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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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jenes künstlerischen Gesetzes, sondern zuletzt doch zum eignen Schaden ihrer
Werke. Mir ist kein Tonwerk bekannt, das durch rein musikalische Mittel die
Liebe wie den Haß, die beiden Pole derselben Leidenschaft, mit gleicher Kühnheit
und Schönheit vergegenständlichte wie Mozarts Don Juan. Fast möchte ich
in dieser Beziehung den weiblichen Rollen der Oper vor der des Helden noch
den Vorzug geben. In der musikalischen Charakteristik Don Juans stehen
dank der naiven Anschauung des Komponisten nicht der dämonische Zug der
bis zur Selbstvernichtung vorwärts drängenden Genußsucht, sondern der be¬
strickende Zauber und der tolle Übermut des Verführers im Vordergründe.
Aber die Rollen der Anna und der Elvira durchweht die lodernde Glut der
Leidenschaft. Daneben bringt auch diese Oper in den Gestalten Leporellos,
Zerlinens und Masettvs die an Cervantes und Shakespeare gemahnende Vor¬
liebe Mozarts für den Kontrast zum Ausdruck -- eine von der Vielseitigkeit
anscheinend unzertrennliche Neigung. Sie verrät zugleich den ausgebildeten
Instinkt des Künstlers für die Grenzen der Aufnahmefähigkeit des Hörers
oder Zuschauers. Das ungemischte Pathos ermüdet immer, den feinen Geist
noch schneller als den stumpfen. So ließen die - Alten auf ihre Tragödie das
Satyrspiel folgen; und die fortschreitende Technik späterer Jahrhunderte flocht
beide in einander.

Vergebens sah sich nach der Vollendung des Don Juan der Künstler in
der Außenwelt nach einem größern Stoffe um. Noch aber lag in der Tiefe
seines Innenlebens ein unentdeckter Golvschacht.

Hinsichtlich des Textes war schon im Don Juan der Boden der vollen
Wirklichkeit, aus dem sich Figaros Hochzeit bewegte, verlassen und mit einer
entschiednen Wendung das Reich der Phantasie betreten worden. Der Stoff
des Figaro war einem zeitgenössischen Lustspiele, der des Don Juan der Sage
entlehnt, einer Sage, die man, wohl ohne Anwendung von Gewalt, als die
Faustsage der romanischen Welt bezeichnet hat. Der Weg des Künstlers von
der Wirklichkeit zur Sage führt in gerader Fortsetzung in das Märchenreich
zurück. Ihm entstammen die Gestalten der Zauberflöte.

Uns Deutschen ist es eine längst vertraute und lieb gewordne Vorstellung,
daß sich in der traumhaften Wunderwelt des Märchens die ursprünglichsten,
heimlichsten Bilder der Volksseele wiederspiegeln. Als sich Mozarts Künstler¬
hand des Märchenstoffes der Zauberflöte bemächtigte, war die Vereinigung
der beiden Ströme vollzogen, mit deren Bilde wir versucht haben uns die
Entwicklung der Tonkunst aus dem Elemente der Form und aus dem der
Empfindung zu veranschaulichen. Und gleichzeitig hatte Mozarts Eigentüm¬
lichkeit den höchsten und freiesten Raum für ihre Entfaltung gewonnen.

Es wird gut sein, vor weiteren Eingehen auf die Zauberflöte die her¬
kömmliche Auffassung von dem Verhältnis zwischen Musik und Text in Mo¬
zarts Opern kurz ins Auge zu fassen.


jenes künstlerischen Gesetzes, sondern zuletzt doch zum eignen Schaden ihrer
Werke. Mir ist kein Tonwerk bekannt, das durch rein musikalische Mittel die
Liebe wie den Haß, die beiden Pole derselben Leidenschaft, mit gleicher Kühnheit
und Schönheit vergegenständlichte wie Mozarts Don Juan. Fast möchte ich
in dieser Beziehung den weiblichen Rollen der Oper vor der des Helden noch
den Vorzug geben. In der musikalischen Charakteristik Don Juans stehen
dank der naiven Anschauung des Komponisten nicht der dämonische Zug der
bis zur Selbstvernichtung vorwärts drängenden Genußsucht, sondern der be¬
strickende Zauber und der tolle Übermut des Verführers im Vordergründe.
Aber die Rollen der Anna und der Elvira durchweht die lodernde Glut der
Leidenschaft. Daneben bringt auch diese Oper in den Gestalten Leporellos,
Zerlinens und Masettvs die an Cervantes und Shakespeare gemahnende Vor¬
liebe Mozarts für den Kontrast zum Ausdruck — eine von der Vielseitigkeit
anscheinend unzertrennliche Neigung. Sie verrät zugleich den ausgebildeten
Instinkt des Künstlers für die Grenzen der Aufnahmefähigkeit des Hörers
oder Zuschauers. Das ungemischte Pathos ermüdet immer, den feinen Geist
noch schneller als den stumpfen. So ließen die - Alten auf ihre Tragödie das
Satyrspiel folgen; und die fortschreitende Technik späterer Jahrhunderte flocht
beide in einander.

Vergebens sah sich nach der Vollendung des Don Juan der Künstler in
der Außenwelt nach einem größern Stoffe um. Noch aber lag in der Tiefe
seines Innenlebens ein unentdeckter Golvschacht.

Hinsichtlich des Textes war schon im Don Juan der Boden der vollen
Wirklichkeit, aus dem sich Figaros Hochzeit bewegte, verlassen und mit einer
entschiednen Wendung das Reich der Phantasie betreten worden. Der Stoff
des Figaro war einem zeitgenössischen Lustspiele, der des Don Juan der Sage
entlehnt, einer Sage, die man, wohl ohne Anwendung von Gewalt, als die
Faustsage der romanischen Welt bezeichnet hat. Der Weg des Künstlers von
der Wirklichkeit zur Sage führt in gerader Fortsetzung in das Märchenreich
zurück. Ihm entstammen die Gestalten der Zauberflöte.

Uns Deutschen ist es eine längst vertraute und lieb gewordne Vorstellung,
daß sich in der traumhaften Wunderwelt des Märchens die ursprünglichsten,
heimlichsten Bilder der Volksseele wiederspiegeln. Als sich Mozarts Künstler¬
hand des Märchenstoffes der Zauberflöte bemächtigte, war die Vereinigung
der beiden Ströme vollzogen, mit deren Bilde wir versucht haben uns die
Entwicklung der Tonkunst aus dem Elemente der Form und aus dem der
Empfindung zu veranschaulichen. Und gleichzeitig hatte Mozarts Eigentüm¬
lichkeit den höchsten und freiesten Raum für ihre Entfaltung gewonnen.

Es wird gut sein, vor weiteren Eingehen auf die Zauberflöte die her¬
kömmliche Auffassung von dem Verhältnis zwischen Musik und Text in Mo¬
zarts Opern kurz ins Auge zu fassen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/341>, abgerufen am 01.09.2024.