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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Ratholische Schulkalender

Daß "die Reformation in ihrer weiten? Entwicklung der deutschen Sprache
schwere Wunden geschlagen hat/' daß "Luthers That von irgend welchem
Segen und Nutzen für Deutschland nicht gewesen ist," daß "sie eine
nackte, rohe Revolution war." Diese logische Antwort erhält der "Student"
auf die Frage: hat Luther die neuhochdeutsche Sprache erfunden? und daneben
noch die Empfehlung einer bei Herder in Freiburg mit bekannter Tendenz er¬
schienenen Schrift: Die Revolution seit dem sechzehnten Jahrhundert im Lichte
der neuesten Forschung.

Gehen wir endlich von der Geschichte zur Litteraturgeschichte, so kommen
wir hier ins Allerheiligste dieser Kalendermacherei, wo Perfidie und Plumpheit
mit einander um die Palme streiten. Wie wir in dem Lutherartikel die -- ge-
wollten oder nicht gewollten -- Früchte sehen, die die Janssensche Forschung
zeitigt, wenn sie von den Massen und für die Massen gehörig bearbeitet wird,
so tritt uns hier der Geist Baumgartnerscher Mache in entsprechender Ver¬
gröberung entgegen, und man Hütte wohl ein Recht, uach bekannten Mustern
jene Art der Forschung und ihre Ergebnisse als die "Vorfrucht" dieser Ka¬
lendermacherei zu bezeichnen. Die wissenschaftliche Naivität dieser Kalender-
litteratnrgeschichte ergiebt sich aus einer untergeordneten, aber bezeichnenden
Einzelheit, die wir der Lebensskizze Janssens entnehmen. Da wird von dessen
Vaterstadt Xanten gerühmt, daß (in Tanten!) nach der Nibelungensage -- soll
heißen nach dem Nibelungenlied -- das gleißende Nibelungengold in die Fluten
des Stroms versenkt worden sei! Jeder Tertianer, ja jede Schülerin, die das
Gedicht aufmerksam gelesen hat, weiß, wie falsch, wie unmöglich das ist. Aber
wie gut macht sich das Pathos, deu "großen" Janssen mit dem berühmten
Hort schon in der Wiege zusammenzubringen! Daß aus dem Hort der Fluch
der Götter ruhte, das scheint dem Kalenderschreiber nicht bekannt gewesen
zu sein.

Die litterargeschichtliche Perle des Jahrgangs 1893 ist der Aufsatz über
"Schiller und Goethe," der "ein Beitrag zu ihrer Charakteristik" genannt
wird. Von Schillers Charakter ist darin kaum die Rede, wenn man nicht das
dazu rechnen will, daß er einmal der "gute" Schiller heißt, daß er schlecht
besoldet und kränklich war, daß er "durch etwas Likör oder ähnliche spiri¬
tuösen seine Kräfte zu steigern suchte," wodurch er seiner Gesundheit schadete;
diese Stelle ist durchschossen gedruckt, und da etliche Blätter vorher die schauder¬
haften Wirkungen des Spirituvscngenusses vorgeführt sind, so weiß man ja,
Ums das zu bedeuten hat. Im Ganzen erscheint Schiller als ein Tölpel, der
sich -- und nun kommt die Hauptsache -- von Goethe hat aus eine ganz
gemeine Weise überlisten lassen: Goethe -- der nebenbei gesagt "gern und
viel Wein und sogar Kirschwasser trank" -- empfand "viel Ärger" über
Schillers Rezension des Egmont. Er "ging also mit sich zu Rate, wie es
anzufangen sei, um den Rivalen Schiller aus Weimar fortzubringen." Er


Ratholische Schulkalender

Daß „die Reformation in ihrer weiten? Entwicklung der deutschen Sprache
schwere Wunden geschlagen hat/' daß „Luthers That von irgend welchem
Segen und Nutzen für Deutschland nicht gewesen ist," daß „sie eine
nackte, rohe Revolution war." Diese logische Antwort erhält der „Student"
auf die Frage: hat Luther die neuhochdeutsche Sprache erfunden? und daneben
noch die Empfehlung einer bei Herder in Freiburg mit bekannter Tendenz er¬
schienenen Schrift: Die Revolution seit dem sechzehnten Jahrhundert im Lichte
der neuesten Forschung.

Gehen wir endlich von der Geschichte zur Litteraturgeschichte, so kommen
wir hier ins Allerheiligste dieser Kalendermacherei, wo Perfidie und Plumpheit
mit einander um die Palme streiten. Wie wir in dem Lutherartikel die — ge-
wollten oder nicht gewollten — Früchte sehen, die die Janssensche Forschung
zeitigt, wenn sie von den Massen und für die Massen gehörig bearbeitet wird,
so tritt uns hier der Geist Baumgartnerscher Mache in entsprechender Ver¬
gröberung entgegen, und man Hütte wohl ein Recht, uach bekannten Mustern
jene Art der Forschung und ihre Ergebnisse als die „Vorfrucht" dieser Ka¬
lendermacherei zu bezeichnen. Die wissenschaftliche Naivität dieser Kalender-
litteratnrgeschichte ergiebt sich aus einer untergeordneten, aber bezeichnenden
Einzelheit, die wir der Lebensskizze Janssens entnehmen. Da wird von dessen
Vaterstadt Xanten gerühmt, daß (in Tanten!) nach der Nibelungensage — soll
heißen nach dem Nibelungenlied — das gleißende Nibelungengold in die Fluten
des Stroms versenkt worden sei! Jeder Tertianer, ja jede Schülerin, die das
Gedicht aufmerksam gelesen hat, weiß, wie falsch, wie unmöglich das ist. Aber
wie gut macht sich das Pathos, deu „großen" Janssen mit dem berühmten
Hort schon in der Wiege zusammenzubringen! Daß aus dem Hort der Fluch
der Götter ruhte, das scheint dem Kalenderschreiber nicht bekannt gewesen
zu sein.

Die litterargeschichtliche Perle des Jahrgangs 1893 ist der Aufsatz über
„Schiller und Goethe," der „ein Beitrag zu ihrer Charakteristik" genannt
wird. Von Schillers Charakter ist darin kaum die Rede, wenn man nicht das
dazu rechnen will, daß er einmal der „gute" Schiller heißt, daß er schlecht
besoldet und kränklich war, daß er „durch etwas Likör oder ähnliche spiri¬
tuösen seine Kräfte zu steigern suchte," wodurch er seiner Gesundheit schadete;
diese Stelle ist durchschossen gedruckt, und da etliche Blätter vorher die schauder¬
haften Wirkungen des Spirituvscngenusses vorgeführt sind, so weiß man ja,
Ums das zu bedeuten hat. Im Ganzen erscheint Schiller als ein Tölpel, der
sich — und nun kommt die Hauptsache — von Goethe hat aus eine ganz
gemeine Weise überlisten lassen: Goethe — der nebenbei gesagt „gern und
viel Wein und sogar Kirschwasser trank" — empfand „viel Ärger" über
Schillers Rezension des Egmont. Er „ging also mit sich zu Rate, wie es
anzufangen sei, um den Rivalen Schiller aus Weimar fortzubringen." Er


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[0146] Ratholische Schulkalender Daß „die Reformation in ihrer weiten? Entwicklung der deutschen Sprache schwere Wunden geschlagen hat/' daß „Luthers That von irgend welchem Segen und Nutzen für Deutschland nicht gewesen ist," daß „sie eine nackte, rohe Revolution war." Diese logische Antwort erhält der „Student" auf die Frage: hat Luther die neuhochdeutsche Sprache erfunden? und daneben noch die Empfehlung einer bei Herder in Freiburg mit bekannter Tendenz er¬ schienenen Schrift: Die Revolution seit dem sechzehnten Jahrhundert im Lichte der neuesten Forschung. Gehen wir endlich von der Geschichte zur Litteraturgeschichte, so kommen wir hier ins Allerheiligste dieser Kalendermacherei, wo Perfidie und Plumpheit mit einander um die Palme streiten. Wie wir in dem Lutherartikel die — ge- wollten oder nicht gewollten — Früchte sehen, die die Janssensche Forschung zeitigt, wenn sie von den Massen und für die Massen gehörig bearbeitet wird, so tritt uns hier der Geist Baumgartnerscher Mache in entsprechender Ver¬ gröberung entgegen, und man Hütte wohl ein Recht, uach bekannten Mustern jene Art der Forschung und ihre Ergebnisse als die „Vorfrucht" dieser Ka¬ lendermacherei zu bezeichnen. Die wissenschaftliche Naivität dieser Kalender- litteratnrgeschichte ergiebt sich aus einer untergeordneten, aber bezeichnenden Einzelheit, die wir der Lebensskizze Janssens entnehmen. Da wird von dessen Vaterstadt Xanten gerühmt, daß (in Tanten!) nach der Nibelungensage — soll heißen nach dem Nibelungenlied — das gleißende Nibelungengold in die Fluten des Stroms versenkt worden sei! Jeder Tertianer, ja jede Schülerin, die das Gedicht aufmerksam gelesen hat, weiß, wie falsch, wie unmöglich das ist. Aber wie gut macht sich das Pathos, deu „großen" Janssen mit dem berühmten Hort schon in der Wiege zusammenzubringen! Daß aus dem Hort der Fluch der Götter ruhte, das scheint dem Kalenderschreiber nicht bekannt gewesen zu sein. Die litterargeschichtliche Perle des Jahrgangs 1893 ist der Aufsatz über „Schiller und Goethe," der „ein Beitrag zu ihrer Charakteristik" genannt wird. Von Schillers Charakter ist darin kaum die Rede, wenn man nicht das dazu rechnen will, daß er einmal der „gute" Schiller heißt, daß er schlecht besoldet und kränklich war, daß er „durch etwas Likör oder ähnliche spiri¬ tuösen seine Kräfte zu steigern suchte," wodurch er seiner Gesundheit schadete; diese Stelle ist durchschossen gedruckt, und da etliche Blätter vorher die schauder¬ haften Wirkungen des Spirituvscngenusses vorgeführt sind, so weiß man ja, Ums das zu bedeuten hat. Im Ganzen erscheint Schiller als ein Tölpel, der sich — und nun kommt die Hauptsache — von Goethe hat aus eine ganz gemeine Weise überlisten lassen: Goethe — der nebenbei gesagt „gern und viel Wein und sogar Kirschwasser trank" — empfand „viel Ärger" über Schillers Rezension des Egmont. Er „ging also mit sich zu Rate, wie es anzufangen sei, um den Rivalen Schiller aus Weimar fortzubringen." Er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/146>, abgerufen am 01.09.2024.