Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.Mozarts Bild nach hundert Jahren Anschauung und Gestaltung bezeichnet. Die behandelten Stoffe haben noch Wie jedoch große Gebirgszüge mir selten eine einzige höchste Erhebung Dann aber neigt sich die Linie abwärts. Es ist wenig daran gelegen, Ein Mißverhältnis zwischen Inhalt und Form zu Ungunsten der Form Mozarts Bild nach hundert Jahren Anschauung und Gestaltung bezeichnet. Die behandelten Stoffe haben noch Wie jedoch große Gebirgszüge mir selten eine einzige höchste Erhebung Dann aber neigt sich die Linie abwärts. Es ist wenig daran gelegen, Ein Mißverhältnis zwischen Inhalt und Form zu Ungunsten der Form <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0300" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214092"/> <fw type="header" place="top"> Mozarts Bild nach hundert Jahren</fw><lb/> <p xml:id="ID_1037" prev="#ID_1036"> Anschauung und Gestaltung bezeichnet. Die behandelten Stoffe haben noch<lb/> nichts von der Große und Ungezwungenheit der ersten Periode eingebüßt:<lb/> aber sie lasten nicht mehr auf einer sie mühsam bewältigenden Darstellung:<lb/> diese ist zur vollen Beherrschung ihrer Mittel gelaugt und jedem Vorwurf<lb/> gewachsen. Bedeutsamkeit des Gegenstandes und Schönheit der Form reichen<lb/> auf gleicher Stufe einander die Hand und führen die Kunst ihrer Vollen¬<lb/> dung zu.</p><lb/> <p xml:id="ID_1038"> Wie jedoch große Gebirgszüge mir selten eine einzige höchste Erhebung<lb/> ausweisen, die unbestreitbar den Scheitelpunkt der ganzen Kette darstellt, viel¬<lb/> mehr die meisten von ihnen zu einer aus mehreren Gipfeln gebildeten krönenden<lb/> Gruppe hinansteigen, so erreicht auch die einzelne Kunst die höchsten Grenzen<lb/> ihres Leistungsvermögens nicht oft in den Werke» eines einzigen Künstlers,<lb/> lind selbst wo dies der Fall ist, Pflegt diesen einzigen eine krönende Gruppe<lb/> von Kunstgenossen in örtlich und zeitlich nahen Grenzen zu umgeben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1039"> Dann aber neigt sich die Linie abwärts. Es ist wenig daran gelegen,<lb/> den Punkt zu bestimmen, wo der Verfall beginnt; denu diese Bestimmung muß<lb/> nach dem verschiednen Standorte der Beschauer verschieden ausfallen. Ware<lb/> es möglich, in mathematischer Weise die höchste Erhebung zu ermitteln, so<lb/> würde in ihr auch der Puukt gefunden sein, wo die Senkung einsetzt. So<lb/> buchstäblich wahr ist es, wenn man sagt, daß jede höchste Kmfteutfaltung den<lb/> Beginn des Verfalls in sich schließe. Allein eben die mathematische Ausmessung<lb/> eines Scheitelpunkts ist geistigen Hervorbringungen gegenüber unausführbar.<lb/> Der geschichtlichen und somit auch der kunstgeschichtlichen Betrachtung sind solche<lb/> mechanische Feststellungen unbekannt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1040" next="#ID_1041"> Ein Mißverhältnis zwischen Inhalt und Form zu Ungunsten der Form<lb/> kennzeichnet deu Anfang jeder Kunst. Dieses Mißverhältnis nimmt mit ge¬<lb/> ringen Schwankungen stetig ub, bis in der Ausgleichung zwischen Form und<lb/> Inhalt die Kunst ihre Blüte entfaltet. Beide Elemente der Entwicklung — In¬<lb/> halt und Form, wenn die Wirkung, Anschauung und Darstellung, wenn die<lb/> Ursache benannt werden soll — treffen in der Blüteperivde zusammen, ohne<lb/> in ihrem Gange innezuhalten oder die bisherige Richtung ihrer Bewegung auf¬<lb/> zugeben, und müssen folglich nach einer mehr oder weniger kurzen Vereinigung<lb/> wieder aus einander gehn. An der Stelle, wo ihre Trennung in den Kunst¬<lb/> werken des Zeitalters von neuem zu Tage tritt, liegt der Übergang von der<lb/> Blütezeit, der sogenannten Klassizität, zur Periode des Verfalls. Mit andern<lb/> Worten: ebenso wie die Anfänge, wird anch der Verfall einer Kunst durch ein<lb/> Mißverhältnis zwischen Inhalt und Form gekennzeichnet. Nur besteht es hier<lb/> zu Ungunsten des Inhalts, und während es sich mit der fortschreitenden Ent¬<lb/> wicklung zum Scheitel hin allmählich verringerte, nimmt es nunmehr mit wach¬<lb/> sender Entfernung vom Scheitel — selbstverständlich durch mannichfaltige<lb/> Schwankungen unterbrochen — im ganzen doch stetig zu. Dort sahen wir</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0300]
Mozarts Bild nach hundert Jahren
Anschauung und Gestaltung bezeichnet. Die behandelten Stoffe haben noch
nichts von der Große und Ungezwungenheit der ersten Periode eingebüßt:
aber sie lasten nicht mehr auf einer sie mühsam bewältigenden Darstellung:
diese ist zur vollen Beherrschung ihrer Mittel gelaugt und jedem Vorwurf
gewachsen. Bedeutsamkeit des Gegenstandes und Schönheit der Form reichen
auf gleicher Stufe einander die Hand und führen die Kunst ihrer Vollen¬
dung zu.
Wie jedoch große Gebirgszüge mir selten eine einzige höchste Erhebung
ausweisen, die unbestreitbar den Scheitelpunkt der ganzen Kette darstellt, viel¬
mehr die meisten von ihnen zu einer aus mehreren Gipfeln gebildeten krönenden
Gruppe hinansteigen, so erreicht auch die einzelne Kunst die höchsten Grenzen
ihres Leistungsvermögens nicht oft in den Werke» eines einzigen Künstlers,
lind selbst wo dies der Fall ist, Pflegt diesen einzigen eine krönende Gruppe
von Kunstgenossen in örtlich und zeitlich nahen Grenzen zu umgeben.
Dann aber neigt sich die Linie abwärts. Es ist wenig daran gelegen,
den Punkt zu bestimmen, wo der Verfall beginnt; denu diese Bestimmung muß
nach dem verschiednen Standorte der Beschauer verschieden ausfallen. Ware
es möglich, in mathematischer Weise die höchste Erhebung zu ermitteln, so
würde in ihr auch der Puukt gefunden sein, wo die Senkung einsetzt. So
buchstäblich wahr ist es, wenn man sagt, daß jede höchste Kmfteutfaltung den
Beginn des Verfalls in sich schließe. Allein eben die mathematische Ausmessung
eines Scheitelpunkts ist geistigen Hervorbringungen gegenüber unausführbar.
Der geschichtlichen und somit auch der kunstgeschichtlichen Betrachtung sind solche
mechanische Feststellungen unbekannt.
Ein Mißverhältnis zwischen Inhalt und Form zu Ungunsten der Form
kennzeichnet deu Anfang jeder Kunst. Dieses Mißverhältnis nimmt mit ge¬
ringen Schwankungen stetig ub, bis in der Ausgleichung zwischen Form und
Inhalt die Kunst ihre Blüte entfaltet. Beide Elemente der Entwicklung — In¬
halt und Form, wenn die Wirkung, Anschauung und Darstellung, wenn die
Ursache benannt werden soll — treffen in der Blüteperivde zusammen, ohne
in ihrem Gange innezuhalten oder die bisherige Richtung ihrer Bewegung auf¬
zugeben, und müssen folglich nach einer mehr oder weniger kurzen Vereinigung
wieder aus einander gehn. An der Stelle, wo ihre Trennung in den Kunst¬
werken des Zeitalters von neuem zu Tage tritt, liegt der Übergang von der
Blütezeit, der sogenannten Klassizität, zur Periode des Verfalls. Mit andern
Worten: ebenso wie die Anfänge, wird anch der Verfall einer Kunst durch ein
Mißverhältnis zwischen Inhalt und Form gekennzeichnet. Nur besteht es hier
zu Ungunsten des Inhalts, und während es sich mit der fortschreitenden Ent¬
wicklung zum Scheitel hin allmählich verringerte, nimmt es nunmehr mit wach¬
sender Entfernung vom Scheitel — selbstverständlich durch mannichfaltige
Schwankungen unterbrochen — im ganzen doch stetig zu. Dort sahen wir
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