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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Bibelrevision und Bibelübersetzung

Aber wenn auch noch vieles zu wünschen übrig bleibt, anerkannt muß
werden, daß die neue Bibel das Verständnis vieler Stellen wesentlich erleichtert
und manchen Fehler der Übersetzung Luthers beseitigt hat, und hierin ist jeder
Fortschritt mit Freuden zu begrüßen. Hoffentlich wird in nicht allzu ferner
Zeit durch eine neue Revision das Werk vollendet werden. Die Lutherbibel
wird von ihrer Kraft und Schönheit nichts verlieren, wenn sie, von allen
Übersetzungsfehlern befreit, in unsrer Sprache zu uns redet. --

Da die neue Lutherbibel die Ansprüche auf Nichtigkeit und Verständlich¬
keit, die man an eine Übersetzung stellen muß, uicht genügend befriedigt, so
ist es um so erfreulicher, daß diesen: Bedürfnis neue Bibelübersetzungen in
unsrer Zeit entgegenkommen.

Für das Neue Testament haben wir die vortreffliche Übersetzung von
v. Carl Weizsäcker, deren neu bearbeitete fünfte Auflage vorm Jahre bei Mohr
in Freiburg i. B. erschiene" ist. Das ist eine streng wissenschaftliche Über¬
tragung in einem wenn auch nicht mustergiltigen, so doch verstündlichen
Deutsch, bei der die Ergebnisse der modernen Kritik und Exegese gewissenhaft
verwertet worden sind, ohne Zweifel wissenschaftlich die beste Übersetzung des
Neuen Testaments, die wir bis jetzt haben. Zu Grnnde liegt der griechische
Text Tischendorfs, doch hat der Verfcisfer auch die Ergebnisse eigner For¬
schungen verwertet. Durch den Druck sind die Stichwörter einzelner Abschnitte,
die Zitate ans dem Alten Testament und Worte, die als Zitate aus audern
Quellen aufzufassen sind, hervorgehoben und unterschieden. Die Vers- und
Kapitelteilnng ist an den Rand gesetzt.

In der neuen Auflage ist eine textkritische Veränderung vou einiger Wich¬
tigkeit. Luk. 3, 22 lautete bisher: ,,Du bist mein geliebter Sohn; an dir habe
ich Wohlgefallen." In der neuen Auflage hat Weizsäcker eine andre Lesart
vorgezogen: ,,Du bist mein Sohn; ich habe dich heute gezeugt." Ob die Be¬
vorzugung dieser Lesart, die allerdings gut belegt ist, gerechtfertigt ist, muß
hier unentschieden bleiben. Jedenfalls zeigt diese Lesart, daß die Prophezeiung
im 2. Psalm in der alten Kirche auch auf die Taufe Christi bezogen wurde,
sodaß sie als die Zeugung des Messias aufgefaßt wurde.

Was die Richtigkeit der Übersetzung betrifft, so versteht es sich von selbst,
daß bei sehr vielen Stellei? eine andre Auffassung möglich ist. Im allge¬
meinen wird man aber der Übersetzung Weizsäckers zugestehen müssen, daß sie
fern von exegetischen Künsteleien ohne Voreingenommenheit den wirklichen Sinn
des Textes, wie ihn Wortlaut und Zusammenhang fordern, zu erschließen
sucht. Bisweilen ist sie allerdings von der hergebrachten Auffassung, die man
aus der Lutherbibel gewohnt ist, sehr verschieden. Im Weihnachtsevaugelium
lautet der Lobgesang der Engel nach dem jedenfalls richtigern Texte Tischen¬
dorfs: "Preis sei in der Höhe Gott, und auf Erden Frieden unter den Menschen
des Wohlgefallens." Das bekannte Wort Christi, das er bei der Hochzeit


Grenzboten I 1893 40
Bibelrevision und Bibelübersetzung

Aber wenn auch noch vieles zu wünschen übrig bleibt, anerkannt muß
werden, daß die neue Bibel das Verständnis vieler Stellen wesentlich erleichtert
und manchen Fehler der Übersetzung Luthers beseitigt hat, und hierin ist jeder
Fortschritt mit Freuden zu begrüßen. Hoffentlich wird in nicht allzu ferner
Zeit durch eine neue Revision das Werk vollendet werden. Die Lutherbibel
wird von ihrer Kraft und Schönheit nichts verlieren, wenn sie, von allen
Übersetzungsfehlern befreit, in unsrer Sprache zu uns redet. —

Da die neue Lutherbibel die Ansprüche auf Nichtigkeit und Verständlich¬
keit, die man an eine Übersetzung stellen muß, uicht genügend befriedigt, so
ist es um so erfreulicher, daß diesen: Bedürfnis neue Bibelübersetzungen in
unsrer Zeit entgegenkommen.

Für das Neue Testament haben wir die vortreffliche Übersetzung von
v. Carl Weizsäcker, deren neu bearbeitete fünfte Auflage vorm Jahre bei Mohr
in Freiburg i. B. erschiene« ist. Das ist eine streng wissenschaftliche Über¬
tragung in einem wenn auch nicht mustergiltigen, so doch verstündlichen
Deutsch, bei der die Ergebnisse der modernen Kritik und Exegese gewissenhaft
verwertet worden sind, ohne Zweifel wissenschaftlich die beste Übersetzung des
Neuen Testaments, die wir bis jetzt haben. Zu Grnnde liegt der griechische
Text Tischendorfs, doch hat der Verfcisfer auch die Ergebnisse eigner For¬
schungen verwertet. Durch den Druck sind die Stichwörter einzelner Abschnitte,
die Zitate ans dem Alten Testament und Worte, die als Zitate aus audern
Quellen aufzufassen sind, hervorgehoben und unterschieden. Die Vers- und
Kapitelteilnng ist an den Rand gesetzt.

In der neuen Auflage ist eine textkritische Veränderung vou einiger Wich¬
tigkeit. Luk. 3, 22 lautete bisher: ,,Du bist mein geliebter Sohn; an dir habe
ich Wohlgefallen." In der neuen Auflage hat Weizsäcker eine andre Lesart
vorgezogen: ,,Du bist mein Sohn; ich habe dich heute gezeugt." Ob die Be¬
vorzugung dieser Lesart, die allerdings gut belegt ist, gerechtfertigt ist, muß
hier unentschieden bleiben. Jedenfalls zeigt diese Lesart, daß die Prophezeiung
im 2. Psalm in der alten Kirche auch auf die Taufe Christi bezogen wurde,
sodaß sie als die Zeugung des Messias aufgefaßt wurde.

Was die Richtigkeit der Übersetzung betrifft, so versteht es sich von selbst,
daß bei sehr vielen Stellei? eine andre Auffassung möglich ist. Im allge¬
meinen wird man aber der Übersetzung Weizsäckers zugestehen müssen, daß sie
fern von exegetischen Künsteleien ohne Voreingenommenheit den wirklichen Sinn
des Textes, wie ihn Wortlaut und Zusammenhang fordern, zu erschließen
sucht. Bisweilen ist sie allerdings von der hergebrachten Auffassung, die man
aus der Lutherbibel gewohnt ist, sehr verschieden. Im Weihnachtsevaugelium
lautet der Lobgesang der Engel nach dem jedenfalls richtigern Texte Tischen¬
dorfs: „Preis sei in der Höhe Gott, und auf Erden Frieden unter den Menschen
des Wohlgefallens." Das bekannte Wort Christi, das er bei der Hochzeit


Grenzboten I 1893 40
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[0323] Bibelrevision und Bibelübersetzung Aber wenn auch noch vieles zu wünschen übrig bleibt, anerkannt muß werden, daß die neue Bibel das Verständnis vieler Stellen wesentlich erleichtert und manchen Fehler der Übersetzung Luthers beseitigt hat, und hierin ist jeder Fortschritt mit Freuden zu begrüßen. Hoffentlich wird in nicht allzu ferner Zeit durch eine neue Revision das Werk vollendet werden. Die Lutherbibel wird von ihrer Kraft und Schönheit nichts verlieren, wenn sie, von allen Übersetzungsfehlern befreit, in unsrer Sprache zu uns redet. — Da die neue Lutherbibel die Ansprüche auf Nichtigkeit und Verständlich¬ keit, die man an eine Übersetzung stellen muß, uicht genügend befriedigt, so ist es um so erfreulicher, daß diesen: Bedürfnis neue Bibelübersetzungen in unsrer Zeit entgegenkommen. Für das Neue Testament haben wir die vortreffliche Übersetzung von v. Carl Weizsäcker, deren neu bearbeitete fünfte Auflage vorm Jahre bei Mohr in Freiburg i. B. erschiene« ist. Das ist eine streng wissenschaftliche Über¬ tragung in einem wenn auch nicht mustergiltigen, so doch verstündlichen Deutsch, bei der die Ergebnisse der modernen Kritik und Exegese gewissenhaft verwertet worden sind, ohne Zweifel wissenschaftlich die beste Übersetzung des Neuen Testaments, die wir bis jetzt haben. Zu Grnnde liegt der griechische Text Tischendorfs, doch hat der Verfcisfer auch die Ergebnisse eigner For¬ schungen verwertet. Durch den Druck sind die Stichwörter einzelner Abschnitte, die Zitate ans dem Alten Testament und Worte, die als Zitate aus audern Quellen aufzufassen sind, hervorgehoben und unterschieden. Die Vers- und Kapitelteilnng ist an den Rand gesetzt. In der neuen Auflage ist eine textkritische Veränderung vou einiger Wich¬ tigkeit. Luk. 3, 22 lautete bisher: ,,Du bist mein geliebter Sohn; an dir habe ich Wohlgefallen." In der neuen Auflage hat Weizsäcker eine andre Lesart vorgezogen: ,,Du bist mein Sohn; ich habe dich heute gezeugt." Ob die Be¬ vorzugung dieser Lesart, die allerdings gut belegt ist, gerechtfertigt ist, muß hier unentschieden bleiben. Jedenfalls zeigt diese Lesart, daß die Prophezeiung im 2. Psalm in der alten Kirche auch auf die Taufe Christi bezogen wurde, sodaß sie als die Zeugung des Messias aufgefaßt wurde. Was die Richtigkeit der Übersetzung betrifft, so versteht es sich von selbst, daß bei sehr vielen Stellei? eine andre Auffassung möglich ist. Im allge¬ meinen wird man aber der Übersetzung Weizsäckers zugestehen müssen, daß sie fern von exegetischen Künsteleien ohne Voreingenommenheit den wirklichen Sinn des Textes, wie ihn Wortlaut und Zusammenhang fordern, zu erschließen sucht. Bisweilen ist sie allerdings von der hergebrachten Auffassung, die man aus der Lutherbibel gewohnt ist, sehr verschieden. Im Weihnachtsevaugelium lautet der Lobgesang der Engel nach dem jedenfalls richtigern Texte Tischen¬ dorfs: „Preis sei in der Höhe Gott, und auf Erden Frieden unter den Menschen des Wohlgefallens." Das bekannte Wort Christi, das er bei der Hochzeit Grenzboten I 1893 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/323>, abgerufen am 31.01.2025.