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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

sellschciftliche Arbeit, an deren Aussparung sich Eltern, Kirche, Schule, Ge¬
meinde und Staat beteiligt haben, zu tausend Mark an. Das würde für
20000 Arbeiter ein Gesamtarbeitskapital von 20 Millionen ergeben. Würde
die Fabrik neu gegründet, so müßten diese 20 Millionen der Arbeiterschaft als
Kredit neben dem übrigen Anlagekapital gutgeschrieben werden. Der einzelne
Arbeiter erhielte selbstverständlich, da es sich bei diesem Kapital nicht um seine
Ersparnisse, sondern um gesellschaftlich erspartes Arbeitskapital handelt, nur
einen Anspruch auf die auf seinen Kapitalanteil fallende Dividende. Diese
würde ihm alljährlich gutgeschrieben und von fünf zu fünf Jahren ausgezahlt.
Bei einem selbstverschuldeten Austritt aus dem Betriebe vor Ablauf der fünf¬
jährigen Ziusperivde ginge er seines Anteils zu Gunsten der übrigen Arbeiter¬
schaft verlustig.

Auf diese Weise würde jeder Arbeiter von selbst.Kapitalist, sein Interesse
mit dem des Unternehmers aufs engste verknüpft und dadurch der große Riß
zwischen Kapital und Arbeit am sichersten ausgeglichen werden. Gleichzeitig
würde in die Arbeiterbevölkerung eine Stetigkeit und Seßhaftigkeit kommen,
wie sie auf anderm Wege gar nicht zu erreichen wäre. Daß die gesetzliche
Durchführung nur bei Anlegung neuer Betriebe möglich wäre, wollen wir noch¬
mals betonen. Inwieweit seine Ausdehnung auf bestehende Betriebe vertrags¬
weise möglich ist, brauchen wir hier nicht zu untersuchen.

Zum Schluß haben nur noch eine ernste Frage an die deutsche Schule
zu richten! Wie ist es möglich, daß hunderttausende eben der Schule ent¬
wachsene Burschen alles, was ihnen die Schule an Idealen zu bieten hat, in
kurzer Zeit in den Kot treten und einer sittlichen Verwilderung anheimfallen,
die kaum noch vor Meineid und Mord halt macht? Wer sich diese Masfen-
frucht der deutschen Jugenderziehung vergegenwärtigt, wird notwendig zu der
Überzeugung gelangen, daß in der Schule etwas faul sein müsse. Denn an
ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! Niemand wird denn auch leugnen können,
daß die deutsche Stacitsschulc bisher nicht den schweren Anforderungen ge¬
wachsen gewesen ist, die die soziale Frage an sie stellt. Wir klage!? nicht an,
sondern wir sprechen nur eine Thatsache aus. Nach der Ursache haben wir
bisher vergebens geforscht. Sind wirklich Stoff und Methode der heutigen
Staatsschule so verflacht, daß sie das Menschenherz nicht mehr dauernd mit
Idealen zu erfüllen vermögen? Oder hat der eigne Maugel an Befriedigung,
der die deutsche Lehrerwelt ob ihrer finanziell und sozial nicht genügend ge¬
regelten Stellung erfüllt, hier verhängnisvolle Früchte gezeitigt? Oder nimmt
die Schule die Kinder zu früh auf und entläßt sie zu früh, ehe ihr Charakter
soweit erstarkt ist, daß er dauernde Einwirkungen aus der Schule mit ins
Leben hinausnimmt? Alle diese Fragen sind berechtigt, und es dürfte die
höchste Zeit sein, daß sich ihnen die öffentliche Aufmerksamkeit zuwendet. Wer
den Beruf hat, möge dabei vorangehen. Wir wollen uns hier nur offen zu


Grenzboten II 1893 21
Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

sellschciftliche Arbeit, an deren Aussparung sich Eltern, Kirche, Schule, Ge¬
meinde und Staat beteiligt haben, zu tausend Mark an. Das würde für
20000 Arbeiter ein Gesamtarbeitskapital von 20 Millionen ergeben. Würde
die Fabrik neu gegründet, so müßten diese 20 Millionen der Arbeiterschaft als
Kredit neben dem übrigen Anlagekapital gutgeschrieben werden. Der einzelne
Arbeiter erhielte selbstverständlich, da es sich bei diesem Kapital nicht um seine
Ersparnisse, sondern um gesellschaftlich erspartes Arbeitskapital handelt, nur
einen Anspruch auf die auf seinen Kapitalanteil fallende Dividende. Diese
würde ihm alljährlich gutgeschrieben und von fünf zu fünf Jahren ausgezahlt.
Bei einem selbstverschuldeten Austritt aus dem Betriebe vor Ablauf der fünf¬
jährigen Ziusperivde ginge er seines Anteils zu Gunsten der übrigen Arbeiter¬
schaft verlustig.

Auf diese Weise würde jeder Arbeiter von selbst.Kapitalist, sein Interesse
mit dem des Unternehmers aufs engste verknüpft und dadurch der große Riß
zwischen Kapital und Arbeit am sichersten ausgeglichen werden. Gleichzeitig
würde in die Arbeiterbevölkerung eine Stetigkeit und Seßhaftigkeit kommen,
wie sie auf anderm Wege gar nicht zu erreichen wäre. Daß die gesetzliche
Durchführung nur bei Anlegung neuer Betriebe möglich wäre, wollen wir noch¬
mals betonen. Inwieweit seine Ausdehnung auf bestehende Betriebe vertrags¬
weise möglich ist, brauchen wir hier nicht zu untersuchen.

Zum Schluß haben nur noch eine ernste Frage an die deutsche Schule
zu richten! Wie ist es möglich, daß hunderttausende eben der Schule ent¬
wachsene Burschen alles, was ihnen die Schule an Idealen zu bieten hat, in
kurzer Zeit in den Kot treten und einer sittlichen Verwilderung anheimfallen,
die kaum noch vor Meineid und Mord halt macht? Wer sich diese Masfen-
frucht der deutschen Jugenderziehung vergegenwärtigt, wird notwendig zu der
Überzeugung gelangen, daß in der Schule etwas faul sein müsse. Denn an
ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! Niemand wird denn auch leugnen können,
daß die deutsche Stacitsschulc bisher nicht den schweren Anforderungen ge¬
wachsen gewesen ist, die die soziale Frage an sie stellt. Wir klage!? nicht an,
sondern wir sprechen nur eine Thatsache aus. Nach der Ursache haben wir
bisher vergebens geforscht. Sind wirklich Stoff und Methode der heutigen
Staatsschule so verflacht, daß sie das Menschenherz nicht mehr dauernd mit
Idealen zu erfüllen vermögen? Oder hat der eigne Maugel an Befriedigung,
der die deutsche Lehrerwelt ob ihrer finanziell und sozial nicht genügend ge¬
regelten Stellung erfüllt, hier verhängnisvolle Früchte gezeitigt? Oder nimmt
die Schule die Kinder zu früh auf und entläßt sie zu früh, ehe ihr Charakter
soweit erstarkt ist, daß er dauernde Einwirkungen aus der Schule mit ins
Leben hinausnimmt? Alle diese Fragen sind berechtigt, und es dürfte die
höchste Zeit sein, daß sich ihnen die öffentliche Aufmerksamkeit zuwendet. Wer
den Beruf hat, möge dabei vorangehen. Wir wollen uns hier nur offen zu


Grenzboten II 1893 21
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[0171] Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage sellschciftliche Arbeit, an deren Aussparung sich Eltern, Kirche, Schule, Ge¬ meinde und Staat beteiligt haben, zu tausend Mark an. Das würde für 20000 Arbeiter ein Gesamtarbeitskapital von 20 Millionen ergeben. Würde die Fabrik neu gegründet, so müßten diese 20 Millionen der Arbeiterschaft als Kredit neben dem übrigen Anlagekapital gutgeschrieben werden. Der einzelne Arbeiter erhielte selbstverständlich, da es sich bei diesem Kapital nicht um seine Ersparnisse, sondern um gesellschaftlich erspartes Arbeitskapital handelt, nur einen Anspruch auf die auf seinen Kapitalanteil fallende Dividende. Diese würde ihm alljährlich gutgeschrieben und von fünf zu fünf Jahren ausgezahlt. Bei einem selbstverschuldeten Austritt aus dem Betriebe vor Ablauf der fünf¬ jährigen Ziusperivde ginge er seines Anteils zu Gunsten der übrigen Arbeiter¬ schaft verlustig. Auf diese Weise würde jeder Arbeiter von selbst.Kapitalist, sein Interesse mit dem des Unternehmers aufs engste verknüpft und dadurch der große Riß zwischen Kapital und Arbeit am sichersten ausgeglichen werden. Gleichzeitig würde in die Arbeiterbevölkerung eine Stetigkeit und Seßhaftigkeit kommen, wie sie auf anderm Wege gar nicht zu erreichen wäre. Daß die gesetzliche Durchführung nur bei Anlegung neuer Betriebe möglich wäre, wollen wir noch¬ mals betonen. Inwieweit seine Ausdehnung auf bestehende Betriebe vertrags¬ weise möglich ist, brauchen wir hier nicht zu untersuchen. Zum Schluß haben nur noch eine ernste Frage an die deutsche Schule zu richten! Wie ist es möglich, daß hunderttausende eben der Schule ent¬ wachsene Burschen alles, was ihnen die Schule an Idealen zu bieten hat, in kurzer Zeit in den Kot treten und einer sittlichen Verwilderung anheimfallen, die kaum noch vor Meineid und Mord halt macht? Wer sich diese Masfen- frucht der deutschen Jugenderziehung vergegenwärtigt, wird notwendig zu der Überzeugung gelangen, daß in der Schule etwas faul sein müsse. Denn an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! Niemand wird denn auch leugnen können, daß die deutsche Stacitsschulc bisher nicht den schweren Anforderungen ge¬ wachsen gewesen ist, die die soziale Frage an sie stellt. Wir klage!? nicht an, sondern wir sprechen nur eine Thatsache aus. Nach der Ursache haben wir bisher vergebens geforscht. Sind wirklich Stoff und Methode der heutigen Staatsschule so verflacht, daß sie das Menschenherz nicht mehr dauernd mit Idealen zu erfüllen vermögen? Oder hat der eigne Maugel an Befriedigung, der die deutsche Lehrerwelt ob ihrer finanziell und sozial nicht genügend ge¬ regelten Stellung erfüllt, hier verhängnisvolle Früchte gezeitigt? Oder nimmt die Schule die Kinder zu früh auf und entläßt sie zu früh, ehe ihr Charakter soweit erstarkt ist, daß er dauernde Einwirkungen aus der Schule mit ins Leben hinausnimmt? Alle diese Fragen sind berechtigt, und es dürfte die höchste Zeit sein, daß sich ihnen die öffentliche Aufmerksamkeit zuwendet. Wer den Beruf hat, möge dabei vorangehen. Wir wollen uns hier nur offen zu Grenzboten II 1893 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/171>, abgerufen am 03.07.2024.