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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

orgcmiscitionen von so gewaltiger Tragweite, wie wir sie hier angedeutet haben,
nur unter der Führung eines Willensstärken und dem Jnteressenkampfe der
einzelnen Gesellschaftsgruppen vollständig entrückten Monarchen ruhig und
sicher vollziehen können. Dies möchten wir Herrn Bebel und seinen Fraktivns-
genossen, die von der republikanischen Staatsform das Heil erwarten, noch
besonders entgegenhalten. Die letzten Erfahrungen der großen französischen
Republik, die auf dem Stimmrecht aller Zwanzigjährigen beruht, könnten den
Herren Sozialdemokraten eine heilsame Lehre geben, wenn sie aus der Ge¬
schichte überhaupt lernen wollten.

Ganz unberührt bleibt ferner das allgemeine Wahlrecht, das bei einem
andern Verlauf der Dinge kaum aufrecht zu halten sein würde. Sogar eine
Erweiterung auf alle zwanzigjährigen "Staatsbürger" würde dadurch nicht
ausgeschlossen werden, denn ein zwanzigjähriger Maurergeselle, der über seine
Interessen abzustimmen hat, würde immer noch eine glücklichere Figur abgeben,
als ein fünfundzwanzigjühriger Schneider, der das "Gesamtinteresse" des Volkes
vertreten soll. Sogar die Frage des Frauenstimmrechts wäre teilweise im
Bebelscheu Sinne lösbar, da es wohl unbedenklich sein würde, den selbständigen
Frauen innerhalb ihrer Berufsklasse ein Stimmrecht einzuräumen.

Nur auf diesem Wege kann der jetzige Konflikt zwischen Staat und Ge¬
sellschaft ausgeglichen werden, den Bebel im Auge hat, wenn er für sein Zu¬
kunftsreich den Staat verwirft und durch eine Gesellschaftsordnung ersetzen
will. Es war das keineswegs eine bloße Wortklauberei, wie Herr Richter
meint, vielmehr liegt der unbestreitbar richtige Gedanke zu Grunde, daß die
Staatsvrganisation der gesellschaftlichen Entwicklung folgen muß, wenn beide
nicht in einen unlösbaren Widerspruch geraten sollen, der stets zur Revolution
führen wird. Denn der Staat ist niemals Selbstzweck, sondern nur Mittel
zum Zweck, und während eine bürgerliche Gesellschaft ohne politische Staats¬
vrganisation sehr wohl denkbar ist, wird es niemals einen Staat ohne Ge¬
sellschaft geben.

Hiermit möchten wir das rein politische Gebiet verlassen und uns nun
zu den Anforderungen wenden, die wir auf dem wirtschaftlichen Gebiete zur
Lösung der sozialen Frage zu stellen haben.

Die soziale Frage ist, wie wir gezeigt haben, aus der völligen Des¬
organisation der Volkswirtschaft entstanden, die wir dem Liberalismus und
der modernen Technik zu verdanken haben. Nun, zu dem Loche, wo die
Geister hereingekommen sind, da müssen sie auch wieder hinaus, wenn wir sie
loswerden wollen!

Die erste und wichtigste Aufgabe eines auf die Vertretung der wirtschaft¬
lichen Interessen der gesellschaftlichen Berufsklassen des Volkes gegründeten
'^ichsvertretung wird es sein, die Produktion von neuem zu organisiren und
im wüsten Kampf aller gegen alle soweit als möglich zu beseitigen. Wir


Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

orgcmiscitionen von so gewaltiger Tragweite, wie wir sie hier angedeutet haben,
nur unter der Führung eines Willensstärken und dem Jnteressenkampfe der
einzelnen Gesellschaftsgruppen vollständig entrückten Monarchen ruhig und
sicher vollziehen können. Dies möchten wir Herrn Bebel und seinen Fraktivns-
genossen, die von der republikanischen Staatsform das Heil erwarten, noch
besonders entgegenhalten. Die letzten Erfahrungen der großen französischen
Republik, die auf dem Stimmrecht aller Zwanzigjährigen beruht, könnten den
Herren Sozialdemokraten eine heilsame Lehre geben, wenn sie aus der Ge¬
schichte überhaupt lernen wollten.

Ganz unberührt bleibt ferner das allgemeine Wahlrecht, das bei einem
andern Verlauf der Dinge kaum aufrecht zu halten sein würde. Sogar eine
Erweiterung auf alle zwanzigjährigen „Staatsbürger" würde dadurch nicht
ausgeschlossen werden, denn ein zwanzigjähriger Maurergeselle, der über seine
Interessen abzustimmen hat, würde immer noch eine glücklichere Figur abgeben,
als ein fünfundzwanzigjühriger Schneider, der das „Gesamtinteresse" des Volkes
vertreten soll. Sogar die Frage des Frauenstimmrechts wäre teilweise im
Bebelscheu Sinne lösbar, da es wohl unbedenklich sein würde, den selbständigen
Frauen innerhalb ihrer Berufsklasse ein Stimmrecht einzuräumen.

Nur auf diesem Wege kann der jetzige Konflikt zwischen Staat und Ge¬
sellschaft ausgeglichen werden, den Bebel im Auge hat, wenn er für sein Zu¬
kunftsreich den Staat verwirft und durch eine Gesellschaftsordnung ersetzen
will. Es war das keineswegs eine bloße Wortklauberei, wie Herr Richter
meint, vielmehr liegt der unbestreitbar richtige Gedanke zu Grunde, daß die
Staatsvrganisation der gesellschaftlichen Entwicklung folgen muß, wenn beide
nicht in einen unlösbaren Widerspruch geraten sollen, der stets zur Revolution
führen wird. Denn der Staat ist niemals Selbstzweck, sondern nur Mittel
zum Zweck, und während eine bürgerliche Gesellschaft ohne politische Staats¬
vrganisation sehr wohl denkbar ist, wird es niemals einen Staat ohne Ge¬
sellschaft geben.

Hiermit möchten wir das rein politische Gebiet verlassen und uns nun
zu den Anforderungen wenden, die wir auf dem wirtschaftlichen Gebiete zur
Lösung der sozialen Frage zu stellen haben.

Die soziale Frage ist, wie wir gezeigt haben, aus der völligen Des¬
organisation der Volkswirtschaft entstanden, die wir dem Liberalismus und
der modernen Technik zu verdanken haben. Nun, zu dem Loche, wo die
Geister hereingekommen sind, da müssen sie auch wieder hinaus, wenn wir sie
loswerden wollen!

Die erste und wichtigste Aufgabe eines auf die Vertretung der wirtschaft¬
lichen Interessen der gesellschaftlichen Berufsklassen des Volkes gegründeten
'^ichsvertretung wird es sein, die Produktion von neuem zu organisiren und
im wüsten Kampf aller gegen alle soweit als möglich zu beseitigen. Wir


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[0165] Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage orgcmiscitionen von so gewaltiger Tragweite, wie wir sie hier angedeutet haben, nur unter der Führung eines Willensstärken und dem Jnteressenkampfe der einzelnen Gesellschaftsgruppen vollständig entrückten Monarchen ruhig und sicher vollziehen können. Dies möchten wir Herrn Bebel und seinen Fraktivns- genossen, die von der republikanischen Staatsform das Heil erwarten, noch besonders entgegenhalten. Die letzten Erfahrungen der großen französischen Republik, die auf dem Stimmrecht aller Zwanzigjährigen beruht, könnten den Herren Sozialdemokraten eine heilsame Lehre geben, wenn sie aus der Ge¬ schichte überhaupt lernen wollten. Ganz unberührt bleibt ferner das allgemeine Wahlrecht, das bei einem andern Verlauf der Dinge kaum aufrecht zu halten sein würde. Sogar eine Erweiterung auf alle zwanzigjährigen „Staatsbürger" würde dadurch nicht ausgeschlossen werden, denn ein zwanzigjähriger Maurergeselle, der über seine Interessen abzustimmen hat, würde immer noch eine glücklichere Figur abgeben, als ein fünfundzwanzigjühriger Schneider, der das „Gesamtinteresse" des Volkes vertreten soll. Sogar die Frage des Frauenstimmrechts wäre teilweise im Bebelscheu Sinne lösbar, da es wohl unbedenklich sein würde, den selbständigen Frauen innerhalb ihrer Berufsklasse ein Stimmrecht einzuräumen. Nur auf diesem Wege kann der jetzige Konflikt zwischen Staat und Ge¬ sellschaft ausgeglichen werden, den Bebel im Auge hat, wenn er für sein Zu¬ kunftsreich den Staat verwirft und durch eine Gesellschaftsordnung ersetzen will. Es war das keineswegs eine bloße Wortklauberei, wie Herr Richter meint, vielmehr liegt der unbestreitbar richtige Gedanke zu Grunde, daß die Staatsvrganisation der gesellschaftlichen Entwicklung folgen muß, wenn beide nicht in einen unlösbaren Widerspruch geraten sollen, der stets zur Revolution führen wird. Denn der Staat ist niemals Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck, und während eine bürgerliche Gesellschaft ohne politische Staats¬ vrganisation sehr wohl denkbar ist, wird es niemals einen Staat ohne Ge¬ sellschaft geben. Hiermit möchten wir das rein politische Gebiet verlassen und uns nun zu den Anforderungen wenden, die wir auf dem wirtschaftlichen Gebiete zur Lösung der sozialen Frage zu stellen haben. Die soziale Frage ist, wie wir gezeigt haben, aus der völligen Des¬ organisation der Volkswirtschaft entstanden, die wir dem Liberalismus und der modernen Technik zu verdanken haben. Nun, zu dem Loche, wo die Geister hereingekommen sind, da müssen sie auch wieder hinaus, wenn wir sie loswerden wollen! Die erste und wichtigste Aufgabe eines auf die Vertretung der wirtschaft¬ lichen Interessen der gesellschaftlichen Berufsklassen des Volkes gegründeten '^ichsvertretung wird es sein, die Produktion von neuem zu organisiren und im wüsten Kampf aller gegen alle soweit als möglich zu beseitigen. Wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/165>, abgerufen am 23.07.2024.