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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und Rußland

des Zaren so gut z. B. wie die liberale Verfassung des russischen Königreichs
Polen. Die Verhältnisse haben sich seitdem freilich geändert. In der Napo-
leonische" Zeit wurde das russische Reich thatsächlich von einer deutschen oder
wenigstens deutsch und französisch gebildeten Minderheit beherrscht und trieb
europäische und keine russische Politik. Jetzt ist das zu Ende, die altrussische
Partei hat das Heft in der Hand, aber doch nnr deshalb, weil der gegen¬
wärtige Kaiser, der bekanntlich gar nicht für den Thron bestimmt war, in
dem Sinne dieser Richtung von Katkow lind Pvbjedonoszew erzogen worden
ist. Seine Generalität mag den Krieg mit dem "faulen Westen" wollen, der
Zar selber will sicherlich überhaupt keinen .Krieg, schon weil er kein Feldherr
ist, und weil eine Niederlage schwere Katastrophen über das russische Reich
bringen würde. Es ist auch durchaus noch nicht ausgemacht, daß Kaiser Ale¬
xander der Dritte unter allen Umständen losschlagen würde, wenn uns Frank¬
reich angriffe. Wenn es den Angriff nun etwa unter der roten Fahne unter¬
nähme, was uicht wohl möglich ist, würde auch dann der Selbstherrscher aller
Reußen die Franzosen unterstützen? Er würde gewiß eine völlige Niederwer¬
fung Frankreichs nicht dulden, aber weiter würde er schwerlich gehen. Und
die letzten skandalösen Vorgänge in Paris, die die Korruption der parlamen¬
tarischen Republik enthüllt haben, sind nicht geeignet, die ohnehin schwachen
persönlichen Sympathien des Zaren für Frankreich zu steigern. Ein Krieg
ans zwei Fronten scheint uns deshalb keineswegs so unbedingt sicher zu er¬
warten. Es wird Sache der Diplomatie sein, den Zaren in dieser friedlichen
Stimmung zu befestigen, und dazu bietet er doch jetzt offenbar selbst die Hand,
indem er die Ernennung des Generals von Werber zum deutschen Botschafter
gewünscht hat.

Freilich den Ruf: "Rußland für die Russen" wird man bis zu einem
gewissen Grade gelten lassen müssen. Wir sympathisiren selbstverständlich nicht
mit den Gewaltmaßregeln gegen die baltischen Deutschen, die Polen, die Juden
u. s, f. Aber die Forderung, daß ein so gewaltiges Reich im Sinne der der
Zahl und den Wohnsitzen nach herrschenden Nation regiert werde, kann man
doch nicht unbillig finden. Der "Rationalismus," deu der Verfasser so roh
findet, ist ebeu die Kehrseite des Nntionalitätspriuzips und die Folgerung
aus dem scharfen modernen Staatsbegriff, die beide überall den Minderheiten
nicht günstig sind. Die goldne Zeit für solche Minderheiten was das "finstre"
Mittelnlter mit seiner schwachen Staatsordnung und seinem dürftigen Staats¬
zweck. Und was wollen die Maßregelungen dieser Minderheiten durch die
brutale Staatsgewalt in der Gegenwart sagen im Verhältnis zu deu Strömen
von Blut, die im Namen der konfessionellen Einheit im sechzehnten und sieb¬
zehnten Jahrhundert vergossen worden sind? Wir wollen doch auch nicht
leiden, daß die Russen etwa unsre lausitzischeu Wende" als panslawistische
Vorposten behandeln, und wenn die Tschechen mit Rußland liebäugeln, so


Deutschland und Rußland

des Zaren so gut z. B. wie die liberale Verfassung des russischen Königreichs
Polen. Die Verhältnisse haben sich seitdem freilich geändert. In der Napo-
leonische» Zeit wurde das russische Reich thatsächlich von einer deutschen oder
wenigstens deutsch und französisch gebildeten Minderheit beherrscht und trieb
europäische und keine russische Politik. Jetzt ist das zu Ende, die altrussische
Partei hat das Heft in der Hand, aber doch nnr deshalb, weil der gegen¬
wärtige Kaiser, der bekanntlich gar nicht für den Thron bestimmt war, in
dem Sinne dieser Richtung von Katkow lind Pvbjedonoszew erzogen worden
ist. Seine Generalität mag den Krieg mit dem „faulen Westen" wollen, der
Zar selber will sicherlich überhaupt keinen .Krieg, schon weil er kein Feldherr
ist, und weil eine Niederlage schwere Katastrophen über das russische Reich
bringen würde. Es ist auch durchaus noch nicht ausgemacht, daß Kaiser Ale¬
xander der Dritte unter allen Umständen losschlagen würde, wenn uns Frank¬
reich angriffe. Wenn es den Angriff nun etwa unter der roten Fahne unter¬
nähme, was uicht wohl möglich ist, würde auch dann der Selbstherrscher aller
Reußen die Franzosen unterstützen? Er würde gewiß eine völlige Niederwer¬
fung Frankreichs nicht dulden, aber weiter würde er schwerlich gehen. Und
die letzten skandalösen Vorgänge in Paris, die die Korruption der parlamen¬
tarischen Republik enthüllt haben, sind nicht geeignet, die ohnehin schwachen
persönlichen Sympathien des Zaren für Frankreich zu steigern. Ein Krieg
ans zwei Fronten scheint uns deshalb keineswegs so unbedingt sicher zu er¬
warten. Es wird Sache der Diplomatie sein, den Zaren in dieser friedlichen
Stimmung zu befestigen, und dazu bietet er doch jetzt offenbar selbst die Hand,
indem er die Ernennung des Generals von Werber zum deutschen Botschafter
gewünscht hat.

Freilich den Ruf: „Rußland für die Russen" wird man bis zu einem
gewissen Grade gelten lassen müssen. Wir sympathisiren selbstverständlich nicht
mit den Gewaltmaßregeln gegen die baltischen Deutschen, die Polen, die Juden
u. s, f. Aber die Forderung, daß ein so gewaltiges Reich im Sinne der der
Zahl und den Wohnsitzen nach herrschenden Nation regiert werde, kann man
doch nicht unbillig finden. Der „Rationalismus," deu der Verfasser so roh
findet, ist ebeu die Kehrseite des Nntionalitätspriuzips und die Folgerung
aus dem scharfen modernen Staatsbegriff, die beide überall den Minderheiten
nicht günstig sind. Die goldne Zeit für solche Minderheiten was das „finstre"
Mittelnlter mit seiner schwachen Staatsordnung und seinem dürftigen Staats¬
zweck. Und was wollen die Maßregelungen dieser Minderheiten durch die
brutale Staatsgewalt in der Gegenwart sagen im Verhältnis zu deu Strömen
von Blut, die im Namen der konfessionellen Einheit im sechzehnten und sieb¬
zehnten Jahrhundert vergossen worden sind? Wir wollen doch auch nicht
leiden, daß die Russen etwa unsre lausitzischeu Wende» als panslawistische
Vorposten behandeln, und wenn die Tschechen mit Rußland liebäugeln, so


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/20>, abgerufen am 01.09.2024.