Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

War wie ein gehetztes Wild. Ich traf ihn mir gelegentlich; und dann hatte
er kaum Zeit, mit mir bei Kortwig eine Weiße zu trinken.

Es gab wohl keinen ürmern Teufel unter den Studenten, als Leopold.
Trotzdem ging er bei der Verteilung von Stipendien immer leer aus, und er
merkte bald, daß doch noch andre Angelhaken notwendig seien, als das bloße
Armutszeugnis, um ein Stipendium einzufangen. Nur einen Freitisch für deu
Donnerstag hatte er erhalten, und nach diesen Donnerstagen teilte er den
Monat ein. Das Geld für die übrigen Mahlzeiten und für Wohnung und
Kleidung mußte er sich verdienen. Oft gab er in der Woche mehr als zwanzig
Privntstuuden, die Stunde für fünfzig Pfennig und vielleicht noch eine Tasse
Kaffee. Aber diesen Massennnterricht hatte er nur in den Wochen vor Ostern
und vor Michaelis, wenn die Eltern Angst bekamen, ihre Sprößlinge könnten
"sitzen bleiben." Während der übrigen Zeit mußte er auf andern Erwerb
Jagd machen. Er wohnte in einem Hintergebäude der Karlstraße vier Treppen
hoch, bei einer alten Witwe, Frau Künste. Die ganze Wohnung bestand aus
einer Kammer und der Küche. Leopold wohnte in der Kammer, und seine
Wirtin hatte die Küche dnrch einen Vorhang geteilt und dadurch einen Neben-
raum geschaffen, wo sie schlief. Ihr Manu, der auf dem Stettiner Bahnhof
Wagenschicbcr gewesen und eines Tages zwischen die Puffer geraten war,
hatte ihr nichts hinterlassen. Ihre Witweupension reichte kaum hin, die Kar¬
toffeln zu bezahlen, und so war sie aufs Vermieter angewiesen. Es war eine
erbärmliche Wohnung, aber für zwei Thaler den Monat konnte Leopold in
Berlin nichts besseres finden. Übrigens war sie groß genug für ihn, da er
keinen Kleiderschrank brauchte. Selbst bei der stärksten Kälte sah ich ihn immer
uur in einem kurze" schwarzen Röckchen, das zwar sauber gebürstet war, aber
doch an den Ellenbogen und an den Nähten wie Speck glänzte. Als ich ihn
bei einer unsrer flüchtigen Begegnungen darauf aufmerksam machte, daß er
sich erkälten würde, erwiderte er errötend, sein alter Winterüberzieher sei ihm
so eng und knapp geworden, daß es sogar deu Straßenjungen aufgefallen sei,
und sie ihm nachgerufen hätten: Anjnst, halt die Pelle fest, du jehst wohl
aufs Schloß zur Audienz? Er würde sich aber nächstens aus der Goldner
110 einen billigen Überzieher kaufen; die Kleider zum Examen bekäme er ja
glücklicherweise beim Juden geliehen. Vorläufig habe er sein einziges Besitz¬
tum, sein Lorxn8 juris, zum Antiquar tragen müssen, um Frau Künste die
Miete bezahle" zu können. Mit blutendem Herzen habe ers gethan, weil das
Buch doch ein Geschenk seines Vaters sei, aber er brauche es ihm ja nicht
zu schreiben. Und dann: so viel Latein, wie darin stünde, wüßte er noch
uumer; mit dem vorpus juri8 würde er im Examen schon fertig werden.

Der arme Junge that mir herzlich leid, aber das einzige, was ich für
")u thun konnte, war, daß ich ihn dann und wann, wenn er Zeit übrig hatte,
"> ein Restaurant mitnahm, natürlich mit der Bitte, mein Gast zu sein. Mit


War wie ein gehetztes Wild. Ich traf ihn mir gelegentlich; und dann hatte
er kaum Zeit, mit mir bei Kortwig eine Weiße zu trinken.

Es gab wohl keinen ürmern Teufel unter den Studenten, als Leopold.
Trotzdem ging er bei der Verteilung von Stipendien immer leer aus, und er
merkte bald, daß doch noch andre Angelhaken notwendig seien, als das bloße
Armutszeugnis, um ein Stipendium einzufangen. Nur einen Freitisch für deu
Donnerstag hatte er erhalten, und nach diesen Donnerstagen teilte er den
Monat ein. Das Geld für die übrigen Mahlzeiten und für Wohnung und
Kleidung mußte er sich verdienen. Oft gab er in der Woche mehr als zwanzig
Privntstuuden, die Stunde für fünfzig Pfennig und vielleicht noch eine Tasse
Kaffee. Aber diesen Massennnterricht hatte er nur in den Wochen vor Ostern
und vor Michaelis, wenn die Eltern Angst bekamen, ihre Sprößlinge könnten
„sitzen bleiben." Während der übrigen Zeit mußte er auf andern Erwerb
Jagd machen. Er wohnte in einem Hintergebäude der Karlstraße vier Treppen
hoch, bei einer alten Witwe, Frau Künste. Die ganze Wohnung bestand aus
einer Kammer und der Küche. Leopold wohnte in der Kammer, und seine
Wirtin hatte die Küche dnrch einen Vorhang geteilt und dadurch einen Neben-
raum geschaffen, wo sie schlief. Ihr Manu, der auf dem Stettiner Bahnhof
Wagenschicbcr gewesen und eines Tages zwischen die Puffer geraten war,
hatte ihr nichts hinterlassen. Ihre Witweupension reichte kaum hin, die Kar¬
toffeln zu bezahlen, und so war sie aufs Vermieter angewiesen. Es war eine
erbärmliche Wohnung, aber für zwei Thaler den Monat konnte Leopold in
Berlin nichts besseres finden. Übrigens war sie groß genug für ihn, da er
keinen Kleiderschrank brauchte. Selbst bei der stärksten Kälte sah ich ihn immer
uur in einem kurze» schwarzen Röckchen, das zwar sauber gebürstet war, aber
doch an den Ellenbogen und an den Nähten wie Speck glänzte. Als ich ihn
bei einer unsrer flüchtigen Begegnungen darauf aufmerksam machte, daß er
sich erkälten würde, erwiderte er errötend, sein alter Winterüberzieher sei ihm
so eng und knapp geworden, daß es sogar deu Straßenjungen aufgefallen sei,
und sie ihm nachgerufen hätten: Anjnst, halt die Pelle fest, du jehst wohl
aufs Schloß zur Audienz? Er würde sich aber nächstens aus der Goldner
110 einen billigen Überzieher kaufen; die Kleider zum Examen bekäme er ja
glücklicherweise beim Juden geliehen. Vorläufig habe er sein einziges Besitz¬
tum, sein Lorxn8 juris, zum Antiquar tragen müssen, um Frau Künste die
Miete bezahle» zu können. Mit blutendem Herzen habe ers gethan, weil das
Buch doch ein Geschenk seines Vaters sei, aber er brauche es ihm ja nicht
zu schreiben. Und dann: so viel Latein, wie darin stünde, wüßte er noch
uumer; mit dem vorpus juri8 würde er im Examen schon fertig werden.

Der arme Junge that mir herzlich leid, aber das einzige, was ich für
")u thun konnte, war, daß ich ihn dann und wann, wenn er Zeit übrig hatte,
"> ein Restaurant mitnahm, natürlich mit der Bitte, mein Gast zu sein. Mit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0141" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214597"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_567" prev="#ID_566"> War wie ein gehetztes Wild. Ich traf ihn mir gelegentlich; und dann hatte<lb/>
er kaum Zeit, mit mir bei Kortwig eine Weiße zu trinken.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_568"> Es gab wohl keinen ürmern Teufel unter den Studenten, als Leopold.<lb/>
Trotzdem ging er bei der Verteilung von Stipendien immer leer aus, und er<lb/>
merkte bald, daß doch noch andre Angelhaken notwendig seien, als das bloße<lb/>
Armutszeugnis, um ein Stipendium einzufangen. Nur einen Freitisch für deu<lb/>
Donnerstag hatte er erhalten, und nach diesen Donnerstagen teilte er den<lb/>
Monat ein. Das Geld für die übrigen Mahlzeiten und für Wohnung und<lb/>
Kleidung mußte er sich verdienen. Oft gab er in der Woche mehr als zwanzig<lb/>
Privntstuuden, die Stunde für fünfzig Pfennig und vielleicht noch eine Tasse<lb/>
Kaffee. Aber diesen Massennnterricht hatte er nur in den Wochen vor Ostern<lb/>
und vor Michaelis, wenn die Eltern Angst bekamen, ihre Sprößlinge könnten<lb/>
&#x201E;sitzen bleiben." Während der übrigen Zeit mußte er auf andern Erwerb<lb/>
Jagd machen. Er wohnte in einem Hintergebäude der Karlstraße vier Treppen<lb/>
hoch, bei einer alten Witwe, Frau Künste. Die ganze Wohnung bestand aus<lb/>
einer Kammer und der Küche. Leopold wohnte in der Kammer, und seine<lb/>
Wirtin hatte die Küche dnrch einen Vorhang geteilt und dadurch einen Neben-<lb/>
raum geschaffen, wo sie schlief. Ihr Manu, der auf dem Stettiner Bahnhof<lb/>
Wagenschicbcr gewesen und eines Tages zwischen die Puffer geraten war,<lb/>
hatte ihr nichts hinterlassen. Ihre Witweupension reichte kaum hin, die Kar¬<lb/>
toffeln zu bezahlen, und so war sie aufs Vermieter angewiesen. Es war eine<lb/>
erbärmliche Wohnung, aber für zwei Thaler den Monat konnte Leopold in<lb/>
Berlin nichts besseres finden. Übrigens war sie groß genug für ihn, da er<lb/>
keinen Kleiderschrank brauchte. Selbst bei der stärksten Kälte sah ich ihn immer<lb/>
uur in einem kurze» schwarzen Röckchen, das zwar sauber gebürstet war, aber<lb/>
doch an den Ellenbogen und an den Nähten wie Speck glänzte. Als ich ihn<lb/>
bei einer unsrer flüchtigen Begegnungen darauf aufmerksam machte, daß er<lb/>
sich erkälten würde, erwiderte er errötend, sein alter Winterüberzieher sei ihm<lb/>
so eng und knapp geworden, daß es sogar deu Straßenjungen aufgefallen sei,<lb/>
und sie ihm nachgerufen hätten: Anjnst, halt die Pelle fest, du jehst wohl<lb/>
aufs Schloß zur Audienz? Er würde sich aber nächstens aus der Goldner<lb/>
110 einen billigen Überzieher kaufen; die Kleider zum Examen bekäme er ja<lb/>
glücklicherweise beim Juden geliehen. Vorläufig habe er sein einziges Besitz¬<lb/>
tum, sein Lorxn8 juris, zum Antiquar tragen müssen, um Frau Künste die<lb/>
Miete bezahle» zu können. Mit blutendem Herzen habe ers gethan, weil das<lb/>
Buch doch ein Geschenk seines Vaters sei, aber er brauche es ihm ja nicht<lb/>
zu schreiben. Und dann: so viel Latein, wie darin stünde, wüßte er noch<lb/>
uumer; mit dem vorpus juri8 würde er im Examen schon fertig werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_569" next="#ID_570"> Der arme Junge that mir herzlich leid, aber das einzige, was ich für<lb/>
")u thun konnte, war, daß ich ihn dann und wann, wenn er Zeit übrig hatte,<lb/>
"&gt; ein Restaurant mitnahm, natürlich mit der Bitte, mein Gast zu sein. Mit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0141] War wie ein gehetztes Wild. Ich traf ihn mir gelegentlich; und dann hatte er kaum Zeit, mit mir bei Kortwig eine Weiße zu trinken. Es gab wohl keinen ürmern Teufel unter den Studenten, als Leopold. Trotzdem ging er bei der Verteilung von Stipendien immer leer aus, und er merkte bald, daß doch noch andre Angelhaken notwendig seien, als das bloße Armutszeugnis, um ein Stipendium einzufangen. Nur einen Freitisch für deu Donnerstag hatte er erhalten, und nach diesen Donnerstagen teilte er den Monat ein. Das Geld für die übrigen Mahlzeiten und für Wohnung und Kleidung mußte er sich verdienen. Oft gab er in der Woche mehr als zwanzig Privntstuuden, die Stunde für fünfzig Pfennig und vielleicht noch eine Tasse Kaffee. Aber diesen Massennnterricht hatte er nur in den Wochen vor Ostern und vor Michaelis, wenn die Eltern Angst bekamen, ihre Sprößlinge könnten „sitzen bleiben." Während der übrigen Zeit mußte er auf andern Erwerb Jagd machen. Er wohnte in einem Hintergebäude der Karlstraße vier Treppen hoch, bei einer alten Witwe, Frau Künste. Die ganze Wohnung bestand aus einer Kammer und der Küche. Leopold wohnte in der Kammer, und seine Wirtin hatte die Küche dnrch einen Vorhang geteilt und dadurch einen Neben- raum geschaffen, wo sie schlief. Ihr Manu, der auf dem Stettiner Bahnhof Wagenschicbcr gewesen und eines Tages zwischen die Puffer geraten war, hatte ihr nichts hinterlassen. Ihre Witweupension reichte kaum hin, die Kar¬ toffeln zu bezahlen, und so war sie aufs Vermieter angewiesen. Es war eine erbärmliche Wohnung, aber für zwei Thaler den Monat konnte Leopold in Berlin nichts besseres finden. Übrigens war sie groß genug für ihn, da er keinen Kleiderschrank brauchte. Selbst bei der stärksten Kälte sah ich ihn immer uur in einem kurze» schwarzen Röckchen, das zwar sauber gebürstet war, aber doch an den Ellenbogen und an den Nähten wie Speck glänzte. Als ich ihn bei einer unsrer flüchtigen Begegnungen darauf aufmerksam machte, daß er sich erkälten würde, erwiderte er errötend, sein alter Winterüberzieher sei ihm so eng und knapp geworden, daß es sogar deu Straßenjungen aufgefallen sei, und sie ihm nachgerufen hätten: Anjnst, halt die Pelle fest, du jehst wohl aufs Schloß zur Audienz? Er würde sich aber nächstens aus der Goldner 110 einen billigen Überzieher kaufen; die Kleider zum Examen bekäme er ja glücklicherweise beim Juden geliehen. Vorläufig habe er sein einziges Besitz¬ tum, sein Lorxn8 juris, zum Antiquar tragen müssen, um Frau Künste die Miete bezahle» zu können. Mit blutendem Herzen habe ers gethan, weil das Buch doch ein Geschenk seines Vaters sei, aber er brauche es ihm ja nicht zu schreiben. Und dann: so viel Latein, wie darin stünde, wüßte er noch uumer; mit dem vorpus juri8 würde er im Examen schon fertig werden. Der arme Junge that mir herzlich leid, aber das einzige, was ich für ")u thun konnte, war, daß ich ihn dann und wann, wenn er Zeit übrig hatte, "> ein Restaurant mitnahm, natürlich mit der Bitte, mein Gast zu sein. Mit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/141
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/141>, abgerufen am 23.07.2024.