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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Mozarts Bild nach hundert Jahren

Die Masse des Publikums ist auch in dieser Frage schnell mit ihrem
Urteil fertig. Ohne Rücksicht auf den lauten Widerspruch ihres ganzen Wesens
wird die Oper in den Begriff des einheitlichen Kunstwerks hineingezwängt
und alles Ernstes als ein "Drama mit Musik" genossen und beurteilt. Was
auf der Bühne vorgeht, ist die Hauptsache, das Auge das Organ, mit dem
das Werk hauptsächlich wahrgenommen wird. "Sie sitzen schon mit hoch-
gezognen Braunen gelassen da und möchten gern erstaunen." Das arme Ohr
ist gerade gut genug, die auf der Bühne gesungueu Worte in Empfang zu
nehmen und nach Erhebung eines billigen Entgelts für die Weiterbeför¬
derung, den das stumpfe Organ den eindringenden Gesängen in Gestalt eines
unbestimmten Kitzels abnimmt, sie ihrem vermeintlichen Bestimmungsorte, dem
Verstände, zuzuführen. Von der eigentlichen musikalischen Verrichtung des Ge¬
hörwerkzeugs, dem Aufnehmen und Festhalten der Tonfolge und des Akkords
als der musikalischen Linie und Farbe, die zusammen das Tonbild herstellen,
von solcher Verrichtung bleibt die Mehrzahl der Opernbcsucher gänzlich un¬
angefochten. Kein Wunder, wenn das Beste, was sie von Mozarts Opern zu
sagen wissen, auf die stereotype Bemerkung hinausläuft: die Musik ist ja sehr
nett; wenn nur die Texte nicht so albern wären.

Denn das ist freilich mit Händen zu greifen, daß einnnddieselbe Hand¬
lung in wesentlich verschiedne Formen gegossen werden muß, wenn sie den
Stoff eines Dramas bilden, und wenn sie die Unterlage zu der Komposition
eines Tonwerth hergeben soll. Wem daher die Möglichkeit des letztern Zwecks:
die selbständige, insbesondre vom Drama unabhängige Bedeutung der Oper
als einer nicht poetischen, sondern musikalischen Kunstform überhaupt noch nicht
zum Bewußtsein gekommen ist, der muß sicherlich, indem er an den Operntext
den Maßstab einer dramatischen Dichtung anlegt, im Ganzen wie in den Einzel¬
heiten zu wunderlichen Ergebnissen gelangen. Es ist hier nicht der Ort, zu
zeigen, daß die Erfordernisse eines Dramas und eines Opernlibrettos in weitem
Umfange von gegensätzlicher Beschaffenheit sind. Wir begnügen uns mit der
bescheidnern Feststellung, daß beide ihrem Wesen nach nicht gleich sein können;
sowenig wie dramatische Dichtung und Musik gleich sind. Wo sich immer die
Musik mit der Poesie verbindet, wird sie sich mit Vorliebe dem Gebiete der Lyrik
zuwenden; denn aus der Einzelempsindung schöpft Musik wie Lyrik ihre letzte
Kraft. So auch umgekehrt: wo die besondern Bedürfnisse des Dramas am
vollsten befriedigt sind, ist jeder Gedanke an eine Steigerung des Eindrucks
durch eine musikalische Begleitung ausgeschlossen. Wenn in der ersten Szene
des Faust der Held den tödtlichen Trank zum Munde führt, so möchten wir
die Worte, die ihn Goethe sprechen läßt, weder in einer Mozartschen, noch in
einer Wagnerschen Tonweise gesungen hören. Keine Szene dieses Stücks vollends
würde sich einem Kompositionsversuche gegenüber spröder verhalten als gerade
sein dramatischer Höhepunkt: der Zweikampf Fausts mit Valentin. Und wes-


Mozarts Bild nach hundert Jahren

Die Masse des Publikums ist auch in dieser Frage schnell mit ihrem
Urteil fertig. Ohne Rücksicht auf den lauten Widerspruch ihres ganzen Wesens
wird die Oper in den Begriff des einheitlichen Kunstwerks hineingezwängt
und alles Ernstes als ein „Drama mit Musik" genossen und beurteilt. Was
auf der Bühne vorgeht, ist die Hauptsache, das Auge das Organ, mit dem
das Werk hauptsächlich wahrgenommen wird. „Sie sitzen schon mit hoch-
gezognen Braunen gelassen da und möchten gern erstaunen." Das arme Ohr
ist gerade gut genug, die auf der Bühne gesungueu Worte in Empfang zu
nehmen und nach Erhebung eines billigen Entgelts für die Weiterbeför¬
derung, den das stumpfe Organ den eindringenden Gesängen in Gestalt eines
unbestimmten Kitzels abnimmt, sie ihrem vermeintlichen Bestimmungsorte, dem
Verstände, zuzuführen. Von der eigentlichen musikalischen Verrichtung des Ge¬
hörwerkzeugs, dem Aufnehmen und Festhalten der Tonfolge und des Akkords
als der musikalischen Linie und Farbe, die zusammen das Tonbild herstellen,
von solcher Verrichtung bleibt die Mehrzahl der Opernbcsucher gänzlich un¬
angefochten. Kein Wunder, wenn das Beste, was sie von Mozarts Opern zu
sagen wissen, auf die stereotype Bemerkung hinausläuft: die Musik ist ja sehr
nett; wenn nur die Texte nicht so albern wären.

Denn das ist freilich mit Händen zu greifen, daß einnnddieselbe Hand¬
lung in wesentlich verschiedne Formen gegossen werden muß, wenn sie den
Stoff eines Dramas bilden, und wenn sie die Unterlage zu der Komposition
eines Tonwerth hergeben soll. Wem daher die Möglichkeit des letztern Zwecks:
die selbständige, insbesondre vom Drama unabhängige Bedeutung der Oper
als einer nicht poetischen, sondern musikalischen Kunstform überhaupt noch nicht
zum Bewußtsein gekommen ist, der muß sicherlich, indem er an den Operntext
den Maßstab einer dramatischen Dichtung anlegt, im Ganzen wie in den Einzel¬
heiten zu wunderlichen Ergebnissen gelangen. Es ist hier nicht der Ort, zu
zeigen, daß die Erfordernisse eines Dramas und eines Opernlibrettos in weitem
Umfange von gegensätzlicher Beschaffenheit sind. Wir begnügen uns mit der
bescheidnern Feststellung, daß beide ihrem Wesen nach nicht gleich sein können;
sowenig wie dramatische Dichtung und Musik gleich sind. Wo sich immer die
Musik mit der Poesie verbindet, wird sie sich mit Vorliebe dem Gebiete der Lyrik
zuwenden; denn aus der Einzelempsindung schöpft Musik wie Lyrik ihre letzte
Kraft. So auch umgekehrt: wo die besondern Bedürfnisse des Dramas am
vollsten befriedigt sind, ist jeder Gedanke an eine Steigerung des Eindrucks
durch eine musikalische Begleitung ausgeschlossen. Wenn in der ersten Szene
des Faust der Held den tödtlichen Trank zum Munde führt, so möchten wir
die Worte, die ihn Goethe sprechen läßt, weder in einer Mozartschen, noch in
einer Wagnerschen Tonweise gesungen hören. Keine Szene dieses Stücks vollends
würde sich einem Kompositionsversuche gegenüber spröder verhalten als gerade
sein dramatischer Höhepunkt: der Zweikampf Fausts mit Valentin. Und wes-


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[0342] Mozarts Bild nach hundert Jahren Die Masse des Publikums ist auch in dieser Frage schnell mit ihrem Urteil fertig. Ohne Rücksicht auf den lauten Widerspruch ihres ganzen Wesens wird die Oper in den Begriff des einheitlichen Kunstwerks hineingezwängt und alles Ernstes als ein „Drama mit Musik" genossen und beurteilt. Was auf der Bühne vorgeht, ist die Hauptsache, das Auge das Organ, mit dem das Werk hauptsächlich wahrgenommen wird. „Sie sitzen schon mit hoch- gezognen Braunen gelassen da und möchten gern erstaunen." Das arme Ohr ist gerade gut genug, die auf der Bühne gesungueu Worte in Empfang zu nehmen und nach Erhebung eines billigen Entgelts für die Weiterbeför¬ derung, den das stumpfe Organ den eindringenden Gesängen in Gestalt eines unbestimmten Kitzels abnimmt, sie ihrem vermeintlichen Bestimmungsorte, dem Verstände, zuzuführen. Von der eigentlichen musikalischen Verrichtung des Ge¬ hörwerkzeugs, dem Aufnehmen und Festhalten der Tonfolge und des Akkords als der musikalischen Linie und Farbe, die zusammen das Tonbild herstellen, von solcher Verrichtung bleibt die Mehrzahl der Opernbcsucher gänzlich un¬ angefochten. Kein Wunder, wenn das Beste, was sie von Mozarts Opern zu sagen wissen, auf die stereotype Bemerkung hinausläuft: die Musik ist ja sehr nett; wenn nur die Texte nicht so albern wären. Denn das ist freilich mit Händen zu greifen, daß einnnddieselbe Hand¬ lung in wesentlich verschiedne Formen gegossen werden muß, wenn sie den Stoff eines Dramas bilden, und wenn sie die Unterlage zu der Komposition eines Tonwerth hergeben soll. Wem daher die Möglichkeit des letztern Zwecks: die selbständige, insbesondre vom Drama unabhängige Bedeutung der Oper als einer nicht poetischen, sondern musikalischen Kunstform überhaupt noch nicht zum Bewußtsein gekommen ist, der muß sicherlich, indem er an den Operntext den Maßstab einer dramatischen Dichtung anlegt, im Ganzen wie in den Einzel¬ heiten zu wunderlichen Ergebnissen gelangen. Es ist hier nicht der Ort, zu zeigen, daß die Erfordernisse eines Dramas und eines Opernlibrettos in weitem Umfange von gegensätzlicher Beschaffenheit sind. Wir begnügen uns mit der bescheidnern Feststellung, daß beide ihrem Wesen nach nicht gleich sein können; sowenig wie dramatische Dichtung und Musik gleich sind. Wo sich immer die Musik mit der Poesie verbindet, wird sie sich mit Vorliebe dem Gebiete der Lyrik zuwenden; denn aus der Einzelempsindung schöpft Musik wie Lyrik ihre letzte Kraft. So auch umgekehrt: wo die besondern Bedürfnisse des Dramas am vollsten befriedigt sind, ist jeder Gedanke an eine Steigerung des Eindrucks durch eine musikalische Begleitung ausgeschlossen. Wenn in der ersten Szene des Faust der Held den tödtlichen Trank zum Munde führt, so möchten wir die Worte, die ihn Goethe sprechen läßt, weder in einer Mozartschen, noch in einer Wagnerschen Tonweise gesungen hören. Keine Szene dieses Stücks vollends würde sich einem Kompositionsversuche gegenüber spröder verhalten als gerade sein dramatischer Höhepunkt: der Zweikampf Fausts mit Valentin. Und wes-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/342>, abgerufen am 28.09.2024.