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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Lösung der Zeitfrage also, die alle Gemüter in Anspruch nimmt,
darf von diesem wahnwitzig gewordnen Jndividulismus uicht erwartet werden.
Die Lösung wird ohne allen Zweifel die Macht bringen, die Nietzsche mit dem
kalten Lächeln der Verachtung beiseite schiebt, das Christentum. So wahr,
auch auf christlichem Boden, der Satz ist, daß Rangordnungen, "Kasten,"
als die Ergebnisse der kulturgeschichtlichen Entwicklung in der Welt not¬
wendig sind, daß der Bornehme ans andrer Umgebung, mit andrer Erziehung
und Bildung, mit andern Pflichten und Zielen, auch notwendig eine andre
Gesinnung und Denkart, ein gehobneres sittliches Empfinden und reineres Ur¬
teil als der geringe Mann haben wird -- vor Gott kann es nicht zwei vcr-
schiedenwertige Sittlichkeiten geben: vor der letzten Instanz kann "der helden¬
hafte Kraftmensch nicht mehr gelten, als der treue Knecht und stille Dulder."

Zweifellos wird in einer an Idealen und an Enthusiasmus armen Zeit
die oft glänzende Vortragsweise Nietzsches, der hohe Wärmegrad seiner Em¬
pfindung auf empfängliche Gemüter wirken, und der Empfindsame wird leicht
die Waffe gegen die Einseitigkeite", Schiefheiten und Übertreibungen des neuen
Propheten verlieren. Um so notwendiger ist es, diesem Herold der Bru¬
talität ein aufmerksames Ohr und ein prüfendes Auge zuzuwenden. Er ist
zu tief und zu geistvoll, als daß er sich mit dem bloßen Hinweis ans seine
geistige Umnachtung, seinen "moralischen Irrsinn" abthun ließe. Mit der
Pathologie kommt man für die Beurteilung seiner wahren und falschen An¬
sichten nicht ans. Die neuere Psychiatrie neigt der Ansicht zu, daß "der
Nachweis vou Irrsinn keineswegs ein Gegenbeweis gegen das Vorhandensein
des Genies sei," daß vielmehr bei genial angelegten Naturen gewisse Er¬
krankungen des Kopfes die Förderung und Steigerung der Gehirnthätigkeit
recht wohl zur Folge haben können. Im übrigen ist ja bekannt, daß allem
Genie ein Tropfen Wahnwitz beigemischt ist, und daß viele Großthaten der
genialen Menschheitslehrer einem dunkeln dämonischen Drange entströmen.

Daß Nietzsche von solchen Wahnideen nicht frei ist, da wo sein Denken
aus die Dinge, auf das Leben außer ihm geht, dafür sprechen nicht nur
seine maßlosen und phantastischen Übertreibungen, sondern vor allem der
Größenwahn, der ans seiner Selbstbeurtcilnng aufdringlich hervorgrinst.
Er wird nicht müde, zu klagen, daß er unverstanden, in einsamer Größe im
Pantheon der Geister, über seinein Volke stehe; alles hofft er von der Zu¬
kunft (dein zwanzigsten Jahrhundert). Schon als Jüngling wünschte er mit
seinen "Unzeitgemäßen Betrachtungen" gegen den Strom zu schwimmen. Am
freiesten geht er in seiner "Fröhlichen Wissenschaft" mit dieser bedenklichen
"Selbstbewertnng" heraus. Dieses Buch, das er nach langem, furchtbarem
Krankheitsdrucke "in der Trunkenheit der Genesung" geschrieben hat, in dem
"viel Unvernünftiges und närrisches ans Licht kommt," trägt auf dem Titel¬
blatt den Spruch: "Ich wohne in meinem eignen Hans, hab niemandem nie


Die Lösung der Zeitfrage also, die alle Gemüter in Anspruch nimmt,
darf von diesem wahnwitzig gewordnen Jndividulismus uicht erwartet werden.
Die Lösung wird ohne allen Zweifel die Macht bringen, die Nietzsche mit dem
kalten Lächeln der Verachtung beiseite schiebt, das Christentum. So wahr,
auch auf christlichem Boden, der Satz ist, daß Rangordnungen, „Kasten,"
als die Ergebnisse der kulturgeschichtlichen Entwicklung in der Welt not¬
wendig sind, daß der Bornehme ans andrer Umgebung, mit andrer Erziehung
und Bildung, mit andern Pflichten und Zielen, auch notwendig eine andre
Gesinnung und Denkart, ein gehobneres sittliches Empfinden und reineres Ur¬
teil als der geringe Mann haben wird — vor Gott kann es nicht zwei vcr-
schiedenwertige Sittlichkeiten geben: vor der letzten Instanz kann „der helden¬
hafte Kraftmensch nicht mehr gelten, als der treue Knecht und stille Dulder."

Zweifellos wird in einer an Idealen und an Enthusiasmus armen Zeit
die oft glänzende Vortragsweise Nietzsches, der hohe Wärmegrad seiner Em¬
pfindung auf empfängliche Gemüter wirken, und der Empfindsame wird leicht
die Waffe gegen die Einseitigkeite», Schiefheiten und Übertreibungen des neuen
Propheten verlieren. Um so notwendiger ist es, diesem Herold der Bru¬
talität ein aufmerksames Ohr und ein prüfendes Auge zuzuwenden. Er ist
zu tief und zu geistvoll, als daß er sich mit dem bloßen Hinweis ans seine
geistige Umnachtung, seinen „moralischen Irrsinn" abthun ließe. Mit der
Pathologie kommt man für die Beurteilung seiner wahren und falschen An¬
sichten nicht ans. Die neuere Psychiatrie neigt der Ansicht zu, daß „der
Nachweis vou Irrsinn keineswegs ein Gegenbeweis gegen das Vorhandensein
des Genies sei," daß vielmehr bei genial angelegten Naturen gewisse Er¬
krankungen des Kopfes die Förderung und Steigerung der Gehirnthätigkeit
recht wohl zur Folge haben können. Im übrigen ist ja bekannt, daß allem
Genie ein Tropfen Wahnwitz beigemischt ist, und daß viele Großthaten der
genialen Menschheitslehrer einem dunkeln dämonischen Drange entströmen.

Daß Nietzsche von solchen Wahnideen nicht frei ist, da wo sein Denken
aus die Dinge, auf das Leben außer ihm geht, dafür sprechen nicht nur
seine maßlosen und phantastischen Übertreibungen, sondern vor allem der
Größenwahn, der ans seiner Selbstbeurtcilnng aufdringlich hervorgrinst.
Er wird nicht müde, zu klagen, daß er unverstanden, in einsamer Größe im
Pantheon der Geister, über seinein Volke stehe; alles hofft er von der Zu¬
kunft (dein zwanzigsten Jahrhundert). Schon als Jüngling wünschte er mit
seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen" gegen den Strom zu schwimmen. Am
freiesten geht er in seiner „Fröhlichen Wissenschaft" mit dieser bedenklichen
„Selbstbewertnng" heraus. Dieses Buch, das er nach langem, furchtbarem
Krankheitsdrucke „in der Trunkenheit der Genesung" geschrieben hat, in dem
„viel Unvernünftiges und närrisches ans Licht kommt," trägt auf dem Titel¬
blatt den Spruch: „Ich wohne in meinem eignen Hans, hab niemandem nie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/95>, abgerufen am 23.12.2024.