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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Konservative Mobilmachung

die Regierung gerichteten Angriffe erklärt sich zum Teil auch aus deren Stellung¬
nahme in der Judenfrage. Bei der Linken siud wir ja die erbitterte Art der
Führung eines Kampfes, wie er jetzt wieder in der Militcirfrngc ausgesuchten
wird, gewohnt; aber billig muß mau fragen, was die konservative Partei ver¬
anlaßt hat, der Regierung gegenüber diese Kampfweisc einzunehmen und eine
der schärfsten Frontstellungen einzunehmen in dem Augenblick, wo ihr die
Frage der Heeresreform das Gebot auferlegt, alle ihre Kräfte anzuspannen,
um ihrerseits dazu beizutragen, daß das Ansehen der Regierung ebenso wie
deren Forderung keinen Schaden erleidet. Denn daß die konservative Partei
trotz einzelner abweichende" Ansichten bezüglich, der zweijährigen Dienstzeit und
trotz einzelner überflüssigerweise vorgebrachten Drohungen, in dieser Frage
Vergeltung für die der Landwirtschaft zugefügten Nachteile üben zu wollen,
für die Heeresreform einsteht, versteht sich von selbst.

Graf Caprivi hat die Frage aufgeworfen, was hinter diesem Frontangriff
zu suchen sei. Denn die Frage des mit Rußland abzuschließenden Handels¬
vertrags ist es nicht allein, um deretwillen die Konservativen mobil gemacht
haben. Er nahm an, daß es auf seinen Sturz abgesehen sei. Darüber kauu
sich nun wohl der Reichskanzler beruhigen. Freilich wird sich ein ähnlicher
Eindruck auch in weitern Kreisen verbreiten, wo man parlamentarische Erschei¬
nungen uur von dem Gesichtspunkt ans zu beurteilen gewöhnt ist, ob sich
dahinter die Absicht eines Ministersturzes verberge oder nicht. Aber eine solche
Absicht hätte dem konservativen Angriff sicherlich keine solche Kraft zugeführt.
Der Grund liegt tiefer.

Die konservative Partei -- oder nennen wir sie mit dem Reichskanzler
"Agrarier," weil augenblicklich landwirtschaftliche Interessen bei ihrem Ver¬
halten die Hauptrolle spielen --, also die "Agrarier" sehen ihre wirtschaftliche
wie politische Macht schwinden und machen nun alle ihre Kräfte mobil, um
in der Regierung und im Parlament den Einfluß wiederzugewinnen, den sie
thatsächlich in der Gesetzgebung seit dem Bestehen des deutschen Reichs nicht
mehr gehabt haben, der ihnen aber bei der thatsächlichen Bedeutung der Land¬
wirtschaft im Volks- und Staatsleben zukommt. Auch unter dem Fürsten
Bismarck haben sie ihn nicht gehabt. In dem Aufrufe zur Begründung eines
Bundes der Landwirte, der am 1. Februar in der Kreuzzeitung veröffentlicht
wurde, sind die Beschwerden, die der Landwirtschaft auf dem .Herzen liegen, auf
gezählt: die Zollhcrabsetzung für Getreide von 5 auf 3'/z Mark, das Aufhören der
Znckerexportprämien, das Fehlen eines Wollzolles, das Branntweiustcucrgesetz,
die Erhöhung des Spirituszolls in Spanien, die Kosten der sozialen Gesetz¬
gebung, ungenügende Transportmittel (Eisenbahnen) für die Versendung ihrer
Produkte im Osten, die Maul- und Klauenseuche, die Steuergesetzgebung. Nur
die beiden erstgenannten Klagen können sich auf die gegenwärtige Regierung
beziehen, alles andre ^ mit Ausnahme der Maul- und Klauenseuche -- fällt.


Konservative Mobilmachung

die Regierung gerichteten Angriffe erklärt sich zum Teil auch aus deren Stellung¬
nahme in der Judenfrage. Bei der Linken siud wir ja die erbitterte Art der
Führung eines Kampfes, wie er jetzt wieder in der Militcirfrngc ausgesuchten
wird, gewohnt; aber billig muß mau fragen, was die konservative Partei ver¬
anlaßt hat, der Regierung gegenüber diese Kampfweisc einzunehmen und eine
der schärfsten Frontstellungen einzunehmen in dem Augenblick, wo ihr die
Frage der Heeresreform das Gebot auferlegt, alle ihre Kräfte anzuspannen,
um ihrerseits dazu beizutragen, daß das Ansehen der Regierung ebenso wie
deren Forderung keinen Schaden erleidet. Denn daß die konservative Partei
trotz einzelner abweichende« Ansichten bezüglich, der zweijährigen Dienstzeit und
trotz einzelner überflüssigerweise vorgebrachten Drohungen, in dieser Frage
Vergeltung für die der Landwirtschaft zugefügten Nachteile üben zu wollen,
für die Heeresreform einsteht, versteht sich von selbst.

Graf Caprivi hat die Frage aufgeworfen, was hinter diesem Frontangriff
zu suchen sei. Denn die Frage des mit Rußland abzuschließenden Handels¬
vertrags ist es nicht allein, um deretwillen die Konservativen mobil gemacht
haben. Er nahm an, daß es auf seinen Sturz abgesehen sei. Darüber kauu
sich nun wohl der Reichskanzler beruhigen. Freilich wird sich ein ähnlicher
Eindruck auch in weitern Kreisen verbreiten, wo man parlamentarische Erschei¬
nungen uur von dem Gesichtspunkt ans zu beurteilen gewöhnt ist, ob sich
dahinter die Absicht eines Ministersturzes verberge oder nicht. Aber eine solche
Absicht hätte dem konservativen Angriff sicherlich keine solche Kraft zugeführt.
Der Grund liegt tiefer.

Die konservative Partei — oder nennen wir sie mit dem Reichskanzler
„Agrarier," weil augenblicklich landwirtschaftliche Interessen bei ihrem Ver¬
halten die Hauptrolle spielen —, also die „Agrarier" sehen ihre wirtschaftliche
wie politische Macht schwinden und machen nun alle ihre Kräfte mobil, um
in der Regierung und im Parlament den Einfluß wiederzugewinnen, den sie
thatsächlich in der Gesetzgebung seit dem Bestehen des deutschen Reichs nicht
mehr gehabt haben, der ihnen aber bei der thatsächlichen Bedeutung der Land¬
wirtschaft im Volks- und Staatsleben zukommt. Auch unter dem Fürsten
Bismarck haben sie ihn nicht gehabt. In dem Aufrufe zur Begründung eines
Bundes der Landwirte, der am 1. Februar in der Kreuzzeitung veröffentlicht
wurde, sind die Beschwerden, die der Landwirtschaft auf dem .Herzen liegen, auf
gezählt: die Zollhcrabsetzung für Getreide von 5 auf 3'/z Mark, das Aufhören der
Znckerexportprämien, das Fehlen eines Wollzolles, das Branntweiustcucrgesetz,
die Erhöhung des Spirituszolls in Spanien, die Kosten der sozialen Gesetz¬
gebung, ungenügende Transportmittel (Eisenbahnen) für die Versendung ihrer
Produkte im Osten, die Maul- und Klauenseuche, die Steuergesetzgebung. Nur
die beiden erstgenannten Klagen können sich auf die gegenwärtige Regierung
beziehen, alles andre ^ mit Ausnahme der Maul- und Klauenseuche — fällt.


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[0456] Konservative Mobilmachung die Regierung gerichteten Angriffe erklärt sich zum Teil auch aus deren Stellung¬ nahme in der Judenfrage. Bei der Linken siud wir ja die erbitterte Art der Führung eines Kampfes, wie er jetzt wieder in der Militcirfrngc ausgesuchten wird, gewohnt; aber billig muß mau fragen, was die konservative Partei ver¬ anlaßt hat, der Regierung gegenüber diese Kampfweisc einzunehmen und eine der schärfsten Frontstellungen einzunehmen in dem Augenblick, wo ihr die Frage der Heeresreform das Gebot auferlegt, alle ihre Kräfte anzuspannen, um ihrerseits dazu beizutragen, daß das Ansehen der Regierung ebenso wie deren Forderung keinen Schaden erleidet. Denn daß die konservative Partei trotz einzelner abweichende« Ansichten bezüglich, der zweijährigen Dienstzeit und trotz einzelner überflüssigerweise vorgebrachten Drohungen, in dieser Frage Vergeltung für die der Landwirtschaft zugefügten Nachteile üben zu wollen, für die Heeresreform einsteht, versteht sich von selbst. Graf Caprivi hat die Frage aufgeworfen, was hinter diesem Frontangriff zu suchen sei. Denn die Frage des mit Rußland abzuschließenden Handels¬ vertrags ist es nicht allein, um deretwillen die Konservativen mobil gemacht haben. Er nahm an, daß es auf seinen Sturz abgesehen sei. Darüber kauu sich nun wohl der Reichskanzler beruhigen. Freilich wird sich ein ähnlicher Eindruck auch in weitern Kreisen verbreiten, wo man parlamentarische Erschei¬ nungen uur von dem Gesichtspunkt ans zu beurteilen gewöhnt ist, ob sich dahinter die Absicht eines Ministersturzes verberge oder nicht. Aber eine solche Absicht hätte dem konservativen Angriff sicherlich keine solche Kraft zugeführt. Der Grund liegt tiefer. Die konservative Partei — oder nennen wir sie mit dem Reichskanzler „Agrarier," weil augenblicklich landwirtschaftliche Interessen bei ihrem Ver¬ halten die Hauptrolle spielen —, also die „Agrarier" sehen ihre wirtschaftliche wie politische Macht schwinden und machen nun alle ihre Kräfte mobil, um in der Regierung und im Parlament den Einfluß wiederzugewinnen, den sie thatsächlich in der Gesetzgebung seit dem Bestehen des deutschen Reichs nicht mehr gehabt haben, der ihnen aber bei der thatsächlichen Bedeutung der Land¬ wirtschaft im Volks- und Staatsleben zukommt. Auch unter dem Fürsten Bismarck haben sie ihn nicht gehabt. In dem Aufrufe zur Begründung eines Bundes der Landwirte, der am 1. Februar in der Kreuzzeitung veröffentlicht wurde, sind die Beschwerden, die der Landwirtschaft auf dem .Herzen liegen, auf gezählt: die Zollhcrabsetzung für Getreide von 5 auf 3'/z Mark, das Aufhören der Znckerexportprämien, das Fehlen eines Wollzolles, das Branntweiustcucrgesetz, die Erhöhung des Spirituszolls in Spanien, die Kosten der sozialen Gesetz¬ gebung, ungenügende Transportmittel (Eisenbahnen) für die Versendung ihrer Produkte im Osten, die Maul- und Klauenseuche, die Steuergesetzgebung. Nur die beiden erstgenannten Klagen können sich auf die gegenwärtige Regierung beziehen, alles andre ^ mit Ausnahme der Maul- und Klauenseuche — fällt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/456>, abgerufen am 28.11.2024.