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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und Rußland

letzt ist doch die slawisch-orientalische Politik Rußlands abhängig von der
Stärke oder Schwäche Dentschlands, und diese Abhängigkeit konnte für Ru߬
land nur beseitigt werden entweder durch einen festen Bündnisvertrag mit
einem befreundeten Deutschland oder durch Paralhsirung oder eine Nieder¬
werfung Deutschlands. Heute uun liegt dem Russen die Niederwerfung mehr
im Sinn als der Vertrag. Ein Vertrag hätte zur Voraussetzung die Auf¬
lösung des Dreibundes, und vielleicht ist eine Kombination dieser Art ein Be¬
weggrund für die Haltung mancher russischen Preßorgnuc, wenn sie gegen den
Dreibund mit gleicher Heftigkeit kämpfen, wie gegen Deutschland. Vielleicht
gewinnt auch das Mittel der Paralhsirung Deutschlands durch Frankreich in
der russischen Schützung mit der Zeit den Vorrang über die andern Mittel.

Es wäre falsch, der deutschfeindlichen Strömung in der russischen poli¬
tischen Gesellschaft überall tiefe und klare Politik unterzulegen; die Menge
wird auch dort weniger von klaren Gedanken als von dem Masseninstinkt ge¬
leitet, und dieser ist stark und lebhaft in der slawischen Natur. Der Zar ist
friedliebend, die bäuerliche Menge hat keinen eignen Willen, sondern geht dahin,
wohin sie der Zar oder die Kirche treibt. Der russische Staat besteht jedoch
vor allem ans Beamten und Truppen, und diese sind keineswegs so friedlich
gesinnt, daß man mit Sicherheit annehmen könnte, es drohe von dort, von
Rußland her, durchaus keine Gefahr für uns, so lange als wir ruhig blieben.
Gerade im Heere hat die Hetzerei der Presse, die dem soldatischen Selbstgefühl
begegnete, allmählich die Erinnerungen an 1877 verwischt und den alten Über¬
mut wieder geweckt. Wie 1876 die Türken, so meint man in dem russischen
Heere heute vielfach, die Deutschen "mit der Mütze umwerfen" zu können,
wenn es einmal "losgeht." Und daß es losgehe, wünscht, daß es bald los-
gehen werde, glaubt ein sehr großer Teil des Heeres, besonders der längs der
deutschen Grenze garnisonirende Teil. Die altbekannte Sorglosigkeit des Russen,
das auch dem Fürsten Bismarck wohlbekannte "Nitschcwo" ("thut nichts"
oder "einerlei") trügt zu dieser kriegerischen Stimmung bei, der Mnsseninstintt
und die Preßhetze zeigen der Stimmung das feste Ziel: den Deutschen. So
ist der Deutsche heute für das Heer der gegebne Feind, dem der Meinung
der Truppen nach alle die Rüstungen gelten, die seit Jahren so eifrig betrieben
werden. Es ist unmöglich, dies bei der Beurteilung der deutsch-russischen Be¬
ziehungen zu übersehe".

Ist uus denn nicht seit 1871 die Kriegsgefahr schon wiederholt sehr nahe
getreten? Hat man nicht bei uns noch vor einem. Jahre, in: Herbst 1891, an
den Ausbruch des Krieges mit Frankreich für 1802 in weiten Kreisen ge¬
glaubt? Glaubt jemand ernstlich, daß, wenn es mit Rußland "losginge," die
Franzosen still halten würden, oder wenn es am Rhein knallte, General Gurtv
in Warschau die seiner Ansicht nach ihm gestellte Aufgabe, für jdieseu Fall
sofort Deutschland an die Kehle zu fahre", beiseite setzen würde? Wie fried-


Deutschland und Rußland

letzt ist doch die slawisch-orientalische Politik Rußlands abhängig von der
Stärke oder Schwäche Dentschlands, und diese Abhängigkeit konnte für Ru߬
land nur beseitigt werden entweder durch einen festen Bündnisvertrag mit
einem befreundeten Deutschland oder durch Paralhsirung oder eine Nieder¬
werfung Deutschlands. Heute uun liegt dem Russen die Niederwerfung mehr
im Sinn als der Vertrag. Ein Vertrag hätte zur Voraussetzung die Auf¬
lösung des Dreibundes, und vielleicht ist eine Kombination dieser Art ein Be¬
weggrund für die Haltung mancher russischen Preßorgnuc, wenn sie gegen den
Dreibund mit gleicher Heftigkeit kämpfen, wie gegen Deutschland. Vielleicht
gewinnt auch das Mittel der Paralhsirung Deutschlands durch Frankreich in
der russischen Schützung mit der Zeit den Vorrang über die andern Mittel.

Es wäre falsch, der deutschfeindlichen Strömung in der russischen poli¬
tischen Gesellschaft überall tiefe und klare Politik unterzulegen; die Menge
wird auch dort weniger von klaren Gedanken als von dem Masseninstinkt ge¬
leitet, und dieser ist stark und lebhaft in der slawischen Natur. Der Zar ist
friedliebend, die bäuerliche Menge hat keinen eignen Willen, sondern geht dahin,
wohin sie der Zar oder die Kirche treibt. Der russische Staat besteht jedoch
vor allem ans Beamten und Truppen, und diese sind keineswegs so friedlich
gesinnt, daß man mit Sicherheit annehmen könnte, es drohe von dort, von
Rußland her, durchaus keine Gefahr für uns, so lange als wir ruhig blieben.
Gerade im Heere hat die Hetzerei der Presse, die dem soldatischen Selbstgefühl
begegnete, allmählich die Erinnerungen an 1877 verwischt und den alten Über¬
mut wieder geweckt. Wie 1876 die Türken, so meint man in dem russischen
Heere heute vielfach, die Deutschen „mit der Mütze umwerfen" zu können,
wenn es einmal „losgeht." Und daß es losgehe, wünscht, daß es bald los-
gehen werde, glaubt ein sehr großer Teil des Heeres, besonders der längs der
deutschen Grenze garnisonirende Teil. Die altbekannte Sorglosigkeit des Russen,
das auch dem Fürsten Bismarck wohlbekannte „Nitschcwo" („thut nichts"
oder „einerlei") trügt zu dieser kriegerischen Stimmung bei, der Mnsseninstintt
und die Preßhetze zeigen der Stimmung das feste Ziel: den Deutschen. So
ist der Deutsche heute für das Heer der gegebne Feind, dem der Meinung
der Truppen nach alle die Rüstungen gelten, die seit Jahren so eifrig betrieben
werden. Es ist unmöglich, dies bei der Beurteilung der deutsch-russischen Be¬
ziehungen zu übersehe».

Ist uus denn nicht seit 1871 die Kriegsgefahr schon wiederholt sehr nahe
getreten? Hat man nicht bei uns noch vor einem. Jahre, in: Herbst 1891, an
den Ausbruch des Krieges mit Frankreich für 1802 in weiten Kreisen ge¬
glaubt? Glaubt jemand ernstlich, daß, wenn es mit Rußland „losginge," die
Franzosen still halten würden, oder wenn es am Rhein knallte, General Gurtv
in Warschau die seiner Ansicht nach ihm gestellte Aufgabe, für jdieseu Fall
sofort Deutschland an die Kehle zu fahre», beiseite setzen würde? Wie fried-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/15>, abgerufen am 01.09.2024.