Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

zischen Rücksichten, sondern, wohlgemerkt, ans der nicht genug zu beherzigenden
sozialpolitischen Erwägung, daß ein Übermaß der Volksschnlbildnng den Ange¬
hörigen der untern Stande Unzufriedenheit mit ihrer Lage einflößt, sie der
Sozialdemokratie zuführt und dadurch Gefahren heraufbeschwört, die dem
Fortbestande der staatlichen Ordnung verhängnisvoll zu werden drohen.

Wir können es uns nicht versagen, zunächst aus einem in der genannten
Zeitung (am 17. März v. I.) unter der Überschrift "Der ländliche Volks-
schuluuterricht" veröffentlichten Aufsatz die uns besonders charakteristisch er¬
scheinenden Sätze wiederzugeben und dabei auf ihre Tragweite hinzuweisen,
sollte sich auch der Verfasser des Aufsatzes selbst durch seinen politischen Partei¬
standpunkt behindert sehen, sie in vollem Umfange anzuerkennen.

Der Verfasser bekennt sich als Gegner des damals eben gefallenen Schul¬
gesetzentwurfs, erklärt aber in einem Punkte die Anschauungen der Widersacher
des Entwurfs nicht zu teilen, und zwar in Bezug ans den ländlichen Volks¬
schulunterricht. Er will der landläufigen Ansicht, je mehr Fächer der Unter¬
richt umfasse, desto mehr Nutzen habe Staat und Volk davon, keine höhere
Bedeutung zugestehen als die einer schönklingenden Phrase, der die Wirklich¬
keit widerspreche. "Wir halten es -- sagt er -- für schädlich, die Dorf¬
schulkinder mit einem Maße von geistiger Bildung auszurüsten, das ihnen die
Existenz, die sie ihrer Mehrzahl nach später im landwirtschaftlichen Betriebe
(als Knechte, Mägde u. dergl.) zu führen haben, verleiden muß, sie mit ihrem
Schicksal unzufrieden macht und sie dazu bringt, sich für die Arbeit hinter
dem Pfluge und im Stalle für zu gut zu halten."

Es leuchtet ohne weiteres ein, daß dieser von der ländlichen Volksschule
handelnde Satz feinem Grundgedanken nach auch auf ihre städtische Schwester
zutrifft, denn die Nachteile, die aus dem gerügten Mißverhältnis der Schul¬
bildung zu der spätern Lebensstellung des Volksschülers entspringen, müssen
sich unfehlbar auch bei den Zöglinge" der städtischen Volksschule geltend machen.
Nun aber wird die Zahl derer unter ihnen, denen später eine Lebensstellung
beschieden ist, die in Betreff ihres Bedarfs an Schulbildung mit dem gewöhn¬
licher ländlicher Arbeiter auf einundderselben Stufe steht, eine sehr beträcht¬
liche sein, anch dann noch, wenn man die Nachkommenschaft jenes Teils des
städtischen Proletariats nicht mit in Rechnung zieht, der sich, nach der weitern
Darlegung des Verfassers, aus der ländlichen Arbeiterbevölkerung rekrutirt,
die durch die Einflüsse des Dvrfschnlunterrichts, mit ihrem Geschick entzweit, in
zahlreichen Scharen den großen Städten zuströmt. So trifft auch die städtische
Volksschule der Vorwurf, vielen ihrer ehemaligen Zöglinge "ihre Existenz zu
verleiden und sie mit ihrem Schicksal unzufrieden zu machen." Ist dem aber
so, woran nur nicht zweifeln, so folgt daraus, daß der Volksschulunterricht
überhaupt in seiner heutigen Verfassung einem ansehnlichen Bruchteil unsrer
Bevölkerung zum Unsegen ausschlägt.


Grenzboten 1 1893 49

zischen Rücksichten, sondern, wohlgemerkt, ans der nicht genug zu beherzigenden
sozialpolitischen Erwägung, daß ein Übermaß der Volksschnlbildnng den Ange¬
hörigen der untern Stande Unzufriedenheit mit ihrer Lage einflößt, sie der
Sozialdemokratie zuführt und dadurch Gefahren heraufbeschwört, die dem
Fortbestande der staatlichen Ordnung verhängnisvoll zu werden drohen.

Wir können es uns nicht versagen, zunächst aus einem in der genannten
Zeitung (am 17. März v. I.) unter der Überschrift „Der ländliche Volks-
schuluuterricht" veröffentlichten Aufsatz die uns besonders charakteristisch er¬
scheinenden Sätze wiederzugeben und dabei auf ihre Tragweite hinzuweisen,
sollte sich auch der Verfasser des Aufsatzes selbst durch seinen politischen Partei¬
standpunkt behindert sehen, sie in vollem Umfange anzuerkennen.

Der Verfasser bekennt sich als Gegner des damals eben gefallenen Schul¬
gesetzentwurfs, erklärt aber in einem Punkte die Anschauungen der Widersacher
des Entwurfs nicht zu teilen, und zwar in Bezug ans den ländlichen Volks¬
schulunterricht. Er will der landläufigen Ansicht, je mehr Fächer der Unter¬
richt umfasse, desto mehr Nutzen habe Staat und Volk davon, keine höhere
Bedeutung zugestehen als die einer schönklingenden Phrase, der die Wirklich¬
keit widerspreche. „Wir halten es — sagt er — für schädlich, die Dorf¬
schulkinder mit einem Maße von geistiger Bildung auszurüsten, das ihnen die
Existenz, die sie ihrer Mehrzahl nach später im landwirtschaftlichen Betriebe
(als Knechte, Mägde u. dergl.) zu führen haben, verleiden muß, sie mit ihrem
Schicksal unzufrieden macht und sie dazu bringt, sich für die Arbeit hinter
dem Pfluge und im Stalle für zu gut zu halten."

Es leuchtet ohne weiteres ein, daß dieser von der ländlichen Volksschule
handelnde Satz feinem Grundgedanken nach auch auf ihre städtische Schwester
zutrifft, denn die Nachteile, die aus dem gerügten Mißverhältnis der Schul¬
bildung zu der spätern Lebensstellung des Volksschülers entspringen, müssen
sich unfehlbar auch bei den Zöglinge» der städtischen Volksschule geltend machen.
Nun aber wird die Zahl derer unter ihnen, denen später eine Lebensstellung
beschieden ist, die in Betreff ihres Bedarfs an Schulbildung mit dem gewöhn¬
licher ländlicher Arbeiter auf einundderselben Stufe steht, eine sehr beträcht¬
liche sein, anch dann noch, wenn man die Nachkommenschaft jenes Teils des
städtischen Proletariats nicht mit in Rechnung zieht, der sich, nach der weitern
Darlegung des Verfassers, aus der ländlichen Arbeiterbevölkerung rekrutirt,
die durch die Einflüsse des Dvrfschnlunterrichts, mit ihrem Geschick entzweit, in
zahlreichen Scharen den großen Städten zuströmt. So trifft auch die städtische
Volksschule der Vorwurf, vielen ihrer ehemaligen Zöglinge „ihre Existenz zu
verleiden und sie mit ihrem Schicksal unzufrieden zu machen." Ist dem aber
so, woran nur nicht zweifeln, so folgt daraus, daß der Volksschulunterricht
überhaupt in seiner heutigen Verfassung einem ansehnlichen Bruchteil unsrer
Bevölkerung zum Unsegen ausschlägt.


Grenzboten 1 1893 49
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0395" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214187"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1317" prev="#ID_1316"> zischen Rücksichten, sondern, wohlgemerkt, ans der nicht genug zu beherzigenden<lb/>
sozialpolitischen Erwägung, daß ein Übermaß der Volksschnlbildnng den Ange¬<lb/>
hörigen der untern Stande Unzufriedenheit mit ihrer Lage einflößt, sie der<lb/>
Sozialdemokratie zuführt und dadurch Gefahren heraufbeschwört, die dem<lb/>
Fortbestande der staatlichen Ordnung verhängnisvoll zu werden drohen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1318"> Wir können es uns nicht versagen, zunächst aus einem in der genannten<lb/>
Zeitung (am 17. März v. I.) unter der Überschrift &#x201E;Der ländliche Volks-<lb/>
schuluuterricht" veröffentlichten Aufsatz die uns besonders charakteristisch er¬<lb/>
scheinenden Sätze wiederzugeben und dabei auf ihre Tragweite hinzuweisen,<lb/>
sollte sich auch der Verfasser des Aufsatzes selbst durch seinen politischen Partei¬<lb/>
standpunkt behindert sehen, sie in vollem Umfange anzuerkennen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1319"> Der Verfasser bekennt sich als Gegner des damals eben gefallenen Schul¬<lb/>
gesetzentwurfs, erklärt aber in einem Punkte die Anschauungen der Widersacher<lb/>
des Entwurfs nicht zu teilen, und zwar in Bezug ans den ländlichen Volks¬<lb/>
schulunterricht. Er will der landläufigen Ansicht, je mehr Fächer der Unter¬<lb/>
richt umfasse, desto mehr Nutzen habe Staat und Volk davon, keine höhere<lb/>
Bedeutung zugestehen als die einer schönklingenden Phrase, der die Wirklich¬<lb/>
keit widerspreche. &#x201E;Wir halten es &#x2014; sagt er &#x2014; für schädlich, die Dorf¬<lb/>
schulkinder mit einem Maße von geistiger Bildung auszurüsten, das ihnen die<lb/>
Existenz, die sie ihrer Mehrzahl nach später im landwirtschaftlichen Betriebe<lb/>
(als Knechte, Mägde u. dergl.) zu führen haben, verleiden muß, sie mit ihrem<lb/>
Schicksal unzufrieden macht und sie dazu bringt, sich für die Arbeit hinter<lb/>
dem Pfluge und im Stalle für zu gut zu halten."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1320"> Es leuchtet ohne weiteres ein, daß dieser von der ländlichen Volksschule<lb/>
handelnde Satz feinem Grundgedanken nach auch auf ihre städtische Schwester<lb/>
zutrifft, denn die Nachteile, die aus dem gerügten Mißverhältnis der Schul¬<lb/>
bildung zu der spätern Lebensstellung des Volksschülers entspringen, müssen<lb/>
sich unfehlbar auch bei den Zöglinge» der städtischen Volksschule geltend machen.<lb/>
Nun aber wird die Zahl derer unter ihnen, denen später eine Lebensstellung<lb/>
beschieden ist, die in Betreff ihres Bedarfs an Schulbildung mit dem gewöhn¬<lb/>
licher ländlicher Arbeiter auf einundderselben Stufe steht, eine sehr beträcht¬<lb/>
liche sein, anch dann noch, wenn man die Nachkommenschaft jenes Teils des<lb/>
städtischen Proletariats nicht mit in Rechnung zieht, der sich, nach der weitern<lb/>
Darlegung des Verfassers, aus der ländlichen Arbeiterbevölkerung rekrutirt,<lb/>
die durch die Einflüsse des Dvrfschnlunterrichts, mit ihrem Geschick entzweit, in<lb/>
zahlreichen Scharen den großen Städten zuströmt. So trifft auch die städtische<lb/>
Volksschule der Vorwurf, vielen ihrer ehemaligen Zöglinge &#x201E;ihre Existenz zu<lb/>
verleiden und sie mit ihrem Schicksal unzufrieden zu machen." Ist dem aber<lb/>
so, woran nur nicht zweifeln, so folgt daraus, daß der Volksschulunterricht<lb/>
überhaupt in seiner heutigen Verfassung einem ansehnlichen Bruchteil unsrer<lb/>
Bevölkerung zum Unsegen ausschlägt.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten 1 1893 49</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0395] zischen Rücksichten, sondern, wohlgemerkt, ans der nicht genug zu beherzigenden sozialpolitischen Erwägung, daß ein Übermaß der Volksschnlbildnng den Ange¬ hörigen der untern Stande Unzufriedenheit mit ihrer Lage einflößt, sie der Sozialdemokratie zuführt und dadurch Gefahren heraufbeschwört, die dem Fortbestande der staatlichen Ordnung verhängnisvoll zu werden drohen. Wir können es uns nicht versagen, zunächst aus einem in der genannten Zeitung (am 17. März v. I.) unter der Überschrift „Der ländliche Volks- schuluuterricht" veröffentlichten Aufsatz die uns besonders charakteristisch er¬ scheinenden Sätze wiederzugeben und dabei auf ihre Tragweite hinzuweisen, sollte sich auch der Verfasser des Aufsatzes selbst durch seinen politischen Partei¬ standpunkt behindert sehen, sie in vollem Umfange anzuerkennen. Der Verfasser bekennt sich als Gegner des damals eben gefallenen Schul¬ gesetzentwurfs, erklärt aber in einem Punkte die Anschauungen der Widersacher des Entwurfs nicht zu teilen, und zwar in Bezug ans den ländlichen Volks¬ schulunterricht. Er will der landläufigen Ansicht, je mehr Fächer der Unter¬ richt umfasse, desto mehr Nutzen habe Staat und Volk davon, keine höhere Bedeutung zugestehen als die einer schönklingenden Phrase, der die Wirklich¬ keit widerspreche. „Wir halten es — sagt er — für schädlich, die Dorf¬ schulkinder mit einem Maße von geistiger Bildung auszurüsten, das ihnen die Existenz, die sie ihrer Mehrzahl nach später im landwirtschaftlichen Betriebe (als Knechte, Mägde u. dergl.) zu führen haben, verleiden muß, sie mit ihrem Schicksal unzufrieden macht und sie dazu bringt, sich für die Arbeit hinter dem Pfluge und im Stalle für zu gut zu halten." Es leuchtet ohne weiteres ein, daß dieser von der ländlichen Volksschule handelnde Satz feinem Grundgedanken nach auch auf ihre städtische Schwester zutrifft, denn die Nachteile, die aus dem gerügten Mißverhältnis der Schul¬ bildung zu der spätern Lebensstellung des Volksschülers entspringen, müssen sich unfehlbar auch bei den Zöglinge» der städtischen Volksschule geltend machen. Nun aber wird die Zahl derer unter ihnen, denen später eine Lebensstellung beschieden ist, die in Betreff ihres Bedarfs an Schulbildung mit dem gewöhn¬ licher ländlicher Arbeiter auf einundderselben Stufe steht, eine sehr beträcht¬ liche sein, anch dann noch, wenn man die Nachkommenschaft jenes Teils des städtischen Proletariats nicht mit in Rechnung zieht, der sich, nach der weitern Darlegung des Verfassers, aus der ländlichen Arbeiterbevölkerung rekrutirt, die durch die Einflüsse des Dvrfschnlunterrichts, mit ihrem Geschick entzweit, in zahlreichen Scharen den großen Städten zuströmt. So trifft auch die städtische Volksschule der Vorwurf, vielen ihrer ehemaligen Zöglinge „ihre Existenz zu verleiden und sie mit ihrem Schicksal unzufrieden zu machen." Ist dem aber so, woran nur nicht zweifeln, so folgt daraus, daß der Volksschulunterricht überhaupt in seiner heutigen Verfassung einem ansehnlichen Bruchteil unsrer Bevölkerung zum Unsegen ausschlägt. Grenzboten 1 1893 49

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/395
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/395>, abgerufen am 28.09.2024.