Hand mit der preußischen Regierung, die
dreijährige Dienstzeit als Notwendigkeit verteidigt; und es ist natürlich, daß
es ihnen schwer wurde, von diesem Gedanken, in den sie sich eingelebt hatten,
abzugehen. Gleichwohl sind sie im Laufe der Verhandlungen vollständig auf
die Seite der Regierungsvorlage getreten. Ihnen nachzusagen, sie hätten sich
dazu erst entschlossen, nachdem sie gesehen, daß die Vorlage doch keine Aus¬
sicht auf Erfolg habe, halten wir nicht für gerechtfertigt.

Von den Sozialdemokraten brauchen wir nichts zu sagen. Ihre Haltung
versteht sich von selbst.

Die freisinnige Partei und das Zentrum haben sich bereit erklärt, soviel
Mannschaften für den zweijährigen Dienst mehr zu bewilligen, als durch die
vollständige Entlassung der Mannschaften im dritten Jahre erspart werden.



Die norddeutsche Allgemeine Zeitung sagt: nicht 263000 Rekruten, sondern nur
248 bis 249000, also weit weniger, als die Broschüre annimmt, sollen jährlich eingestellt werden.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/177>, abgerufen am 03.07.2024.