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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Soldatennot

Wie die Blätter mitteilten, weil ihn eine unbezwingliche Sehnsucht noch der
Heimat ergriffen hatte. Natürlich kann ja nun nicht jeder Soldat nach Hause
geschickt werdeu, der Heimweh bekommt. Dn würden besonders unmittelbar
nach Einstellung der Rekruten die Kasernen bald leer sein. Aber Heimweh
kann eine wirtlich schwere Gemütskrankheit werden. 1870 haben viele Soldaten
daran gelitten, die sonst durchaus -- auch vor dem Feinde -- ihre Pflicht
gethan hatten, sie waren völlig unbrauchbar zum Dienst geworden; es wäre
am besten gewesen, sie nach der Heimat zu beurlauben, was natürlich aus
naheliegende" Gründen nicht möglich war. Es waren schwer kranke Leute.
Solches Heimweh kommt aber auch im Frieden vor; es wird in vielen Fallen
dadurch rege, daß sich die Soldaten sagen: Du kommst jetzt drei Jahre lang
nicht wieder nach Hause! Ja, bekommt denn' der Mann nicht Urlaub, um
einmal nach Hause reisen zu können? O ja, er kann wohl Urlaub bekommen,
aber der nützt dem armen Soldaten nichts. Die Heimat sieht er während
seiner Dienstzeit nicht wieder, die Entfernung ist zu groß, für den armen
Soldaten viel zu groß auch in unsrer Zeit, für die doch eigentlich Entfernungen
ein überwundner Standpunkt sind. Mülhausen im Elsaß, eine Garnison, die
besonders viel oberschlesischen Ersatz hat, ist in der Luftlinie von der Mitte
Oberschlesiens etwa achthundert Kilometer entfernt; die kürzeste fahrbare Straße
ist über tausend Kilometer lang, und der Eisenbahnweg, der über Frankfurt
am Main--Leipzig--Breslau zu nehmen ist, ist noch viel länger; dem armen
Soldaten ist er so gut wie verschlossen. Zwar ist der Fahrpreis für den
Soldaten gering bemessen, aber wenn die Entfernung so bedeutend ist, doch
immer noch viel zu hoch. Beträgt auch der Preis für eine Militärfahrkartc
von Mülhausen im Elsaß nach Oppeln vielleicht nur etwa 20 Mark, so ist das
doch für eine Urlaubsreise des Soldaten viel zu viel; er kann solchen Aufwand
für eine Fahrt nach der Heimat, besonders da derselbe Betrag nochmals für die
Rückreise nach der Garnison zu zahlen ist, mir in den seltensten Füllen machen;
denn er muß ja etwa sechs Tage Hin- und Rückreise gerechnet) unterwegs sein,
da ihn nur die Personenzüge mitnehmen. Es ist traurig, daß noch keine Veran¬
staltung getroffen worden ist, den Soldaten, die in so fernen Garnisonen ihrer
Dienstpflicht genügen müssen, die Möglichkeit zu geben, wenigstens einmal als
Soldat die Heimat wiederzusehen. Vom militärischen Standpunkte liegt doch
kein Bedenken dagegen vor. Im zweiten Dienstjahre können sehr wohl im
Winter vierzehn Tage bis drei Wochen Urlaub gewährt werden. Und wie
wichtig ist es, daß sich der Soldat einmal in Uniform i" der Heimat sehen
läßt! Es ist der größte Stolz des Landmanns, wenn er Sonntags mit seinem
Jungen "in der Jacke" zur Kirche gehen kann. Der Junge geht im Helm
einher, ist er Gardist oder Grenadier, natürlich mit dem Haarschweif drauf.
Selbstverständlich dürfte ein Urlaub von vierzehn Tagen bis drei Wochen nur
dann erteilt werden, wenn er den Eltern des Soldaten erwünscht ist und ihre


Soldatennot

Wie die Blätter mitteilten, weil ihn eine unbezwingliche Sehnsucht noch der
Heimat ergriffen hatte. Natürlich kann ja nun nicht jeder Soldat nach Hause
geschickt werdeu, der Heimweh bekommt. Dn würden besonders unmittelbar
nach Einstellung der Rekruten die Kasernen bald leer sein. Aber Heimweh
kann eine wirtlich schwere Gemütskrankheit werden. 1870 haben viele Soldaten
daran gelitten, die sonst durchaus — auch vor dem Feinde — ihre Pflicht
gethan hatten, sie waren völlig unbrauchbar zum Dienst geworden; es wäre
am besten gewesen, sie nach der Heimat zu beurlauben, was natürlich aus
naheliegende» Gründen nicht möglich war. Es waren schwer kranke Leute.
Solches Heimweh kommt aber auch im Frieden vor; es wird in vielen Fallen
dadurch rege, daß sich die Soldaten sagen: Du kommst jetzt drei Jahre lang
nicht wieder nach Hause! Ja, bekommt denn' der Mann nicht Urlaub, um
einmal nach Hause reisen zu können? O ja, er kann wohl Urlaub bekommen,
aber der nützt dem armen Soldaten nichts. Die Heimat sieht er während
seiner Dienstzeit nicht wieder, die Entfernung ist zu groß, für den armen
Soldaten viel zu groß auch in unsrer Zeit, für die doch eigentlich Entfernungen
ein überwundner Standpunkt sind. Mülhausen im Elsaß, eine Garnison, die
besonders viel oberschlesischen Ersatz hat, ist in der Luftlinie von der Mitte
Oberschlesiens etwa achthundert Kilometer entfernt; die kürzeste fahrbare Straße
ist über tausend Kilometer lang, und der Eisenbahnweg, der über Frankfurt
am Main—Leipzig—Breslau zu nehmen ist, ist noch viel länger; dem armen
Soldaten ist er so gut wie verschlossen. Zwar ist der Fahrpreis für den
Soldaten gering bemessen, aber wenn die Entfernung so bedeutend ist, doch
immer noch viel zu hoch. Beträgt auch der Preis für eine Militärfahrkartc
von Mülhausen im Elsaß nach Oppeln vielleicht nur etwa 20 Mark, so ist das
doch für eine Urlaubsreise des Soldaten viel zu viel; er kann solchen Aufwand
für eine Fahrt nach der Heimat, besonders da derselbe Betrag nochmals für die
Rückreise nach der Garnison zu zahlen ist, mir in den seltensten Füllen machen;
denn er muß ja etwa sechs Tage Hin- und Rückreise gerechnet) unterwegs sein,
da ihn nur die Personenzüge mitnehmen. Es ist traurig, daß noch keine Veran¬
staltung getroffen worden ist, den Soldaten, die in so fernen Garnisonen ihrer
Dienstpflicht genügen müssen, die Möglichkeit zu geben, wenigstens einmal als
Soldat die Heimat wiederzusehen. Vom militärischen Standpunkte liegt doch
kein Bedenken dagegen vor. Im zweiten Dienstjahre können sehr wohl im
Winter vierzehn Tage bis drei Wochen Urlaub gewährt werden. Und wie
wichtig ist es, daß sich der Soldat einmal in Uniform i» der Heimat sehen
läßt! Es ist der größte Stolz des Landmanns, wenn er Sonntags mit seinem
Jungen „in der Jacke" zur Kirche gehen kann. Der Junge geht im Helm
einher, ist er Gardist oder Grenadier, natürlich mit dem Haarschweif drauf.
Selbstverständlich dürfte ein Urlaub von vierzehn Tagen bis drei Wochen nur
dann erteilt werden, wenn er den Eltern des Soldaten erwünscht ist und ihre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/12>, abgerufen am 23.07.2024.