Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.Frmi Jenny Treidel noch die unbewußt verständige und überall den Nagel auf den Kopf treffende Freilich läßt sich nicht verkennen, daß diese Wirkung eine doppelte, grund- Grenzboten I 1893 44
Frmi Jenny Treidel noch die unbewußt verständige und überall den Nagel auf den Kopf treffende Freilich läßt sich nicht verkennen, daß diese Wirkung eine doppelte, grund- Grenzboten I 1893 44
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0355" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214147"/> <fw type="header" place="top"> Frmi Jenny Treidel</fw><lb/> <p xml:id="ID_1193" prev="#ID_1192"> noch die unbewußt verständige und überall den Nagel auf den Kopf treffende<lb/> Frau Schmölle, eine humoristische Figur ersten Ranges, mit ihren steten Er¬<lb/> innerungen an ihren verstorbnen Gatten, den Schutzmann Schmölle, der ge¬<lb/> scheite und warmherzige Marcell Wedderkopp, dessen Oberlehrerbewußtsein<lb/> durchaus nichts verletzendes und nichts beschränktes hat, und dem man eine<lb/> noch warmblütigere Frau gönnen möchte, als er an Corinna gewinnt, die<lb/> drei männlichen Treibeis, Frau Helene Treibet, geborne Munk, die „sieben<lb/> Waisen Griechenlands," die bei Schmidt Oderkrebse essen, Trarbacher trinken,<lb/> und von denen wir auch die kennen lernen, die zufällig nicht da sind, selbst<lb/> Episodenfiguren wie Fräulein Honig, der frühere Opernsänger und gegen¬<lb/> wärtige Millionär Adolar Krola, der Leutnant a. D. Vogelsang und der Liver¬<lb/> pooler Kaufmann Mr. Nelson stehen in voller Deutlichkeit vor uns. Und<lb/> die Atmosphäre, in und aus der sie leben, wird mit wenigen sichern Strichen<lb/> vor uns hingezaubert. Die Beobachtnngsfülle und das Gruppirungstalent<lb/> des Schriftstellers reichen sich die Hand, um ein scheinbar ganz absichtsloses<lb/> Gebilde herzustellen, dessen Wirkung unbedingt gesichert ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1194" next="#ID_1195"> Freilich läßt sich nicht verkennen, daß diese Wirkung eine doppelte, grund-<lb/> verschiedne sein kann. Denn der Gesammteindruck von „Frau Jenny Treibe!"<lb/> ist doch der einer Gesellschaft ohne Ideale, ohne Glauben, ohne tiefreichende<lb/> Überzeugungen, die Philologen mit ihren Gesprächen über Schliemann und<lb/> Mytenü, mit ihren Schulerinnerungen, ihren litterarischen Plaudereien sind<lb/> die einzigen in ihr, die wirklich geistige über die Alltäglichkeit und den augen¬<lb/> blicklichen Genuß hinausreichende Interessen haben. Man kann mit Wilibald<lb/> Schmidt überzeugt sein, daß seinem Neffen und nunmehrigen Schwiegersohn<lb/> Marcell die Universitätsprvfessur künftig nicht fehlen wird. „Und sehen Sie,<lb/> liebe Schmölle, das ist das, was ich eine gute Partie nenne." Man muß<lb/> es auch wünschen, daß es so komme, denn wenn anch Corinna schließlich hat<lb/> einsehen lernen, daß die Befriedigung ihres Sinns für Äußerlichkeiten „zu<lb/> teuer erkauft werden kann," so wird sie doch ihren Gemahl vorwärts und in<lb/> die Höhe drängen, und es ist jedenfalls ein Glück für ihn, daß er schon auf<lb/> gutem Wege ist. Die cmflackirten Nichtigkeiten, mit denen die meisten Menschen<lb/> der hier gespiegelten Kreise ihre Tage verbringen, der Mangel an größern<lb/> Gesinnungen und Zielen — wären es immerhin nnr rein weltliche Ziele —,<lb/> die seltsame Mischung von innerer Kälte und boshafter Nachrede über den<lb/> Nächsten mit einem Nestchen Gutmütigkeit wirkt auch in der halb ironischen,<lb/> halb teilnehmenden Wiedergabe Montanes nicht eben erquicklich. Man muß<lb/> schon ans dem Standpunkte stehen, daß jede Wirklichkeit Befriedigung hervor¬<lb/> bringe, um sich eines leisen Fröstelns erwehren zu können, das uns namentlich<lb/> bei dem Nachklang, bei der letzten Szene im Englischen Hause überschleicht.<lb/> Und dabei hegen wir nicht den leisesten Zweifel, daß Fontäne der Mann ist,<lb/> jeden Lichtstrahl, der ihm aus dieser Welt ins Auge fällt, mit besondern!</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1893 44</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0355]
Frmi Jenny Treidel
noch die unbewußt verständige und überall den Nagel auf den Kopf treffende
Frau Schmölle, eine humoristische Figur ersten Ranges, mit ihren steten Er¬
innerungen an ihren verstorbnen Gatten, den Schutzmann Schmölle, der ge¬
scheite und warmherzige Marcell Wedderkopp, dessen Oberlehrerbewußtsein
durchaus nichts verletzendes und nichts beschränktes hat, und dem man eine
noch warmblütigere Frau gönnen möchte, als er an Corinna gewinnt, die
drei männlichen Treibeis, Frau Helene Treibet, geborne Munk, die „sieben
Waisen Griechenlands," die bei Schmidt Oderkrebse essen, Trarbacher trinken,
und von denen wir auch die kennen lernen, die zufällig nicht da sind, selbst
Episodenfiguren wie Fräulein Honig, der frühere Opernsänger und gegen¬
wärtige Millionär Adolar Krola, der Leutnant a. D. Vogelsang und der Liver¬
pooler Kaufmann Mr. Nelson stehen in voller Deutlichkeit vor uns. Und
die Atmosphäre, in und aus der sie leben, wird mit wenigen sichern Strichen
vor uns hingezaubert. Die Beobachtnngsfülle und das Gruppirungstalent
des Schriftstellers reichen sich die Hand, um ein scheinbar ganz absichtsloses
Gebilde herzustellen, dessen Wirkung unbedingt gesichert ist.
Freilich läßt sich nicht verkennen, daß diese Wirkung eine doppelte, grund-
verschiedne sein kann. Denn der Gesammteindruck von „Frau Jenny Treibe!"
ist doch der einer Gesellschaft ohne Ideale, ohne Glauben, ohne tiefreichende
Überzeugungen, die Philologen mit ihren Gesprächen über Schliemann und
Mytenü, mit ihren Schulerinnerungen, ihren litterarischen Plaudereien sind
die einzigen in ihr, die wirklich geistige über die Alltäglichkeit und den augen¬
blicklichen Genuß hinausreichende Interessen haben. Man kann mit Wilibald
Schmidt überzeugt sein, daß seinem Neffen und nunmehrigen Schwiegersohn
Marcell die Universitätsprvfessur künftig nicht fehlen wird. „Und sehen Sie,
liebe Schmölle, das ist das, was ich eine gute Partie nenne." Man muß
es auch wünschen, daß es so komme, denn wenn anch Corinna schließlich hat
einsehen lernen, daß die Befriedigung ihres Sinns für Äußerlichkeiten „zu
teuer erkauft werden kann," so wird sie doch ihren Gemahl vorwärts und in
die Höhe drängen, und es ist jedenfalls ein Glück für ihn, daß er schon auf
gutem Wege ist. Die cmflackirten Nichtigkeiten, mit denen die meisten Menschen
der hier gespiegelten Kreise ihre Tage verbringen, der Mangel an größern
Gesinnungen und Zielen — wären es immerhin nnr rein weltliche Ziele —,
die seltsame Mischung von innerer Kälte und boshafter Nachrede über den
Nächsten mit einem Nestchen Gutmütigkeit wirkt auch in der halb ironischen,
halb teilnehmenden Wiedergabe Montanes nicht eben erquicklich. Man muß
schon ans dem Standpunkte stehen, daß jede Wirklichkeit Befriedigung hervor¬
bringe, um sich eines leisen Fröstelns erwehren zu können, das uns namentlich
bei dem Nachklang, bei der letzten Szene im Englischen Hause überschleicht.
Und dabei hegen wir nicht den leisesten Zweifel, daß Fontäne der Mann ist,
jeden Lichtstrahl, der ihm aus dieser Welt ins Auge fällt, mit besondern!
Grenzboten I 1893 44
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