Heinze" schlägt für diesen Fall körperliche Züchtigung vor, um den Leuten die Sehnsucht nach dem Gefängnisse zu vertreiben. So gelangen wir all¬ mählich zu der englischen Praxis, jedem Armen, der nicht unter jeder ihm zu¬ gemuteten Bedingung arbeitet, oder der schlechterdings keine Arbeit bekommt, das Leben zur Hölle zu machen und dadurch den Schein zu erwecken, als sei er ein Verbrecher, der sehr wohl arbeiten könnte, aber nur nicht wolle.
Die statistischen Angaben, die zur Beleuchtung des Grades der Arbeits¬ losigkeit hie und da beigebracht werden, sind wertlos. Es giebt keine Sta¬ tistik der Arbeitslosen, und obwohl man sich jetzt von verschiednen Seiten um eine solche bemüht, werden wir doch noch lange vergebens darauf warten. Denn sobald einmal offenkundig geworden ist, daß -- sagen wir eine Million -- Einwohner des Staates keine Gelegenheit mehr haben, sich ihren Lebens¬ unterhalt durch Arbeit zu verschaffen, erwächst daraus für den Staat die furchtbare Aufgabe, diese Schwierigkeit zu lösen. Davor fürchten sich aber alle Staatsmänner so sehr, daß sie den Thatsachen gegenüber Augen und Ohren verschließen und von einem statistischen Nachweise nichts wissen wollen. In England ist man in dieser Hinsicht nicht ganz so feig. Freilich drängen sich dort auch den Augen die Thatsachen mehr auf. An den Thoren der Docks sah es zur Zeit des großen Streiks noch genau so aus, wie es Engels vor fünfzig Jahren beschrieben hat: jeden Morgen harrten Tausende dort in banger Erwartung; beim Öffnen und schou vorher entwickelte sich der Kampf ums Dasein im buchstäblichen Sinne des Wortes und in seiner abschreckendsten Gestalt, jeder suchte sich uach vorn vorzudrängen; war die gerade erforderliche Menge abgezählt -- natürlich waren nur die stärksten und rücksichtslosesten so glücklich, dranzukommen --, so hatten diese auf einige Stunden Arbeit und für diesen Tag Brot; die Thore aber wurden geschlossen, und die übrigen mußten traurig oder ingrimmig von dannen ziehn. Die erste Forderung der Dockarbeiter beim Streik war bekanntlich auf gleichmäßige Verteilung der Arbeit gerichtet. Aber da um einmal das Angebot von Arbeit größer ist als die Nachfrage, so hat anch die Gewerkvercinsbildung die Schwierigkeit nicht zu lösen vermocht, und vor etwa anderthalb Jahren meinte daher die konservative L^durck^ Ksvwv, da es offenbar unmöglich sei, allen armen Be¬ wohnern Londons Arbeit zu verschaffen, so solle man die Zahl der Arbeits¬ losen ermitteln und diesen Armengeld zahlen; das sei noch nicht so schlimm wie ewige Arbeiternnruheu.
Auch die Abnahme der Verbrechen endlich Pflegen Optimisten als einen schlagenden Beweis für das Wachstum des Wohlstands in den untern Schichten anzuführen; in England und Wales kommen nach Wolf 1355 nicht weniger als 7" überführte Verbrecher, 1889 mir 37 auf je 100000 Einwohner. Über diesen letzten Punkt können wir uns kurz fassen. Wie alle Welt weiß, hören die Konservativen nicht auf, über die zunehmende Kriminalität zu jammern,
Heinze" schlägt für diesen Fall körperliche Züchtigung vor, um den Leuten die Sehnsucht nach dem Gefängnisse zu vertreiben. So gelangen wir all¬ mählich zu der englischen Praxis, jedem Armen, der nicht unter jeder ihm zu¬ gemuteten Bedingung arbeitet, oder der schlechterdings keine Arbeit bekommt, das Leben zur Hölle zu machen und dadurch den Schein zu erwecken, als sei er ein Verbrecher, der sehr wohl arbeiten könnte, aber nur nicht wolle.
Die statistischen Angaben, die zur Beleuchtung des Grades der Arbeits¬ losigkeit hie und da beigebracht werden, sind wertlos. Es giebt keine Sta¬ tistik der Arbeitslosen, und obwohl man sich jetzt von verschiednen Seiten um eine solche bemüht, werden wir doch noch lange vergebens darauf warten. Denn sobald einmal offenkundig geworden ist, daß — sagen wir eine Million — Einwohner des Staates keine Gelegenheit mehr haben, sich ihren Lebens¬ unterhalt durch Arbeit zu verschaffen, erwächst daraus für den Staat die furchtbare Aufgabe, diese Schwierigkeit zu lösen. Davor fürchten sich aber alle Staatsmänner so sehr, daß sie den Thatsachen gegenüber Augen und Ohren verschließen und von einem statistischen Nachweise nichts wissen wollen. In England ist man in dieser Hinsicht nicht ganz so feig. Freilich drängen sich dort auch den Augen die Thatsachen mehr auf. An den Thoren der Docks sah es zur Zeit des großen Streiks noch genau so aus, wie es Engels vor fünfzig Jahren beschrieben hat: jeden Morgen harrten Tausende dort in banger Erwartung; beim Öffnen und schou vorher entwickelte sich der Kampf ums Dasein im buchstäblichen Sinne des Wortes und in seiner abschreckendsten Gestalt, jeder suchte sich uach vorn vorzudrängen; war die gerade erforderliche Menge abgezählt — natürlich waren nur die stärksten und rücksichtslosesten so glücklich, dranzukommen —, so hatten diese auf einige Stunden Arbeit und für diesen Tag Brot; die Thore aber wurden geschlossen, und die übrigen mußten traurig oder ingrimmig von dannen ziehn. Die erste Forderung der Dockarbeiter beim Streik war bekanntlich auf gleichmäßige Verteilung der Arbeit gerichtet. Aber da um einmal das Angebot von Arbeit größer ist als die Nachfrage, so hat anch die Gewerkvercinsbildung die Schwierigkeit nicht zu lösen vermocht, und vor etwa anderthalb Jahren meinte daher die konservative L^durck^ Ksvwv, da es offenbar unmöglich sei, allen armen Be¬ wohnern Londons Arbeit zu verschaffen, so solle man die Zahl der Arbeits¬ losen ermitteln und diesen Armengeld zahlen; das sei noch nicht so schlimm wie ewige Arbeiternnruheu.
Auch die Abnahme der Verbrechen endlich Pflegen Optimisten als einen schlagenden Beweis für das Wachstum des Wohlstands in den untern Schichten anzuführen; in England und Wales kommen nach Wolf 1355 nicht weniger als 7» überführte Verbrecher, 1889 mir 37 auf je 100000 Einwohner. Über diesen letzten Punkt können wir uns kurz fassen. Wie alle Welt weiß, hören die Konservativen nicht auf, über die zunehmende Kriminalität zu jammern,
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Heinze" schlägt für diesen Fall körperliche Züchtigung vor, um den Leuten
die Sehnsucht nach dem Gefängnisse zu vertreiben. So gelangen wir all¬
mählich zu der englischen Praxis, jedem Armen, der nicht unter jeder ihm zu¬
gemuteten Bedingung arbeitet, oder der schlechterdings keine Arbeit bekommt, das
Leben zur Hölle zu machen und dadurch den Schein zu erwecken, als sei er
ein Verbrecher, der sehr wohl arbeiten könnte, aber nur nicht wolle.
Die statistischen Angaben, die zur Beleuchtung des Grades der Arbeits¬
losigkeit hie und da beigebracht werden, sind wertlos. Es giebt keine Sta¬
tistik der Arbeitslosen, und obwohl man sich jetzt von verschiednen Seiten um
eine solche bemüht, werden wir doch noch lange vergebens darauf warten.
Denn sobald einmal offenkundig geworden ist, daß — sagen wir eine Million —
Einwohner des Staates keine Gelegenheit mehr haben, sich ihren Lebens¬
unterhalt durch Arbeit zu verschaffen, erwächst daraus für den Staat die
furchtbare Aufgabe, diese Schwierigkeit zu lösen. Davor fürchten sich aber
alle Staatsmänner so sehr, daß sie den Thatsachen gegenüber Augen und
Ohren verschließen und von einem statistischen Nachweise nichts wissen wollen.
In England ist man in dieser Hinsicht nicht ganz so feig. Freilich drängen
sich dort auch den Augen die Thatsachen mehr auf. An den Thoren der
Docks sah es zur Zeit des großen Streiks noch genau so aus, wie es Engels
vor fünfzig Jahren beschrieben hat: jeden Morgen harrten Tausende dort in
banger Erwartung; beim Öffnen und schou vorher entwickelte sich der Kampf
ums Dasein im buchstäblichen Sinne des Wortes und in seiner abschreckendsten
Gestalt, jeder suchte sich uach vorn vorzudrängen; war die gerade erforderliche
Menge abgezählt — natürlich waren nur die stärksten und rücksichtslosesten
so glücklich, dranzukommen —, so hatten diese auf einige Stunden Arbeit und
für diesen Tag Brot; die Thore aber wurden geschlossen, und die übrigen
mußten traurig oder ingrimmig von dannen ziehn. Die erste Forderung der
Dockarbeiter beim Streik war bekanntlich auf gleichmäßige Verteilung der
Arbeit gerichtet. Aber da um einmal das Angebot von Arbeit größer ist
als die Nachfrage, so hat anch die Gewerkvercinsbildung die Schwierigkeit
nicht zu lösen vermocht, und vor etwa anderthalb Jahren meinte daher die
konservative L^durck^ Ksvwv, da es offenbar unmöglich sei, allen armen Be¬
wohnern Londons Arbeit zu verschaffen, so solle man die Zahl der Arbeits¬
losen ermitteln und diesen Armengeld zahlen; das sei noch nicht so schlimm
wie ewige Arbeiternnruheu.
Auch die Abnahme der Verbrechen endlich Pflegen Optimisten als einen
schlagenden Beweis für das Wachstum des Wohlstands in den untern Schichten
anzuführen; in England und Wales kommen nach Wolf 1355 nicht weniger
als 7» überführte Verbrecher, 1889 mir 37 auf je 100000 Einwohner. Über
diesen letzten Punkt können wir uns kurz fassen. Wie alle Welt weiß, hören
die Konservativen nicht auf, über die zunehmende Kriminalität zu jammern,
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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/391>, abgerufen am 26.02.2025.
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