Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vor der Entscheidung

Linie die Geschäfte Englands besorgen! Der Bestand Österreichs ist eine Lebens¬
frage für Deutschland, aber das russische Krenz ans der Sophienkirche darf
uns keine Kopfschmerzen bereiten.

Aber wir wollen annehmen, daß wir den Krieg auf zwei Fronten führen
müßten, allerdings im Bunde mit Österreich. Auch das braucht uns nicht zu
erschrecken. Friedrich der Große hat mit der schwachen und unzuverlässigen
Unterstützung Englands gegen drei Großmächte gerungen, von denen jede weit
stärker war als er, und er hat im Friedensschlüsse nicht einen Fuß breit
seines Gebiets verloren. Und Graf Moltke war auf den Fall eines gleich¬
zeitigen Krieges gegen Frankreich und Rußland mit der jetzigen Heeresftürke
vollständig gerüstet. Er hat es 1879 für möglich erklärt, im Bunde mit
Österreich durch einen raschen Vorstoß erst mit Rußland fertig zu werden
und uns Frankreich gegenüber so lange aus die Verteidigung zu beschränken.
Auch das Umgekehrte wäre vielleicht denkbar, daß wir erst durch einen kräf¬
tigen Angriff mit Frankreich abrechneten und uns bis zu diesem Zeitpunkte
gegen Rußland auf die Verteidigung beschränkten. Was eine solche unter Um¬
ständen vermag, wie furchtbare Opfer sie dem Angreifer auferlegen kaun, das
haben die Russen selbst bei Sewastopol und am Schipkapassc bewiesen, vor
Plewna erfahren. Es darf dabei doch auch uicht vergessen werden, daß ja
der russische Vormarsch gegen Deutschland von Ostpreußen und vou Galizien
her in der Flanke bedroht wird, also ein sehr schwieriges Unternehmen ist,
und daß umgekehrt ein deutsch-österreichischer Angriff auf Rußland sich schwer¬
lich das Ziel setzen würde, ans Moskau vorzudringen und vermutlich höchstens
bis an die Pripetsümpfe, die natürliche Grenze zwischen Polen und Rußland,
kommen würde. Denn die Stärke Rußlands liegt nach Landes- und Volksnrt
in der Verteidigung.

Es müßte also der Beweis geführt werden, daß unsre bisherige Heeres-
stnrke für die eben bezeichnete Doppelaufgabe nicht genügte, selbstverständlich
unter der Voraussetzung, daß Österreich zu uns steht, denn Deutschland allein
wird an Truppeuzahl deu Franzosen und Russen niemals gleichkommen. Aller¬
dings kommen nicht nur die Zahlen in Betracht, sondern offenbar ebenso
sehr die Schnelligkeit der Mobilisirung und des Aufmarsches, der innere Zu¬
sammenhalt des Heeres und die Führung. In allen diesen Dingen sind wir aber
den Franzosen mindestens gewachsen, in einzelnen sogar vielleicht überlegen,
den Russen sicher überlegen, ohne daß die Tüchtigkeit des russischen Soldaten,
die sich auf Hunderten von Schlachtfeldern bewährt hat, damit irgendwie in
Frage gestellt würde. Wir vermissen außerdem in den bisherigen offiziösen
und amtlichen Auslassungen ein gewisses Etwas, den Ton der festen Zuversicht
auf die sittliche Kraft und die Vaterlandsliebe unsers Volks, den frohen
Glanben an die Macht der "Imponderabilien." Statt dessen macht sich eine
gewisse Ängstlichkeit, ein gewisser Kleinmut bemerklich. Und doch sind es noch


vor der Entscheidung

Linie die Geschäfte Englands besorgen! Der Bestand Österreichs ist eine Lebens¬
frage für Deutschland, aber das russische Krenz ans der Sophienkirche darf
uns keine Kopfschmerzen bereiten.

Aber wir wollen annehmen, daß wir den Krieg auf zwei Fronten führen
müßten, allerdings im Bunde mit Österreich. Auch das braucht uns nicht zu
erschrecken. Friedrich der Große hat mit der schwachen und unzuverlässigen
Unterstützung Englands gegen drei Großmächte gerungen, von denen jede weit
stärker war als er, und er hat im Friedensschlüsse nicht einen Fuß breit
seines Gebiets verloren. Und Graf Moltke war auf den Fall eines gleich¬
zeitigen Krieges gegen Frankreich und Rußland mit der jetzigen Heeresftürke
vollständig gerüstet. Er hat es 1879 für möglich erklärt, im Bunde mit
Österreich durch einen raschen Vorstoß erst mit Rußland fertig zu werden
und uns Frankreich gegenüber so lange aus die Verteidigung zu beschränken.
Auch das Umgekehrte wäre vielleicht denkbar, daß wir erst durch einen kräf¬
tigen Angriff mit Frankreich abrechneten und uns bis zu diesem Zeitpunkte
gegen Rußland auf die Verteidigung beschränkten. Was eine solche unter Um¬
ständen vermag, wie furchtbare Opfer sie dem Angreifer auferlegen kaun, das
haben die Russen selbst bei Sewastopol und am Schipkapassc bewiesen, vor
Plewna erfahren. Es darf dabei doch auch uicht vergessen werden, daß ja
der russische Vormarsch gegen Deutschland von Ostpreußen und vou Galizien
her in der Flanke bedroht wird, also ein sehr schwieriges Unternehmen ist,
und daß umgekehrt ein deutsch-österreichischer Angriff auf Rußland sich schwer¬
lich das Ziel setzen würde, ans Moskau vorzudringen und vermutlich höchstens
bis an die Pripetsümpfe, die natürliche Grenze zwischen Polen und Rußland,
kommen würde. Denn die Stärke Rußlands liegt nach Landes- und Volksnrt
in der Verteidigung.

Es müßte also der Beweis geführt werden, daß unsre bisherige Heeres-
stnrke für die eben bezeichnete Doppelaufgabe nicht genügte, selbstverständlich
unter der Voraussetzung, daß Österreich zu uns steht, denn Deutschland allein
wird an Truppeuzahl deu Franzosen und Russen niemals gleichkommen. Aller¬
dings kommen nicht nur die Zahlen in Betracht, sondern offenbar ebenso
sehr die Schnelligkeit der Mobilisirung und des Aufmarsches, der innere Zu¬
sammenhalt des Heeres und die Führung. In allen diesen Dingen sind wir aber
den Franzosen mindestens gewachsen, in einzelnen sogar vielleicht überlegen,
den Russen sicher überlegen, ohne daß die Tüchtigkeit des russischen Soldaten,
die sich auf Hunderten von Schlachtfeldern bewährt hat, damit irgendwie in
Frage gestellt würde. Wir vermissen außerdem in den bisherigen offiziösen
und amtlichen Auslassungen ein gewisses Etwas, den Ton der festen Zuversicht
auf die sittliche Kraft und die Vaterlandsliebe unsers Volks, den frohen
Glanben an die Macht der „Imponderabilien." Statt dessen macht sich eine
gewisse Ängstlichkeit, ein gewisser Kleinmut bemerklich. Und doch sind es noch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0200" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213992"/>
          <fw type="header" place="top"> vor der Entscheidung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_635" prev="#ID_634"> Linie die Geschäfte Englands besorgen! Der Bestand Österreichs ist eine Lebens¬<lb/>
frage für Deutschland, aber das russische Krenz ans der Sophienkirche darf<lb/>
uns keine Kopfschmerzen bereiten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_636"> Aber wir wollen annehmen, daß wir den Krieg auf zwei Fronten führen<lb/>
müßten, allerdings im Bunde mit Österreich. Auch das braucht uns nicht zu<lb/>
erschrecken. Friedrich der Große hat mit der schwachen und unzuverlässigen<lb/>
Unterstützung Englands gegen drei Großmächte gerungen, von denen jede weit<lb/>
stärker war als er, und er hat im Friedensschlüsse nicht einen Fuß breit<lb/>
seines Gebiets verloren. Und Graf Moltke war auf den Fall eines gleich¬<lb/>
zeitigen Krieges gegen Frankreich und Rußland mit der jetzigen Heeresftürke<lb/>
vollständig gerüstet. Er hat es 1879 für möglich erklärt, im Bunde mit<lb/>
Österreich durch einen raschen Vorstoß erst mit Rußland fertig zu werden<lb/>
und uns Frankreich gegenüber so lange aus die Verteidigung zu beschränken.<lb/>
Auch das Umgekehrte wäre vielleicht denkbar, daß wir erst durch einen kräf¬<lb/>
tigen Angriff mit Frankreich abrechneten und uns bis zu diesem Zeitpunkte<lb/>
gegen Rußland auf die Verteidigung beschränkten. Was eine solche unter Um¬<lb/>
ständen vermag, wie furchtbare Opfer sie dem Angreifer auferlegen kaun, das<lb/>
haben die Russen selbst bei Sewastopol und am Schipkapassc bewiesen, vor<lb/>
Plewna erfahren. Es darf dabei doch auch uicht vergessen werden, daß ja<lb/>
der russische Vormarsch gegen Deutschland von Ostpreußen und vou Galizien<lb/>
her in der Flanke bedroht wird, also ein sehr schwieriges Unternehmen ist,<lb/>
und daß umgekehrt ein deutsch-österreichischer Angriff auf Rußland sich schwer¬<lb/>
lich das Ziel setzen würde, ans Moskau vorzudringen und vermutlich höchstens<lb/>
bis an die Pripetsümpfe, die natürliche Grenze zwischen Polen und Rußland,<lb/>
kommen würde. Denn die Stärke Rußlands liegt nach Landes- und Volksnrt<lb/>
in der Verteidigung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_637" next="#ID_638"> Es müßte also der Beweis geführt werden, daß unsre bisherige Heeres-<lb/>
stnrke für die eben bezeichnete Doppelaufgabe nicht genügte, selbstverständlich<lb/>
unter der Voraussetzung, daß Österreich zu uns steht, denn Deutschland allein<lb/>
wird an Truppeuzahl deu Franzosen und Russen niemals gleichkommen. Aller¬<lb/>
dings kommen nicht nur die Zahlen in Betracht, sondern offenbar ebenso<lb/>
sehr die Schnelligkeit der Mobilisirung und des Aufmarsches, der innere Zu¬<lb/>
sammenhalt des Heeres und die Führung. In allen diesen Dingen sind wir aber<lb/>
den Franzosen mindestens gewachsen, in einzelnen sogar vielleicht überlegen,<lb/>
den Russen sicher überlegen, ohne daß die Tüchtigkeit des russischen Soldaten,<lb/>
die sich auf Hunderten von Schlachtfeldern bewährt hat, damit irgendwie in<lb/>
Frage gestellt würde. Wir vermissen außerdem in den bisherigen offiziösen<lb/>
und amtlichen Auslassungen ein gewisses Etwas, den Ton der festen Zuversicht<lb/>
auf die sittliche Kraft und die Vaterlandsliebe unsers Volks, den frohen<lb/>
Glanben an die Macht der &#x201E;Imponderabilien." Statt dessen macht sich eine<lb/>
gewisse Ängstlichkeit, ein gewisser Kleinmut bemerklich. Und doch sind es noch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0200] vor der Entscheidung Linie die Geschäfte Englands besorgen! Der Bestand Österreichs ist eine Lebens¬ frage für Deutschland, aber das russische Krenz ans der Sophienkirche darf uns keine Kopfschmerzen bereiten. Aber wir wollen annehmen, daß wir den Krieg auf zwei Fronten führen müßten, allerdings im Bunde mit Österreich. Auch das braucht uns nicht zu erschrecken. Friedrich der Große hat mit der schwachen und unzuverlässigen Unterstützung Englands gegen drei Großmächte gerungen, von denen jede weit stärker war als er, und er hat im Friedensschlüsse nicht einen Fuß breit seines Gebiets verloren. Und Graf Moltke war auf den Fall eines gleich¬ zeitigen Krieges gegen Frankreich und Rußland mit der jetzigen Heeresftürke vollständig gerüstet. Er hat es 1879 für möglich erklärt, im Bunde mit Österreich durch einen raschen Vorstoß erst mit Rußland fertig zu werden und uns Frankreich gegenüber so lange aus die Verteidigung zu beschränken. Auch das Umgekehrte wäre vielleicht denkbar, daß wir erst durch einen kräf¬ tigen Angriff mit Frankreich abrechneten und uns bis zu diesem Zeitpunkte gegen Rußland auf die Verteidigung beschränkten. Was eine solche unter Um¬ ständen vermag, wie furchtbare Opfer sie dem Angreifer auferlegen kaun, das haben die Russen selbst bei Sewastopol und am Schipkapassc bewiesen, vor Plewna erfahren. Es darf dabei doch auch uicht vergessen werden, daß ja der russische Vormarsch gegen Deutschland von Ostpreußen und vou Galizien her in der Flanke bedroht wird, also ein sehr schwieriges Unternehmen ist, und daß umgekehrt ein deutsch-österreichischer Angriff auf Rußland sich schwer¬ lich das Ziel setzen würde, ans Moskau vorzudringen und vermutlich höchstens bis an die Pripetsümpfe, die natürliche Grenze zwischen Polen und Rußland, kommen würde. Denn die Stärke Rußlands liegt nach Landes- und Volksnrt in der Verteidigung. Es müßte also der Beweis geführt werden, daß unsre bisherige Heeres- stnrke für die eben bezeichnete Doppelaufgabe nicht genügte, selbstverständlich unter der Voraussetzung, daß Österreich zu uns steht, denn Deutschland allein wird an Truppeuzahl deu Franzosen und Russen niemals gleichkommen. Aller¬ dings kommen nicht nur die Zahlen in Betracht, sondern offenbar ebenso sehr die Schnelligkeit der Mobilisirung und des Aufmarsches, der innere Zu¬ sammenhalt des Heeres und die Führung. In allen diesen Dingen sind wir aber den Franzosen mindestens gewachsen, in einzelnen sogar vielleicht überlegen, den Russen sicher überlegen, ohne daß die Tüchtigkeit des russischen Soldaten, die sich auf Hunderten von Schlachtfeldern bewährt hat, damit irgendwie in Frage gestellt würde. Wir vermissen außerdem in den bisherigen offiziösen und amtlichen Auslassungen ein gewisses Etwas, den Ton der festen Zuversicht auf die sittliche Kraft und die Vaterlandsliebe unsers Volks, den frohen Glanben an die Macht der „Imponderabilien." Statt dessen macht sich eine gewisse Ängstlichkeit, ein gewisser Kleinmut bemerklich. Und doch sind es noch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/200
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/200>, abgerufen am 01.09.2024.