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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Die Aussichten der Militärvorlage

das fast einzig dastehende Beispiel einer von den Feinden wie von den
Freunden der Vorlage einmütig betriebnen Verschleppungstaktik boten, immer¬
hin ein positives Ergebnis gehabt: sie haben die technische Durchführbarkeit der
Vorlage so gut wie außer Zweifel gestellt, sodaß die Frage, entkleidet von
allem untergeordneten Beiwerk, in ihrem Lapidarstil wieder lauten kann: Soll
die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres und wie weit soll sie erhöht
werden? Kann und will das deutsche Volk die damit verbundnen Lasten tragen?

Freilich diese Fragen an Eugen Richter und seine nächsten Getreuen oder
gar an die Sozialdemokraten zu stellen, hieße wohl beide beleidigen. Auf
ihr "unentwegtes," männerstolzes Nein! das von der Reichsverfassung an
nun schon unter so vielen für Deutschland notwendigen und segensreichen Ge¬
setzen prangt, kann man sich sicher verlassen. Merkwürdig und -- wenn die
Frage nicht so ernst wäre -- belustigend ist nur, daß alle Welt hinter dem
mindestens ebenso kräftig und pathetisch ausgesprochnen Nein! des Dr. Lieber
und der Zeutrumsoffiziöseu doch immer wieder ein schüchternes Ja, --!
herauszuhören glaubt. Vergegenwärtigt man sich, daß das Zentrum mit seinem
Anhang von Polen und Welsen über mindestens 140 von den 397 Stimmen des
Reichstags verfügt, denen die ehemaligen Kartellparteien zusammen nur etwa 130
gegenüberzustellen haben, während die freisinnige Partei rund 70 Stimmen zählt,
so muß man, wenn man gerecht sein will, eins zugestehn: es ist für den
Grafen Caprivi eine starke Versuchung, die Militärvvrlage, von deren ge¬
bieterischer Notwendigkeit für Deutschland er im Innersten überzeugt ist, aus
der Hand des Zentrums anzunehmen. Und wenn das Zentrum einmal be¬
willigt, dann wird es auch nicht knauserig sein. Für die etwa abzukvmman-
direnden Zentrumsdemvkrateu würden die Konservativen gern auf die Schanzen
treten. Ganz nüchtern betrachtet, würde Graf Caprivi ohne Frage ein
glänzendes Geschäft machen, wenn er dies günstige Ergebnis durch Preis¬
gebung des Jesuitengesetzes erreichen könnte. Die Grenzboten haben sich
über den Wert dieses Gesetzes schon vor Jahren, ehe noch ein die Möglichkeit
zu denken war, es als einen Handelsgegenstand zu verwerten, sehr kühl aus¬
gesprochen. Der Befugnis, einen Deutschen bloß deshalb, weil er der "Ge¬
sellschaft Jesu" angehört, kraft des Gesetzes aus bestimmten Bezirken auszu¬
weisen oder auf einen bestimmten Bezirk zu beschränken, wird immer das Odium
der Gesinnungsverfolgung und des Gewissenszwanges ankleben. Wir ver¬
denken es unsern katholischen Mitbürgern nicht, daß sie die Beseitigung dieses
Vannrechts fordern, nachdem dasselbe Unrecht gegenüber der Sozialdemokratie
jetzt gesühnt worden ist. Das Recht, jesuitische oder nichtjesuitische Ausländer
aus dem Landesgebiete zu weisen, wenn sie lästig fallen, das Recht, Ordens¬
niederlassungen zu verhindern und ihnen Korporationsrechte zu verweigern,
bleibt den einzelnen Bundesstaaten ohnedies als unbestrittnes, auf dem Ver¬
waltungswege auszuübendes Hoheitsrecht. Das Reich hat keinen Grund und


Die Aussichten der Militärvorlage

das fast einzig dastehende Beispiel einer von den Feinden wie von den
Freunden der Vorlage einmütig betriebnen Verschleppungstaktik boten, immer¬
hin ein positives Ergebnis gehabt: sie haben die technische Durchführbarkeit der
Vorlage so gut wie außer Zweifel gestellt, sodaß die Frage, entkleidet von
allem untergeordneten Beiwerk, in ihrem Lapidarstil wieder lauten kann: Soll
die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres und wie weit soll sie erhöht
werden? Kann und will das deutsche Volk die damit verbundnen Lasten tragen?

Freilich diese Fragen an Eugen Richter und seine nächsten Getreuen oder
gar an die Sozialdemokraten zu stellen, hieße wohl beide beleidigen. Auf
ihr „unentwegtes," männerstolzes Nein! das von der Reichsverfassung an
nun schon unter so vielen für Deutschland notwendigen und segensreichen Ge¬
setzen prangt, kann man sich sicher verlassen. Merkwürdig und — wenn die
Frage nicht so ernst wäre — belustigend ist nur, daß alle Welt hinter dem
mindestens ebenso kräftig und pathetisch ausgesprochnen Nein! des Dr. Lieber
und der Zeutrumsoffiziöseu doch immer wieder ein schüchternes Ja, —!
herauszuhören glaubt. Vergegenwärtigt man sich, daß das Zentrum mit seinem
Anhang von Polen und Welsen über mindestens 140 von den 397 Stimmen des
Reichstags verfügt, denen die ehemaligen Kartellparteien zusammen nur etwa 130
gegenüberzustellen haben, während die freisinnige Partei rund 70 Stimmen zählt,
so muß man, wenn man gerecht sein will, eins zugestehn: es ist für den
Grafen Caprivi eine starke Versuchung, die Militärvvrlage, von deren ge¬
bieterischer Notwendigkeit für Deutschland er im Innersten überzeugt ist, aus
der Hand des Zentrums anzunehmen. Und wenn das Zentrum einmal be¬
willigt, dann wird es auch nicht knauserig sein. Für die etwa abzukvmman-
direnden Zentrumsdemvkrateu würden die Konservativen gern auf die Schanzen
treten. Ganz nüchtern betrachtet, würde Graf Caprivi ohne Frage ein
glänzendes Geschäft machen, wenn er dies günstige Ergebnis durch Preis¬
gebung des Jesuitengesetzes erreichen könnte. Die Grenzboten haben sich
über den Wert dieses Gesetzes schon vor Jahren, ehe noch ein die Möglichkeit
zu denken war, es als einen Handelsgegenstand zu verwerten, sehr kühl aus¬
gesprochen. Der Befugnis, einen Deutschen bloß deshalb, weil er der „Ge¬
sellschaft Jesu" angehört, kraft des Gesetzes aus bestimmten Bezirken auszu¬
weisen oder auf einen bestimmten Bezirk zu beschränken, wird immer das Odium
der Gesinnungsverfolgung und des Gewissenszwanges ankleben. Wir ver¬
denken es unsern katholischen Mitbürgern nicht, daß sie die Beseitigung dieses
Vannrechts fordern, nachdem dasselbe Unrecht gegenüber der Sozialdemokratie
jetzt gesühnt worden ist. Das Recht, jesuitische oder nichtjesuitische Ausländer
aus dem Landesgebiete zu weisen, wenn sie lästig fallen, das Recht, Ordens¬
niederlassungen zu verhindern und ihnen Korporationsrechte zu verweigern,
bleibt den einzelnen Bundesstaaten ohnedies als unbestrittnes, auf dem Ver¬
waltungswege auszuübendes Hoheitsrecht. Das Reich hat keinen Grund und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/564>, abgerufen am 01.09.2024.