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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Weder Rommunisnms noch Uapitcilismus

Mehrzahl der Männer wenigstens zeitweise ans gefahrvollen Reisen, Pilger¬
schaften und Kriegszügen begriffen war, daß da die Menschen durchschnittlich
jünger starben, als ein schlesischer oder sächsischer Leineweber, der nicht aus
seiner Bude herauskommt, und dessen Organismus sich den kärglichsten Existenz¬
bedingungen angepaßt hat. In dieser Anpassung vorzugsweise liegt das Ge¬
heimnis der überraschend langen Lebensdauer vieler Proletarier. Das gilt
sowohl von der Ernährung wie von der Luft und deu übrigen Daseins¬
bedingungen. Der Mensch ist nicht dazu geschaffen, gleich der Ratte ohne
Sonnenlicht zu leben und Kloakeudust zu atmen. Wenn aber große Arbeiter¬
massen in kloakenähnliche Räume eingesperrt werden, so bleiben schließlich eine
Anzahl übrig, die die neue Spezies llonrv oloaeinus fortpflanzen. Man hat
in jüngster Zeit öfter davon gesprochen, daß die Weber das Hungern als Kunst
betrieben. Allein über diese Stufe sind sie längst hinaus: ihnen ist spärliche
Ernährung bereits zur andern Natur geworden. Wolf selbst führt als klas¬
sischen Zeugen dieser Thatsache Rechenberg an, der 1870 eine Abhandlung
über "die Ernährung der Handweber in der Amtshauptmannschaft Zittau"
geschrieben hat. Darin heißt es: "Die Männer sind schwächlich, zuweilen so
sehr hob nicht ,,meistens" oder ,,ganz allgemein" richtiger wäre als "zu¬
weilen?"^, daß sie zu einer mehr Muskelkraft erfordernden Arbeit, z.B. zu
Tagelöhnerarbeit auf dem Felde nicht fähig sind. Immerhin reichen die Kräfte
des Webers zu seiner im Sommer dreizehn- bis fünfzehnstündigen, im Winter
vierzehn- bis sechzehnstündigen Arbeit aus; die kinderlose Familie verdient
durch solche Arbeit im Jahre 397 Mark." Seitdem, bemerkt Wolf dazu, aller¬
dings weniger, infolge der Webernot. Daß die Leute bei dieser Einnahme
überhaupt noch leben können, verdanken sie der Umsicht, mit der sie ,,in Über¬
einstimmung mit den Regeln der Wissenschaft" aus den billigsten Nahrungs¬
mitteln ihre Kost so zusammensetzen, daß der Körper genau das zur Erhal¬
tung des Lebens notwendige erhält, freilich auch nicht ein Quentchen darüber.
Dabei wird noch zu beachten sein, daß diese Leute wahrscheinlich ihre eignen
ererbten Häuschen bewohnen, also weder Geld auf teure Mietwohnungen
brauchen, noch in arbeitsloser Zeit auf das Strnßenvslaster geworfen werden
können. Wolf scheint diese Erfindung oder Entdeckung der billigste" Lebens¬
weise sür ein Glück anzusehen. Er schließt die Anmerkung, in der er sie mit¬
teilt, mit dem Satze: ,,Was aber jene Beschränkung auf sogenannte Kartoffel-,
thatsächlich Kartoffel- und Mehlkost wirtschaftlich bedeuten will, geht aus fol¬
genden Daten deutlich hervor." Und nun folgt eine Tabelle, aus der man
ersieht, daß ein Stück Rindfleisch zwanzigmal iNindslende fünfunddreißigmal)
so teuer ist als eine Kartvffelmasse von demselben Nährwert. In England
haben Männer wie Adam Smith, Buckle, John Stuart Mill klar erkannt, daß
ein Volk verloren ist, wenn es sich, gleich den Jrlcinderu und Indern, unter
fortdauerndem Druck dazu bequemt hat, von den denkbar billigsten Nahrungs-


Weder Rommunisnms noch Uapitcilismus

Mehrzahl der Männer wenigstens zeitweise ans gefahrvollen Reisen, Pilger¬
schaften und Kriegszügen begriffen war, daß da die Menschen durchschnittlich
jünger starben, als ein schlesischer oder sächsischer Leineweber, der nicht aus
seiner Bude herauskommt, und dessen Organismus sich den kärglichsten Existenz¬
bedingungen angepaßt hat. In dieser Anpassung vorzugsweise liegt das Ge¬
heimnis der überraschend langen Lebensdauer vieler Proletarier. Das gilt
sowohl von der Ernährung wie von der Luft und deu übrigen Daseins¬
bedingungen. Der Mensch ist nicht dazu geschaffen, gleich der Ratte ohne
Sonnenlicht zu leben und Kloakeudust zu atmen. Wenn aber große Arbeiter¬
massen in kloakenähnliche Räume eingesperrt werden, so bleiben schließlich eine
Anzahl übrig, die die neue Spezies llonrv oloaeinus fortpflanzen. Man hat
in jüngster Zeit öfter davon gesprochen, daß die Weber das Hungern als Kunst
betrieben. Allein über diese Stufe sind sie längst hinaus: ihnen ist spärliche
Ernährung bereits zur andern Natur geworden. Wolf selbst führt als klas¬
sischen Zeugen dieser Thatsache Rechenberg an, der 1870 eine Abhandlung
über „die Ernährung der Handweber in der Amtshauptmannschaft Zittau"
geschrieben hat. Darin heißt es: „Die Männer sind schwächlich, zuweilen so
sehr hob nicht ,,meistens" oder ,,ganz allgemein" richtiger wäre als »zu¬
weilen?«^, daß sie zu einer mehr Muskelkraft erfordernden Arbeit, z.B. zu
Tagelöhnerarbeit auf dem Felde nicht fähig sind. Immerhin reichen die Kräfte
des Webers zu seiner im Sommer dreizehn- bis fünfzehnstündigen, im Winter
vierzehn- bis sechzehnstündigen Arbeit aus; die kinderlose Familie verdient
durch solche Arbeit im Jahre 397 Mark." Seitdem, bemerkt Wolf dazu, aller¬
dings weniger, infolge der Webernot. Daß die Leute bei dieser Einnahme
überhaupt noch leben können, verdanken sie der Umsicht, mit der sie ,,in Über¬
einstimmung mit den Regeln der Wissenschaft" aus den billigsten Nahrungs¬
mitteln ihre Kost so zusammensetzen, daß der Körper genau das zur Erhal¬
tung des Lebens notwendige erhält, freilich auch nicht ein Quentchen darüber.
Dabei wird noch zu beachten sein, daß diese Leute wahrscheinlich ihre eignen
ererbten Häuschen bewohnen, also weder Geld auf teure Mietwohnungen
brauchen, noch in arbeitsloser Zeit auf das Strnßenvslaster geworfen werden
können. Wolf scheint diese Erfindung oder Entdeckung der billigste» Lebens¬
weise sür ein Glück anzusehen. Er schließt die Anmerkung, in der er sie mit¬
teilt, mit dem Satze: ,,Was aber jene Beschränkung auf sogenannte Kartoffel-,
thatsächlich Kartoffel- und Mehlkost wirtschaftlich bedeuten will, geht aus fol¬
genden Daten deutlich hervor." Und nun folgt eine Tabelle, aus der man
ersieht, daß ein Stück Rindfleisch zwanzigmal iNindslende fünfunddreißigmal)
so teuer ist als eine Kartvffelmasse von demselben Nährwert. In England
haben Männer wie Adam Smith, Buckle, John Stuart Mill klar erkannt, daß
ein Volk verloren ist, wenn es sich, gleich den Jrlcinderu und Indern, unter
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[0382] Weder Rommunisnms noch Uapitcilismus Mehrzahl der Männer wenigstens zeitweise ans gefahrvollen Reisen, Pilger¬ schaften und Kriegszügen begriffen war, daß da die Menschen durchschnittlich jünger starben, als ein schlesischer oder sächsischer Leineweber, der nicht aus seiner Bude herauskommt, und dessen Organismus sich den kärglichsten Existenz¬ bedingungen angepaßt hat. In dieser Anpassung vorzugsweise liegt das Ge¬ heimnis der überraschend langen Lebensdauer vieler Proletarier. Das gilt sowohl von der Ernährung wie von der Luft und deu übrigen Daseins¬ bedingungen. Der Mensch ist nicht dazu geschaffen, gleich der Ratte ohne Sonnenlicht zu leben und Kloakeudust zu atmen. Wenn aber große Arbeiter¬ massen in kloakenähnliche Räume eingesperrt werden, so bleiben schließlich eine Anzahl übrig, die die neue Spezies llonrv oloaeinus fortpflanzen. Man hat in jüngster Zeit öfter davon gesprochen, daß die Weber das Hungern als Kunst betrieben. Allein über diese Stufe sind sie längst hinaus: ihnen ist spärliche Ernährung bereits zur andern Natur geworden. Wolf selbst führt als klas¬ sischen Zeugen dieser Thatsache Rechenberg an, der 1870 eine Abhandlung über „die Ernährung der Handweber in der Amtshauptmannschaft Zittau" geschrieben hat. Darin heißt es: „Die Männer sind schwächlich, zuweilen so sehr hob nicht ,,meistens" oder ,,ganz allgemein" richtiger wäre als »zu¬ weilen?«^, daß sie zu einer mehr Muskelkraft erfordernden Arbeit, z.B. zu Tagelöhnerarbeit auf dem Felde nicht fähig sind. Immerhin reichen die Kräfte des Webers zu seiner im Sommer dreizehn- bis fünfzehnstündigen, im Winter vierzehn- bis sechzehnstündigen Arbeit aus; die kinderlose Familie verdient durch solche Arbeit im Jahre 397 Mark." Seitdem, bemerkt Wolf dazu, aller¬ dings weniger, infolge der Webernot. Daß die Leute bei dieser Einnahme überhaupt noch leben können, verdanken sie der Umsicht, mit der sie ,,in Über¬ einstimmung mit den Regeln der Wissenschaft" aus den billigsten Nahrungs¬ mitteln ihre Kost so zusammensetzen, daß der Körper genau das zur Erhal¬ tung des Lebens notwendige erhält, freilich auch nicht ein Quentchen darüber. Dabei wird noch zu beachten sein, daß diese Leute wahrscheinlich ihre eignen ererbten Häuschen bewohnen, also weder Geld auf teure Mietwohnungen brauchen, noch in arbeitsloser Zeit auf das Strnßenvslaster geworfen werden können. Wolf scheint diese Erfindung oder Entdeckung der billigste» Lebens¬ weise sür ein Glück anzusehen. Er schließt die Anmerkung, in der er sie mit¬ teilt, mit dem Satze: ,,Was aber jene Beschränkung auf sogenannte Kartoffel-, thatsächlich Kartoffel- und Mehlkost wirtschaftlich bedeuten will, geht aus fol¬ genden Daten deutlich hervor." Und nun folgt eine Tabelle, aus der man ersieht, daß ein Stück Rindfleisch zwanzigmal iNindslende fünfunddreißigmal) so teuer ist als eine Kartvffelmasse von demselben Nährwert. In England haben Männer wie Adam Smith, Buckle, John Stuart Mill klar erkannt, daß ein Volk verloren ist, wenn es sich, gleich den Jrlcinderu und Indern, unter fortdauerndem Druck dazu bequemt hat, von den denkbar billigsten Nahrungs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/382>, abgerufen am 01.09.2024.