Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.Sitte und Denkart folgen wir dem Hvhenzvllernwahlsprnch: Jedem das Seine. Sitte und Denkart folgen wir dem Hvhenzvllernwahlsprnch: Jedem das Seine. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0130" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214586"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_506" prev="#ID_505"> Sitte und Denkart folgen wir dem Hvhenzvllernwahlsprnch: Jedem das Seine.<lb/> So gut den Deutschen der Waffenrock kleidet, so schlecht würden ihm unifor-<lb/> mirte Gedanken zu Gesicht stehn. Einer Kategvrisirung und Schablonisirnng<lb/> der Denkart, einer Tyrannisirung des Geschmacks würde aber Deutschland un¬<lb/> rettbar verfallen, wenn es Berlin als geistige Hauptstadt gelten lassen und<lb/> der Parole spreeathenischer Geistesführung folgen wollte. In der That sucht<lb/> sich Berlin ohne Berechtignngsnachweis die geistige Führung anzumaßen. Es<lb/> ist auch darin der kecke Stadtparvenü, der sein Heim reich und elegant ein¬<lb/> richtet, dem aber — die Bibliothek fehlt. Die größten deutschen Zeitungen<lb/> erscheinen nicht in Berlin, sondern in Köln, Magdeburg, Bremen, Hamburg,<lb/> Frankfurt, die illustrirte Presse hat ihre Hauptquartiere in Stuttgart und<lb/> Leipzig, der illustrirte Humor in München, und der Leipziger Buchhandel ist<lb/> noch lange nicht von dem Berliner überflügelt. Als Malerstadt ist München,<lb/> als Musikstadt Leipzig weit mehr als Berlin. Nur auf einem künstlerischen<lb/> Felde ist Berlin unübertroffen: es ist die führende Theaterstadt. Bühnen ver¬<lb/> mitteln die Darstellung der dramatischen Produktion zwar in mehr oder minder<lb/> gelungner Art, aber doch immer in anständigen Kunstformen, wenn auch<lb/> der Virtuose dabei oft mehr bedeutet als der Künstler. Es ist schwer zu<lb/> entscheiden, ob die große Zahl guter Bühnen oder der Umstand, daß sich diese<lb/> in der größte» Stadt des Reiches befinden, die Thatsache geschaffen haben,<lb/> daß ein Berliner Theatererfolg auch ein Erfolg für ganz Deutschland ist.<lb/> Genug, die Thatsache ist da. Jedenfalls stehen dem in Berlin beifällig anf-<lb/> genvmmneu Stück, selbst wenn ihm ein Teil der unter einander höchst uueiuigeu<lb/> spreeathenischen Kritik den Segen verweigert hat, die Bühnen der großen<lb/> deutscheu Städte offen. Ohne Prüfung, ob sich das Stück für die betreffende<lb/> Stadt, für die Gemütsart der betreffenden Landschaft eignet, wird es vorge¬<lb/> führt, denn es hat ja an der Spree die große Probe bestanden. Zuweilen<lb/> freilich ereignet es sich, daß sich der gesunde und unbefangne Sinn der<lb/> Provinzler gegen die ihm aufgedrängte Theaterherrlichkeit auflehnt; dann steht<lb/> man Roß und Reiter niemals wieder. Aber — wird mau sagen — warum<lb/> soll denn Berlin nicht den Ton angeben? Ist es als Residenz des Kaisers,<lb/> als volkreichste Stadt des Reichs nicht wirklich die Hauptstadt? Ist nicht<lb/> anch für Frankreich Paris maßgebend? Gewiß, aber in Dentschland liegt die<lb/> Sache doch anders. Es ist die Eigentümlichkeit der Romanen, uicht die der<lb/> Germanen, zu zentralisiren. Und selbst die Romanen, die erst spät den Ein¬<lb/> heitsstaat gewannen, wie die Italiener, zentralisiren nicht. Für Italien ist<lb/> Mailand in geistigen Dingen viel maßgebender als Rom, was in Turin ge¬<lb/> fällt, macht meist in Neapel Fiasko, der Florentiner würde des Sizilianers<lb/> Geschmack vielfach nicht begreifen. So ist es auch in Deutschland. Berlin<lb/> sollte seine Zentralisationsgclüste deshalb aufgeben, weil das Berliner Wesen<lb/> nicht typisch für das gesamte Deutschtum ist.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0130]
Sitte und Denkart folgen wir dem Hvhenzvllernwahlsprnch: Jedem das Seine.
So gut den Deutschen der Waffenrock kleidet, so schlecht würden ihm unifor-
mirte Gedanken zu Gesicht stehn. Einer Kategvrisirung und Schablonisirnng
der Denkart, einer Tyrannisirung des Geschmacks würde aber Deutschland un¬
rettbar verfallen, wenn es Berlin als geistige Hauptstadt gelten lassen und
der Parole spreeathenischer Geistesführung folgen wollte. In der That sucht
sich Berlin ohne Berechtignngsnachweis die geistige Führung anzumaßen. Es
ist auch darin der kecke Stadtparvenü, der sein Heim reich und elegant ein¬
richtet, dem aber — die Bibliothek fehlt. Die größten deutschen Zeitungen
erscheinen nicht in Berlin, sondern in Köln, Magdeburg, Bremen, Hamburg,
Frankfurt, die illustrirte Presse hat ihre Hauptquartiere in Stuttgart und
Leipzig, der illustrirte Humor in München, und der Leipziger Buchhandel ist
noch lange nicht von dem Berliner überflügelt. Als Malerstadt ist München,
als Musikstadt Leipzig weit mehr als Berlin. Nur auf einem künstlerischen
Felde ist Berlin unübertroffen: es ist die führende Theaterstadt. Bühnen ver¬
mitteln die Darstellung der dramatischen Produktion zwar in mehr oder minder
gelungner Art, aber doch immer in anständigen Kunstformen, wenn auch
der Virtuose dabei oft mehr bedeutet als der Künstler. Es ist schwer zu
entscheiden, ob die große Zahl guter Bühnen oder der Umstand, daß sich diese
in der größte» Stadt des Reiches befinden, die Thatsache geschaffen haben,
daß ein Berliner Theatererfolg auch ein Erfolg für ganz Deutschland ist.
Genug, die Thatsache ist da. Jedenfalls stehen dem in Berlin beifällig anf-
genvmmneu Stück, selbst wenn ihm ein Teil der unter einander höchst uueiuigeu
spreeathenischen Kritik den Segen verweigert hat, die Bühnen der großen
deutscheu Städte offen. Ohne Prüfung, ob sich das Stück für die betreffende
Stadt, für die Gemütsart der betreffenden Landschaft eignet, wird es vorge¬
führt, denn es hat ja an der Spree die große Probe bestanden. Zuweilen
freilich ereignet es sich, daß sich der gesunde und unbefangne Sinn der
Provinzler gegen die ihm aufgedrängte Theaterherrlichkeit auflehnt; dann steht
man Roß und Reiter niemals wieder. Aber — wird mau sagen — warum
soll denn Berlin nicht den Ton angeben? Ist es als Residenz des Kaisers,
als volkreichste Stadt des Reichs nicht wirklich die Hauptstadt? Ist nicht
anch für Frankreich Paris maßgebend? Gewiß, aber in Dentschland liegt die
Sache doch anders. Es ist die Eigentümlichkeit der Romanen, uicht die der
Germanen, zu zentralisiren. Und selbst die Romanen, die erst spät den Ein¬
heitsstaat gewannen, wie die Italiener, zentralisiren nicht. Für Italien ist
Mailand in geistigen Dingen viel maßgebender als Rom, was in Turin ge¬
fällt, macht meist in Neapel Fiasko, der Florentiner würde des Sizilianers
Geschmack vielfach nicht begreifen. So ist es auch in Deutschland. Berlin
sollte seine Zentralisationsgclüste deshalb aufgeben, weil das Berliner Wesen
nicht typisch für das gesamte Deutschtum ist.
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