Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Mozarts Bild nach hundert Jahren

höchsten in einer Eigenschaft entfaltete, in der ihn Josef Haydn eher übertrifft
als erreicht. Andre haben Mozarts Stärke in der spielenden Bewältigung
umfassender und verwickelter Tongebilde gefunden, und sicherlich offenbart sich
in manchen Ensemblesätzen seiner Opern wie in dem bekannten Finale der
Oäui'-Sinfonie eine napoleonische Verbindung größter Deutlichkeit mit größter
Schnelligkeit einer Massenbewegung. Es ist nicht anders: auf den verschiedensten
Gebieten weist doch das Genie dieselben Grundlinien des innern Baues auf.
So fehlt auch jener Jmperatorenzug in dem Bilde keines großen Künstlers.
Unter den Musikern tragen ihn wie Mozart so Händel, Bach, Gluck, Beethoven
und Wagner mehr oder weniger ausgeprägt an sich. Schiller, dessen Gedichte
"Das Glück" und "Der Genius" seinem Volke als schönster Leitfaden zum
Verständnis echter Größe dienen würden, wenn es die herrlichen Gedanken in
ihrer mythologischen Verkleidung zu erkennen vermöchte, Schiller, der von solchen
Dingen als ein Wissender, weil mit der Sehergabe des Dichters spricht, läßt
nicht von ungefähr den Vater der Menschen und Götter seinen Lieblingen anch
die herrschaftgebeude Binde nur die Stirn flechten. Wie aber in Schillers
Gedicht diese Binde nur eines unter vielen Attributen des Helden ist, so ist
auch in dem Bilde Mozarts die Gabe der Auseinandersetzung und Verknüpfung,
der ruhigen Leitung lebhaft bewegter Figuren nur eine unter vielen Ausstrah¬
lungen der einen und unteilbaren Schaffenskraft. Und ebenso verhält es sich
mit andern Zügen, die andern als die hervorstechendsten erscheinen. Der Tau¬
tropfen bleibt derselbe, wenn auch sein Farbenspiel mit dem Standpunkte des
Beschauers wechselt.

Mögen aber die Elemente der Schaffenskraft noch so einfach fein und
sich gleichbleiben, so wird doch darum nicht weniger die Gesamtthätigkeit jedes
Meisters der Kunst -- und nicht bloß der Kunst -- durch eine persönliche
Färbung oder Grundstimmung gekennzeichnet. Auf diese Grundstimmung der
Mozartschen Musik bezog es sich, wenn ich vorhin sagte, daß sie am treffendsten
mit einem Lächeln unter Thränen verglichen worden sei. Wenn Mozart sein
Bestes giebt, wenn er ganz er selbst ist, dann spricht aus seiner Musik eine
Heiterkeit, der wir uus gern gefangen geben, weil sie nirgends versucht, uus
über die Schmerzen des Erdendaseins hinwegzutäuschen, sondern allen Schmerz
in sich aufgenommen und aufgelöst hat. Wenn diese Tonweisen in unaufhalt¬
samer Bewegung an uns vorüberziehen, so führen sie uns samt unsern Freuden
und unsrer Trauer mit sich fort auf eine lichte Höhe; und wir empfinden die
befreiende Wirkung des Anblicks unvergänglicher Kräfte in ihrer Überlegenheit
über den lästigen Druck der vergänglichen Schranken alles Einzellebens.




Mozarts Bild nach hundert Jahren

höchsten in einer Eigenschaft entfaltete, in der ihn Josef Haydn eher übertrifft
als erreicht. Andre haben Mozarts Stärke in der spielenden Bewältigung
umfassender und verwickelter Tongebilde gefunden, und sicherlich offenbart sich
in manchen Ensemblesätzen seiner Opern wie in dem bekannten Finale der
Oäui'-Sinfonie eine napoleonische Verbindung größter Deutlichkeit mit größter
Schnelligkeit einer Massenbewegung. Es ist nicht anders: auf den verschiedensten
Gebieten weist doch das Genie dieselben Grundlinien des innern Baues auf.
So fehlt auch jener Jmperatorenzug in dem Bilde keines großen Künstlers.
Unter den Musikern tragen ihn wie Mozart so Händel, Bach, Gluck, Beethoven
und Wagner mehr oder weniger ausgeprägt an sich. Schiller, dessen Gedichte
„Das Glück" und „Der Genius" seinem Volke als schönster Leitfaden zum
Verständnis echter Größe dienen würden, wenn es die herrlichen Gedanken in
ihrer mythologischen Verkleidung zu erkennen vermöchte, Schiller, der von solchen
Dingen als ein Wissender, weil mit der Sehergabe des Dichters spricht, läßt
nicht von ungefähr den Vater der Menschen und Götter seinen Lieblingen anch
die herrschaftgebeude Binde nur die Stirn flechten. Wie aber in Schillers
Gedicht diese Binde nur eines unter vielen Attributen des Helden ist, so ist
auch in dem Bilde Mozarts die Gabe der Auseinandersetzung und Verknüpfung,
der ruhigen Leitung lebhaft bewegter Figuren nur eine unter vielen Ausstrah¬
lungen der einen und unteilbaren Schaffenskraft. Und ebenso verhält es sich
mit andern Zügen, die andern als die hervorstechendsten erscheinen. Der Tau¬
tropfen bleibt derselbe, wenn auch sein Farbenspiel mit dem Standpunkte des
Beschauers wechselt.

Mögen aber die Elemente der Schaffenskraft noch so einfach fein und
sich gleichbleiben, so wird doch darum nicht weniger die Gesamtthätigkeit jedes
Meisters der Kunst — und nicht bloß der Kunst — durch eine persönliche
Färbung oder Grundstimmung gekennzeichnet. Auf diese Grundstimmung der
Mozartschen Musik bezog es sich, wenn ich vorhin sagte, daß sie am treffendsten
mit einem Lächeln unter Thränen verglichen worden sei. Wenn Mozart sein
Bestes giebt, wenn er ganz er selbst ist, dann spricht aus seiner Musik eine
Heiterkeit, der wir uus gern gefangen geben, weil sie nirgends versucht, uus
über die Schmerzen des Erdendaseins hinwegzutäuschen, sondern allen Schmerz
in sich aufgenommen und aufgelöst hat. Wenn diese Tonweisen in unaufhalt¬
samer Bewegung an uns vorüberziehen, so führen sie uns samt unsern Freuden
und unsrer Trauer mit sich fort auf eine lichte Höhe; und wir empfinden die
befreiende Wirkung des Anblicks unvergänglicher Kräfte in ihrer Überlegenheit
über den lästigen Druck der vergänglichen Schranken alles Einzellebens.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0349" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214141"/>
          <fw type="header" place="top"> Mozarts Bild nach hundert Jahren</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1180" prev="#ID_1179"> höchsten in einer Eigenschaft entfaltete, in der ihn Josef Haydn eher übertrifft<lb/>
als erreicht. Andre haben Mozarts Stärke in der spielenden Bewältigung<lb/>
umfassender und verwickelter Tongebilde gefunden, und sicherlich offenbart sich<lb/>
in manchen Ensemblesätzen seiner Opern wie in dem bekannten Finale der<lb/>
Oäui'-Sinfonie eine napoleonische Verbindung größter Deutlichkeit mit größter<lb/>
Schnelligkeit einer Massenbewegung. Es ist nicht anders: auf den verschiedensten<lb/>
Gebieten weist doch das Genie dieselben Grundlinien des innern Baues auf.<lb/>
So fehlt auch jener Jmperatorenzug in dem Bilde keines großen Künstlers.<lb/>
Unter den Musikern tragen ihn wie Mozart so Händel, Bach, Gluck, Beethoven<lb/>
und Wagner mehr oder weniger ausgeprägt an sich. Schiller, dessen Gedichte<lb/>
&#x201E;Das Glück" und &#x201E;Der Genius" seinem Volke als schönster Leitfaden zum<lb/>
Verständnis echter Größe dienen würden, wenn es die herrlichen Gedanken in<lb/>
ihrer mythologischen Verkleidung zu erkennen vermöchte, Schiller, der von solchen<lb/>
Dingen als ein Wissender, weil mit der Sehergabe des Dichters spricht, läßt<lb/>
nicht von ungefähr den Vater der Menschen und Götter seinen Lieblingen anch<lb/>
die herrschaftgebeude Binde nur die Stirn flechten. Wie aber in Schillers<lb/>
Gedicht diese Binde nur eines unter vielen Attributen des Helden ist, so ist<lb/>
auch in dem Bilde Mozarts die Gabe der Auseinandersetzung und Verknüpfung,<lb/>
der ruhigen Leitung lebhaft bewegter Figuren nur eine unter vielen Ausstrah¬<lb/>
lungen der einen und unteilbaren Schaffenskraft. Und ebenso verhält es sich<lb/>
mit andern Zügen, die andern als die hervorstechendsten erscheinen. Der Tau¬<lb/>
tropfen bleibt derselbe, wenn auch sein Farbenspiel mit dem Standpunkte des<lb/>
Beschauers wechselt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1181"> Mögen aber die Elemente der Schaffenskraft noch so einfach fein und<lb/>
sich gleichbleiben, so wird doch darum nicht weniger die Gesamtthätigkeit jedes<lb/>
Meisters der Kunst &#x2014; und nicht bloß der Kunst &#x2014; durch eine persönliche<lb/>
Färbung oder Grundstimmung gekennzeichnet. Auf diese Grundstimmung der<lb/>
Mozartschen Musik bezog es sich, wenn ich vorhin sagte, daß sie am treffendsten<lb/>
mit einem Lächeln unter Thränen verglichen worden sei. Wenn Mozart sein<lb/>
Bestes giebt, wenn er ganz er selbst ist, dann spricht aus seiner Musik eine<lb/>
Heiterkeit, der wir uus gern gefangen geben, weil sie nirgends versucht, uus<lb/>
über die Schmerzen des Erdendaseins hinwegzutäuschen, sondern allen Schmerz<lb/>
in sich aufgenommen und aufgelöst hat. Wenn diese Tonweisen in unaufhalt¬<lb/>
samer Bewegung an uns vorüberziehen, so führen sie uns samt unsern Freuden<lb/>
und unsrer Trauer mit sich fort auf eine lichte Höhe; und wir empfinden die<lb/>
befreiende Wirkung des Anblicks unvergänglicher Kräfte in ihrer Überlegenheit<lb/>
über den lästigen Druck der vergänglichen Schranken alles Einzellebens.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0349] Mozarts Bild nach hundert Jahren höchsten in einer Eigenschaft entfaltete, in der ihn Josef Haydn eher übertrifft als erreicht. Andre haben Mozarts Stärke in der spielenden Bewältigung umfassender und verwickelter Tongebilde gefunden, und sicherlich offenbart sich in manchen Ensemblesätzen seiner Opern wie in dem bekannten Finale der Oäui'-Sinfonie eine napoleonische Verbindung größter Deutlichkeit mit größter Schnelligkeit einer Massenbewegung. Es ist nicht anders: auf den verschiedensten Gebieten weist doch das Genie dieselben Grundlinien des innern Baues auf. So fehlt auch jener Jmperatorenzug in dem Bilde keines großen Künstlers. Unter den Musikern tragen ihn wie Mozart so Händel, Bach, Gluck, Beethoven und Wagner mehr oder weniger ausgeprägt an sich. Schiller, dessen Gedichte „Das Glück" und „Der Genius" seinem Volke als schönster Leitfaden zum Verständnis echter Größe dienen würden, wenn es die herrlichen Gedanken in ihrer mythologischen Verkleidung zu erkennen vermöchte, Schiller, der von solchen Dingen als ein Wissender, weil mit der Sehergabe des Dichters spricht, läßt nicht von ungefähr den Vater der Menschen und Götter seinen Lieblingen anch die herrschaftgebeude Binde nur die Stirn flechten. Wie aber in Schillers Gedicht diese Binde nur eines unter vielen Attributen des Helden ist, so ist auch in dem Bilde Mozarts die Gabe der Auseinandersetzung und Verknüpfung, der ruhigen Leitung lebhaft bewegter Figuren nur eine unter vielen Ausstrah¬ lungen der einen und unteilbaren Schaffenskraft. Und ebenso verhält es sich mit andern Zügen, die andern als die hervorstechendsten erscheinen. Der Tau¬ tropfen bleibt derselbe, wenn auch sein Farbenspiel mit dem Standpunkte des Beschauers wechselt. Mögen aber die Elemente der Schaffenskraft noch so einfach fein und sich gleichbleiben, so wird doch darum nicht weniger die Gesamtthätigkeit jedes Meisters der Kunst — und nicht bloß der Kunst — durch eine persönliche Färbung oder Grundstimmung gekennzeichnet. Auf diese Grundstimmung der Mozartschen Musik bezog es sich, wenn ich vorhin sagte, daß sie am treffendsten mit einem Lächeln unter Thränen verglichen worden sei. Wenn Mozart sein Bestes giebt, wenn er ganz er selbst ist, dann spricht aus seiner Musik eine Heiterkeit, der wir uus gern gefangen geben, weil sie nirgends versucht, uus über die Schmerzen des Erdendaseins hinwegzutäuschen, sondern allen Schmerz in sich aufgenommen und aufgelöst hat. Wenn diese Tonweisen in unaufhalt¬ samer Bewegung an uns vorüberziehen, so führen sie uns samt unsern Freuden und unsrer Trauer mit sich fort auf eine lichte Höhe; und wir empfinden die befreiende Wirkung des Anblicks unvergänglicher Kräfte in ihrer Überlegenheit über den lästigen Druck der vergänglichen Schranken alles Einzellebens.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/349
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/349>, abgerufen am 01.09.2024.