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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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sondern die weitere Entwicklung ist von dem neugeschaffnem Rechtsboden ans
weitergegangen.

In der Thatsache also, daß die große französische Revolution ein Bruch
des bestehenden Rechtszustandes war, kann an sich die Erklärung für die fort¬
gesetzten Erschütterungen des französischen Staatskörpers nicht liegen. Oben¬
drein sind die großen Umgestaltungen, die man unter jenem Namen zusammen¬
faßt, bis zum Abschluß der Verfassung des Jahres 1791 auf dein formell
gesetzmäßigsten Wege von der Welt, nämlich durch Beschlüsse des Königs und
der auf seinen Befehl gewählten gesetzlichen Volksvertretung zu stünde ge¬
kommen. Die Zeit der Staatsstreiche beginnt erst, seitdem die republikanisch
gesinnten Girondisten ans Ruder kommen. Es sind nicht die Formen, es ist
der Geist der französischen Revolution, der grundsätzliche und vorsätzliche Bruch
mit der Geschichte, der für Frankreich verhängnisvoll geworden ist. Und dieser
Bruch mit der Vergangenheit war zunächst ein Ergebnis der sogenannten
Aufklärung. In ihrer dünkelhaften Altklugheit wähnte sie, sie könne mit der
"Vernunft" ein neues, unbedingt und zwar für alle Völker, Zeiten und Kultur¬
stufen giltiges Recht schaffen und nach Rousseaus Utopien ans dem Boden
dieses uralten Kulturvolks einen völlig neuen, "vernunftgemäßen" Stants-
und Gesellschaftsbau aufrichten. Gern beriefen sich diese Theoretiker aus Nord¬
amerika, und doch ließen sich weder die französischen Zustände mit deu nord-
amerikanischen vergleichen, noch ist es den Nordamerikanern eingefallen, mit
der Vergangenheit zu brechen. Sie rissen sich vom Mutterlnnde los, weil
jede Ackerbaukolvnie über kurz oder lang selbständig wird, aber sie bauten
ihren Staat auf der demokratischen Gemeindeverwaltung auf, die seiner Zeit
die englischen Ansiedler mit übers Meer herübergebracht hatten, und sie er¬
richteten so mit bewundrttngswürdigem Takt eine Verfassung, die trotz der
riesigen, unaufhaltsamen Vergrößerung des Gebiets, der Bevölkerung, der
Zahl der Gliederstaaten noch heute unverändert besteht und auch die schwerste
Erschütterung, den Abfall der Südstaate", siegreich überwunden hat. So ist
diese ganz demokratische amerikanische Union ein höchst konservatives Staats¬
wesen geblieben. Aus jeuer Theorie und aus dem falsch angewandten Beispiele
Nordamerikas ergab sich auch für Frankreich der verhängnisvolle Grundsatz
der Volkssouveränität, deu schon die "Menschenrechte" vom 4. August 1789
an die Spitze stellten. Gewiß beruht die Union auf demselben Grundsatze.
Aber dort ergab er sich ans der Natur der Dinge und aus der strengen Ge¬
wöhnung dieser germanischen Menschen an eine mit zahlreichen persönlichen
Opfern verknüpfte Selbstverwaltung der Gemeinde und der altenglischen Graf¬
schaft, und er hat auch später dort weniger Schaden angerichtet, weil die
Staatsthntigkeit in Nordamerika überhaupt sehr beschränkt, die Staatsgewalt
an sich daher schwach ist. Gewiß haben mich die beiden großen Kulturvölker
des Altertums in ihrer Blütezeit ihre Staatsordnungen auf demselben Grund-


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sondern die weitere Entwicklung ist von dem neugeschaffnem Rechtsboden ans
weitergegangen.

In der Thatsache also, daß die große französische Revolution ein Bruch
des bestehenden Rechtszustandes war, kann an sich die Erklärung für die fort¬
gesetzten Erschütterungen des französischen Staatskörpers nicht liegen. Oben¬
drein sind die großen Umgestaltungen, die man unter jenem Namen zusammen¬
faßt, bis zum Abschluß der Verfassung des Jahres 1791 auf dein formell
gesetzmäßigsten Wege von der Welt, nämlich durch Beschlüsse des Königs und
der auf seinen Befehl gewählten gesetzlichen Volksvertretung zu stünde ge¬
kommen. Die Zeit der Staatsstreiche beginnt erst, seitdem die republikanisch
gesinnten Girondisten ans Ruder kommen. Es sind nicht die Formen, es ist
der Geist der französischen Revolution, der grundsätzliche und vorsätzliche Bruch
mit der Geschichte, der für Frankreich verhängnisvoll geworden ist. Und dieser
Bruch mit der Vergangenheit war zunächst ein Ergebnis der sogenannten
Aufklärung. In ihrer dünkelhaften Altklugheit wähnte sie, sie könne mit der
„Vernunft" ein neues, unbedingt und zwar für alle Völker, Zeiten und Kultur¬
stufen giltiges Recht schaffen und nach Rousseaus Utopien ans dem Boden
dieses uralten Kulturvolks einen völlig neuen, „vernunftgemäßen" Stants-
und Gesellschaftsbau aufrichten. Gern beriefen sich diese Theoretiker aus Nord¬
amerika, und doch ließen sich weder die französischen Zustände mit deu nord-
amerikanischen vergleichen, noch ist es den Nordamerikanern eingefallen, mit
der Vergangenheit zu brechen. Sie rissen sich vom Mutterlnnde los, weil
jede Ackerbaukolvnie über kurz oder lang selbständig wird, aber sie bauten
ihren Staat auf der demokratischen Gemeindeverwaltung auf, die seiner Zeit
die englischen Ansiedler mit übers Meer herübergebracht hatten, und sie er¬
richteten so mit bewundrttngswürdigem Takt eine Verfassung, die trotz der
riesigen, unaufhaltsamen Vergrößerung des Gebiets, der Bevölkerung, der
Zahl der Gliederstaaten noch heute unverändert besteht und auch die schwerste
Erschütterung, den Abfall der Südstaate», siegreich überwunden hat. So ist
diese ganz demokratische amerikanische Union ein höchst konservatives Staats¬
wesen geblieben. Aus jeuer Theorie und aus dem falsch angewandten Beispiele
Nordamerikas ergab sich auch für Frankreich der verhängnisvolle Grundsatz
der Volkssouveränität, deu schon die „Menschenrechte" vom 4. August 1789
an die Spitze stellten. Gewiß beruht die Union auf demselben Grundsatze.
Aber dort ergab er sich ans der Natur der Dinge und aus der strengen Ge¬
wöhnung dieser germanischen Menschen an eine mit zahlreichen persönlichen
Opfern verknüpfte Selbstverwaltung der Gemeinde und der altenglischen Graf¬
schaft, und er hat auch später dort weniger Schaden angerichtet, weil die
Staatsthntigkeit in Nordamerika überhaupt sehr beschränkt, die Staatsgewalt
an sich daher schwach ist. Gewiß haben mich die beiden großen Kulturvölker
des Altertums in ihrer Blütezeit ihre Staatsordnungen auf demselben Grund-


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[0180] Zum 2^. Januar sondern die weitere Entwicklung ist von dem neugeschaffnem Rechtsboden ans weitergegangen. In der Thatsache also, daß die große französische Revolution ein Bruch des bestehenden Rechtszustandes war, kann an sich die Erklärung für die fort¬ gesetzten Erschütterungen des französischen Staatskörpers nicht liegen. Oben¬ drein sind die großen Umgestaltungen, die man unter jenem Namen zusammen¬ faßt, bis zum Abschluß der Verfassung des Jahres 1791 auf dein formell gesetzmäßigsten Wege von der Welt, nämlich durch Beschlüsse des Königs und der auf seinen Befehl gewählten gesetzlichen Volksvertretung zu stünde ge¬ kommen. Die Zeit der Staatsstreiche beginnt erst, seitdem die republikanisch gesinnten Girondisten ans Ruder kommen. Es sind nicht die Formen, es ist der Geist der französischen Revolution, der grundsätzliche und vorsätzliche Bruch mit der Geschichte, der für Frankreich verhängnisvoll geworden ist. Und dieser Bruch mit der Vergangenheit war zunächst ein Ergebnis der sogenannten Aufklärung. In ihrer dünkelhaften Altklugheit wähnte sie, sie könne mit der „Vernunft" ein neues, unbedingt und zwar für alle Völker, Zeiten und Kultur¬ stufen giltiges Recht schaffen und nach Rousseaus Utopien ans dem Boden dieses uralten Kulturvolks einen völlig neuen, „vernunftgemäßen" Stants- und Gesellschaftsbau aufrichten. Gern beriefen sich diese Theoretiker aus Nord¬ amerika, und doch ließen sich weder die französischen Zustände mit deu nord- amerikanischen vergleichen, noch ist es den Nordamerikanern eingefallen, mit der Vergangenheit zu brechen. Sie rissen sich vom Mutterlnnde los, weil jede Ackerbaukolvnie über kurz oder lang selbständig wird, aber sie bauten ihren Staat auf der demokratischen Gemeindeverwaltung auf, die seiner Zeit die englischen Ansiedler mit übers Meer herübergebracht hatten, und sie er¬ richteten so mit bewundrttngswürdigem Takt eine Verfassung, die trotz der riesigen, unaufhaltsamen Vergrößerung des Gebiets, der Bevölkerung, der Zahl der Gliederstaaten noch heute unverändert besteht und auch die schwerste Erschütterung, den Abfall der Südstaate», siegreich überwunden hat. So ist diese ganz demokratische amerikanische Union ein höchst konservatives Staats¬ wesen geblieben. Aus jeuer Theorie und aus dem falsch angewandten Beispiele Nordamerikas ergab sich auch für Frankreich der verhängnisvolle Grundsatz der Volkssouveränität, deu schon die „Menschenrechte" vom 4. August 1789 an die Spitze stellten. Gewiß beruht die Union auf demselben Grundsatze. Aber dort ergab er sich ans der Natur der Dinge und aus der strengen Ge¬ wöhnung dieser germanischen Menschen an eine mit zahlreichen persönlichen Opfern verknüpfte Selbstverwaltung der Gemeinde und der altenglischen Graf¬ schaft, und er hat auch später dort weniger Schaden angerichtet, weil die Staatsthntigkeit in Nordamerika überhaupt sehr beschränkt, die Staatsgewalt an sich daher schwach ist. Gewiß haben mich die beiden großen Kulturvölker des Altertums in ihrer Blütezeit ihre Staatsordnungen auf demselben Grund-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/180>, abgerufen am 01.09.2024.