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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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oder vielmehr überhaupt noch nicht; als größte aus dem Altertum bekannte
Vermögen führt Wolf die des Cnejus Lentulus und des Narziß, eines Frei¬
gelassenen Neros, mit je 90 Millionen Franken an.

In welcher Lage befinden sich nun die beinahe 21 Millionen Menschen
der untersten Steuer- oder vielmehr steuerfreien Stufe? Denken wir uns als
Typus eine Familie, die 800 Mark, also 300 Mark mehr als das Durch¬
schnittseinkommen hat. Die Ernährung eines preußischen Zuchthäuslers kostet
täglich 31 Pfennige. Berücksichtigen wir nun einerseits, daß die Tagelöhner¬
frau für dasselbe Geld weniger und schlechtere Waren bekommt, als die unter
den vorteilhaftester Bedingungen einlaufende Zuchthansverwaltung, andrerseits,
daß Kinder unter zehn Jahren nicht so viel essen wie Erwachsene, so werden
wir annehmen dürfen, daß bei drei .Kindern unter 14 Jahren -- manche
Arbeiterfamilie hat deren sechs und mehr -- 5>00 Mark für Kost nicht zu
viel sind. Das stimmt auch mit der bekannten von Wolf angeführten Erfah¬
rung, daß beim Durchschnittsarbeiter Mitteleuropas die Ausgabe für Speise
lind Trank 60 bis "5 Prozent der Gesamtansgabe zu betragen pflegt. Für
weniger als 100 Mark jährlich ist in den dichter bevölkerten Ortschaften keine
Wohnung zu bekommen, und Feuerung, Licht, Kleidung und Wüsche für fünf
Personen, dazu die unvermeidlichen laufenden und außerordentlichen Neben¬
ausgaben mit 200 Mark zu bestreikn, dazu gehört doch wohl schon ein Haus-
wirtschaftliches Genie. Mit 800 Mark Einkomme" befindet sich also eine Fa¬
milie auf dem Existeuzminimum. Es ist ja um richtig, daß Millionen noch
nicht einmal dieses Minimum erreichen. Das erscheint zwar als ein Wider¬
spruch, ist aber doch eben Thatsache. Die Leute leben, aber ihr Leben ist kein
menschliches Leben mehr, ist, die Zuthat zum Leben angesehen, nicht einmal
Zuchthäuslerleben. Wenn nun reichlich zwei Drittel des preußischen Volks
teils hart an der Grenze der Daseinsmöglichkeit, teils auf dieser Grenze herum¬
kriechen, so erscheint die Behauptung, der Wohlstand des Volks oder gar der
untersten Schicht dieses Volks nehme zu, geradezu lächerlich. Gleichviel, wie
groß das Einkommen der untern zwei Drittel in irgend einer frühern Zeit
gewesen sein mag, weniger als das zum Leben unumgänglich Nötige können
sie nicht gehabt haben, und mehr haben sie heute auch nicht. Wen" uns dem¬
nach ein Statistiker vvrrechnet, wie viel Millionen Menschen, die vor fünfzig
Jahren unter 5>00 Mark jährlich eingenommen haben, jetzt ein paar Mark
darüber einnehmen, und daraus folgert, daß die arbeitenden Klassen von der
untersten allmählich auf höhere Stufen emporstiegen und so das ganze Volk
sich hebe, so ist dieser vermeintliche Triumph des Optimismus eitel. Über¬
haupt muß man sich nicht in toten Ziffern verlieren, sondern ins Leben
Hineinschanen. Man sehe sich die Leutchen Sonntags an, wo sie, nach der
neuesten Mode herausgeputzt, nus ihren Werkstätten und Wvhnnngshöhlen
hervorkommen, prüfe die krummbeinigen blassen Kinder, die abgehärmten und


^veter Koimmnnsinns noch Aapitcilis>nus

oder vielmehr überhaupt noch nicht; als größte aus dem Altertum bekannte
Vermögen führt Wolf die des Cnejus Lentulus und des Narziß, eines Frei¬
gelassenen Neros, mit je 90 Millionen Franken an.

In welcher Lage befinden sich nun die beinahe 21 Millionen Menschen
der untersten Steuer- oder vielmehr steuerfreien Stufe? Denken wir uns als
Typus eine Familie, die 800 Mark, also 300 Mark mehr als das Durch¬
schnittseinkommen hat. Die Ernährung eines preußischen Zuchthäuslers kostet
täglich 31 Pfennige. Berücksichtigen wir nun einerseits, daß die Tagelöhner¬
frau für dasselbe Geld weniger und schlechtere Waren bekommt, als die unter
den vorteilhaftester Bedingungen einlaufende Zuchthansverwaltung, andrerseits,
daß Kinder unter zehn Jahren nicht so viel essen wie Erwachsene, so werden
wir annehmen dürfen, daß bei drei .Kindern unter 14 Jahren — manche
Arbeiterfamilie hat deren sechs und mehr — 5>00 Mark für Kost nicht zu
viel sind. Das stimmt auch mit der bekannten von Wolf angeführten Erfah¬
rung, daß beim Durchschnittsarbeiter Mitteleuropas die Ausgabe für Speise
lind Trank 60 bis «5 Prozent der Gesamtansgabe zu betragen pflegt. Für
weniger als 100 Mark jährlich ist in den dichter bevölkerten Ortschaften keine
Wohnung zu bekommen, und Feuerung, Licht, Kleidung und Wüsche für fünf
Personen, dazu die unvermeidlichen laufenden und außerordentlichen Neben¬
ausgaben mit 200 Mark zu bestreikn, dazu gehört doch wohl schon ein Haus-
wirtschaftliches Genie. Mit 800 Mark Einkomme» befindet sich also eine Fa¬
milie auf dem Existeuzminimum. Es ist ja um richtig, daß Millionen noch
nicht einmal dieses Minimum erreichen. Das erscheint zwar als ein Wider¬
spruch, ist aber doch eben Thatsache. Die Leute leben, aber ihr Leben ist kein
menschliches Leben mehr, ist, die Zuthat zum Leben angesehen, nicht einmal
Zuchthäuslerleben. Wenn nun reichlich zwei Drittel des preußischen Volks
teils hart an der Grenze der Daseinsmöglichkeit, teils auf dieser Grenze herum¬
kriechen, so erscheint die Behauptung, der Wohlstand des Volks oder gar der
untersten Schicht dieses Volks nehme zu, geradezu lächerlich. Gleichviel, wie
groß das Einkommen der untern zwei Drittel in irgend einer frühern Zeit
gewesen sein mag, weniger als das zum Leben unumgänglich Nötige können
sie nicht gehabt haben, und mehr haben sie heute auch nicht. Wen» uns dem¬
nach ein Statistiker vvrrechnet, wie viel Millionen Menschen, die vor fünfzig
Jahren unter 5>00 Mark jährlich eingenommen haben, jetzt ein paar Mark
darüber einnehmen, und daraus folgert, daß die arbeitenden Klassen von der
untersten allmählich auf höhere Stufen emporstiegen und so das ganze Volk
sich hebe, so ist dieser vermeintliche Triumph des Optimismus eitel. Über¬
haupt muß man sich nicht in toten Ziffern verlieren, sondern ins Leben
Hineinschanen. Man sehe sich die Leutchen Sonntags an, wo sie, nach der
neuesten Mode herausgeputzt, nus ihren Werkstätten und Wvhnnngshöhlen
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/134>, abgerufen am 01.09.2024.