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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Reformation in schweren geistigen Kämpfen errungen hat, seine geistige Spann¬
kraft bewahrt hat, und daß, wenn überhaupt eine Rettung aus den Sorgen
und Nöten der Gegenwart möglich ist, das deutsche Volk der Welt die Wege
weisen wird. So ernst und gewitterschwül die Gegenwart auch ist, wir glauben
an diese Rettung, und wir hoffen mit dem Dichter, daß "am deutschen Wesen
endlich mög die Welt genesen," und in dieser Hoffnung werden wir auch durch
jenen echt deutschen Redekampf bestärkt, der in Berlin getobt hat. Aber andrer¬
seits bitten wir doch die, die sich zu den Politikern der staatserhaltenden Par¬
teien zählen, den unmittelbaren praktischen Wert dieses Redekampfes nicht zu
überschätzen. Gewiß, die Sozialdemokratie hat manche bittere Wahrheit zu
hören bekommen, aber zerschmettert ist sie nicht. Das, was im Reichstage
gegen sie gesagt worden ist, ist schon unzählige male gesagt worden von
Männern der Wissenschaft und des praktischen Lebens, und dennoch sind in
jedem Jahre neue Massen zu ihr übergegangen, und wir fürchten, daß, wenn
demnächst wegen der Militärvvrlage der Reichstag aufgelöst und eine Neuwahl
vorgenommen werden sollte, eine weitere starke Zunahme der sozinldemokra-
tischen Wähler die Richtigkeit unsrer Ansicht beweisen würde. Immer wieder
muß es gesagt werden, denn immer wieder wird es vergessen: die Stärke der
Sozialdemokratie liegt nicht in ihrem positiven Programm für eine zukünftige
Gesellschaftsordnung, uicht in jener sogenannten, ein Sonderdasein führenden
"Wissenschaft," die demokratische, republikanische und grob materialistische Ge¬
danken in wunderlicher Weise auf die größte wissenschaftliche Errungenschaft
der Neuzeit, auf den Gedanken des Sozialismus, gepfropft hat, und die, ohne
zu erkennen, daß der Sozialismus nur praktisch, auf aristokratischer, mon¬
archischer und idealistischer, religiös-sittlicher Grundlage durchführbar ist, jene
Fratze des Sozialismus geschaffen hat, der Herr Richter den Spiegel vor¬
gehalten hat. Die Stärke der Sozialdemokratie liegt vielmehr in ihrer Kritik
der bestehenden Ordnung, in den unleugbaren Schwächen und Mängeln dieser
Ordnung, auf die sie hinweist. So lange diese Mängel bestehen, wird auch
eine Partei bestehen bleiben, die sich zum Organ aller Unzufriedenheit ge¬
macht hat; in demselben Grade, wie diese Mängel zunehmen, wird auch diese
Partei zunehmen. Eine .Kritik der positiven Bestrebungen dieser Partei ver¬
mag wohl auf die positiven Gedanken der Partei einzuwirken, aber die Existenz
der Partei berührt eine solche Kritik nicht.

Es ist der verhängnisvolle Fehler der bürgerlichen Parteien, daß sie die
Grundlage der sozialdemokratischen Macht verkennen, daß sie die Bedeutung
des sozialdemokratischen Programms für diese Macht überschätzen, die Bedeu¬
tung der Sozialdemokratie als Anzeichen unterschützen. Deshalb fürchten wir
in der That -- so seltsam das auch klingen mag --, daß diese Reichstags-
verhandluugen gerade deshalb von Nachteil sein werden, weil in ihnen die
Sozialdemokratie so entschieden unterlegen ist. Wir fürchten, daß dadurch


Reformation in schweren geistigen Kämpfen errungen hat, seine geistige Spann¬
kraft bewahrt hat, und daß, wenn überhaupt eine Rettung aus den Sorgen
und Nöten der Gegenwart möglich ist, das deutsche Volk der Welt die Wege
weisen wird. So ernst und gewitterschwül die Gegenwart auch ist, wir glauben
an diese Rettung, und wir hoffen mit dem Dichter, daß „am deutschen Wesen
endlich mög die Welt genesen," und in dieser Hoffnung werden wir auch durch
jenen echt deutschen Redekampf bestärkt, der in Berlin getobt hat. Aber andrer¬
seits bitten wir doch die, die sich zu den Politikern der staatserhaltenden Par¬
teien zählen, den unmittelbaren praktischen Wert dieses Redekampfes nicht zu
überschätzen. Gewiß, die Sozialdemokratie hat manche bittere Wahrheit zu
hören bekommen, aber zerschmettert ist sie nicht. Das, was im Reichstage
gegen sie gesagt worden ist, ist schon unzählige male gesagt worden von
Männern der Wissenschaft und des praktischen Lebens, und dennoch sind in
jedem Jahre neue Massen zu ihr übergegangen, und wir fürchten, daß, wenn
demnächst wegen der Militärvvrlage der Reichstag aufgelöst und eine Neuwahl
vorgenommen werden sollte, eine weitere starke Zunahme der sozinldemokra-
tischen Wähler die Richtigkeit unsrer Ansicht beweisen würde. Immer wieder
muß es gesagt werden, denn immer wieder wird es vergessen: die Stärke der
Sozialdemokratie liegt nicht in ihrem positiven Programm für eine zukünftige
Gesellschaftsordnung, uicht in jener sogenannten, ein Sonderdasein führenden
„Wissenschaft," die demokratische, republikanische und grob materialistische Ge¬
danken in wunderlicher Weise auf die größte wissenschaftliche Errungenschaft
der Neuzeit, auf den Gedanken des Sozialismus, gepfropft hat, und die, ohne
zu erkennen, daß der Sozialismus nur praktisch, auf aristokratischer, mon¬
archischer und idealistischer, religiös-sittlicher Grundlage durchführbar ist, jene
Fratze des Sozialismus geschaffen hat, der Herr Richter den Spiegel vor¬
gehalten hat. Die Stärke der Sozialdemokratie liegt vielmehr in ihrer Kritik
der bestehenden Ordnung, in den unleugbaren Schwächen und Mängeln dieser
Ordnung, auf die sie hinweist. So lange diese Mängel bestehen, wird auch
eine Partei bestehen bleiben, die sich zum Organ aller Unzufriedenheit ge¬
macht hat; in demselben Grade, wie diese Mängel zunehmen, wird auch diese
Partei zunehmen. Eine .Kritik der positiven Bestrebungen dieser Partei ver¬
mag wohl auf die positiven Gedanken der Partei einzuwirken, aber die Existenz
der Partei berührt eine solche Kritik nicht.

Es ist der verhängnisvolle Fehler der bürgerlichen Parteien, daß sie die
Grundlage der sozialdemokratischen Macht verkennen, daß sie die Bedeutung
des sozialdemokratischen Programms für diese Macht überschätzen, die Bedeu¬
tung der Sozialdemokratie als Anzeichen unterschützen. Deshalb fürchten wir
in der That — so seltsam das auch klingen mag —, daß diese Reichstags-
verhandluugen gerade deshalb von Nachteil sein werden, weil in ihnen die
Sozialdemokratie so entschieden unterlegen ist. Wir fürchten, daß dadurch


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[0405] Reformation in schweren geistigen Kämpfen errungen hat, seine geistige Spann¬ kraft bewahrt hat, und daß, wenn überhaupt eine Rettung aus den Sorgen und Nöten der Gegenwart möglich ist, das deutsche Volk der Welt die Wege weisen wird. So ernst und gewitterschwül die Gegenwart auch ist, wir glauben an diese Rettung, und wir hoffen mit dem Dichter, daß „am deutschen Wesen endlich mög die Welt genesen," und in dieser Hoffnung werden wir auch durch jenen echt deutschen Redekampf bestärkt, der in Berlin getobt hat. Aber andrer¬ seits bitten wir doch die, die sich zu den Politikern der staatserhaltenden Par¬ teien zählen, den unmittelbaren praktischen Wert dieses Redekampfes nicht zu überschätzen. Gewiß, die Sozialdemokratie hat manche bittere Wahrheit zu hören bekommen, aber zerschmettert ist sie nicht. Das, was im Reichstage gegen sie gesagt worden ist, ist schon unzählige male gesagt worden von Männern der Wissenschaft und des praktischen Lebens, und dennoch sind in jedem Jahre neue Massen zu ihr übergegangen, und wir fürchten, daß, wenn demnächst wegen der Militärvvrlage der Reichstag aufgelöst und eine Neuwahl vorgenommen werden sollte, eine weitere starke Zunahme der sozinldemokra- tischen Wähler die Richtigkeit unsrer Ansicht beweisen würde. Immer wieder muß es gesagt werden, denn immer wieder wird es vergessen: die Stärke der Sozialdemokratie liegt nicht in ihrem positiven Programm für eine zukünftige Gesellschaftsordnung, uicht in jener sogenannten, ein Sonderdasein führenden „Wissenschaft," die demokratische, republikanische und grob materialistische Ge¬ danken in wunderlicher Weise auf die größte wissenschaftliche Errungenschaft der Neuzeit, auf den Gedanken des Sozialismus, gepfropft hat, und die, ohne zu erkennen, daß der Sozialismus nur praktisch, auf aristokratischer, mon¬ archischer und idealistischer, religiös-sittlicher Grundlage durchführbar ist, jene Fratze des Sozialismus geschaffen hat, der Herr Richter den Spiegel vor¬ gehalten hat. Die Stärke der Sozialdemokratie liegt vielmehr in ihrer Kritik der bestehenden Ordnung, in den unleugbaren Schwächen und Mängeln dieser Ordnung, auf die sie hinweist. So lange diese Mängel bestehen, wird auch eine Partei bestehen bleiben, die sich zum Organ aller Unzufriedenheit ge¬ macht hat; in demselben Grade, wie diese Mängel zunehmen, wird auch diese Partei zunehmen. Eine .Kritik der positiven Bestrebungen dieser Partei ver¬ mag wohl auf die positiven Gedanken der Partei einzuwirken, aber die Existenz der Partei berührt eine solche Kritik nicht. Es ist der verhängnisvolle Fehler der bürgerlichen Parteien, daß sie die Grundlage der sozialdemokratischen Macht verkennen, daß sie die Bedeutung des sozialdemokratischen Programms für diese Macht überschätzen, die Bedeu¬ tung der Sozialdemokratie als Anzeichen unterschützen. Deshalb fürchten wir in der That — so seltsam das auch klingen mag —, daß diese Reichstags- verhandluugen gerade deshalb von Nachteil sein werden, weil in ihnen die Sozialdemokratie so entschieden unterlegen ist. Wir fürchten, daß dadurch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/405>, abgerufen am 01.09.2024.