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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie vom Übermenschen

Übermensch ist das letzte Produkt der Menschheit, dem "Hunderte, tausende
von Durchschnittsmenschen hingeopfert werden, damit er da sei," der wie ein
Riese steht unter Pygmäen, ein Bahnbrecher, Gesetzgeber, Menschenverächter,
Tempelschänder, der nicht die Rache und die Pereats der Menge fürchtet,
uicht durch die eigne Gewissensqual gelähmt wird, der es aber müde wird,
über Sklaven zu herrschen und um den Abscheu vor der pöbelhafter Gemein¬
heit, vor dein "Menschen" loszuwerden, in die Einsamkeit geht. Auf dem Markte
des Lebens, wo die schwächliche Mittelmäßigkeit herrscht, ist nicht sein Platz.
Abermals merkwürdig: vor der Macht der Ohnmacht zieht sich der Herrscher ins
öde Nichts der Wüste zurück und begnügt sich mit dem "Ekel des vornehmen
Geistes, mit unserm lärmenden und pöbelhafter Zeitalter aus einer Schüssel
essen zu müssen." Denn von allem muß sich der Vornehme frei machen, ,,von
jeder Person, auch der geliebtesten, vom Vaterland, vom Mitleid, von der
Wissenschaft, von seiner eignen Loslösung (!), von seinen Tugenden," nur sich
selbst, seine souveräne Individualität muß er zu bewahren wissen. Also un¬
abhängig von allem und nichts außer sich selbst achtend, hat die vornehme
Seele,,Ehrfurcht vor sich selbst." In die weltferne Einsamkeit entrückt, schwingt
sie sich unter dem Weihrauch eines pietätvollen Jchtultus zur "dionysischen
Begeistrung" auf.

Faßt man dieses Ziel der Entwicklung ins Ange, so drängt sich jedem
Verstündigen die Frage auf: Was soll der Kultur ein Asgard von Asen helfen,
die in und von der Einsamkeit leben, von Riesen, Thaten- und Gewaltmenschen,
die über Sklaven zu herrschen müde geworden sind und sich aus der Welt
des Lebens tapfer kämpfend, nein, nicht einmal tapfer kämpfend, zurückziehen?
Was wollen sie denn in der Einsamkeit, in der thatenleeren Öde? Es bleibt
dem Sonnenaar auf den "eisigen Hohen" nichts übrig, als die Kraft der über¬
schäumenden Leiblichkeit, die sich entladen muß, zu Purzelbäumen zu verwenden,
oder -- das Ich in Selbstqual zu zerreiben. Das Ende ist der -- Selbst¬
mord. Und wirklich sagt Nietzsche: der Gedanke um den Selbstmord ist ein
starkes Trvstmittel: mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg.
Aber ein Thatenmensch ohne Thaten ist ein Unding. Der Einsame, als
Schlußpunkt im Nictzscheschen Weltplane, ist Inkonsequenz, logischer Wider¬
spruch und lauter Protest gegen alle Prämissen.

Zudem ist es mit aller Naturbetrachtung unvereinbar, wenn Nietzsche sagt,
es liege im Wesen der Natur, Gewaltmenschen hervorzubringen, und alle Ent¬
wicklung laufe nur auf die Züchtung des Einsamen, des Übermenschen hinaus,
der den einzigen Kulturwert darstelle. Denn in der Natur herrscht die Regel,
nicht die Ausnahme.

Überblickt man aber den Gesamtverlauf der Entwicklung, so ist doch sehr
fraglich, ob Nietzsche mit diesen Träumen von einem Asgard des zwanzigsten
Jahrhunderts, mit seiner "Fabrik von Asen" dem Verfall wieder aufhelfen


Die Philosophie vom Übermenschen

Übermensch ist das letzte Produkt der Menschheit, dem „Hunderte, tausende
von Durchschnittsmenschen hingeopfert werden, damit er da sei," der wie ein
Riese steht unter Pygmäen, ein Bahnbrecher, Gesetzgeber, Menschenverächter,
Tempelschänder, der nicht die Rache und die Pereats der Menge fürchtet,
uicht durch die eigne Gewissensqual gelähmt wird, der es aber müde wird,
über Sklaven zu herrschen und um den Abscheu vor der pöbelhafter Gemein¬
heit, vor dein „Menschen" loszuwerden, in die Einsamkeit geht. Auf dem Markte
des Lebens, wo die schwächliche Mittelmäßigkeit herrscht, ist nicht sein Platz.
Abermals merkwürdig: vor der Macht der Ohnmacht zieht sich der Herrscher ins
öde Nichts der Wüste zurück und begnügt sich mit dem „Ekel des vornehmen
Geistes, mit unserm lärmenden und pöbelhafter Zeitalter aus einer Schüssel
essen zu müssen." Denn von allem muß sich der Vornehme frei machen, ,,von
jeder Person, auch der geliebtesten, vom Vaterland, vom Mitleid, von der
Wissenschaft, von seiner eignen Loslösung (!), von seinen Tugenden," nur sich
selbst, seine souveräne Individualität muß er zu bewahren wissen. Also un¬
abhängig von allem und nichts außer sich selbst achtend, hat die vornehme
Seele,,Ehrfurcht vor sich selbst." In die weltferne Einsamkeit entrückt, schwingt
sie sich unter dem Weihrauch eines pietätvollen Jchtultus zur „dionysischen
Begeistrung" auf.

Faßt man dieses Ziel der Entwicklung ins Ange, so drängt sich jedem
Verstündigen die Frage auf: Was soll der Kultur ein Asgard von Asen helfen,
die in und von der Einsamkeit leben, von Riesen, Thaten- und Gewaltmenschen,
die über Sklaven zu herrschen müde geworden sind und sich aus der Welt
des Lebens tapfer kämpfend, nein, nicht einmal tapfer kämpfend, zurückziehen?
Was wollen sie denn in der Einsamkeit, in der thatenleeren Öde? Es bleibt
dem Sonnenaar auf den „eisigen Hohen" nichts übrig, als die Kraft der über¬
schäumenden Leiblichkeit, die sich entladen muß, zu Purzelbäumen zu verwenden,
oder — das Ich in Selbstqual zu zerreiben. Das Ende ist der — Selbst¬
mord. Und wirklich sagt Nietzsche: der Gedanke um den Selbstmord ist ein
starkes Trvstmittel: mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg.
Aber ein Thatenmensch ohne Thaten ist ein Unding. Der Einsame, als
Schlußpunkt im Nictzscheschen Weltplane, ist Inkonsequenz, logischer Wider¬
spruch und lauter Protest gegen alle Prämissen.

Zudem ist es mit aller Naturbetrachtung unvereinbar, wenn Nietzsche sagt,
es liege im Wesen der Natur, Gewaltmenschen hervorzubringen, und alle Ent¬
wicklung laufe nur auf die Züchtung des Einsamen, des Übermenschen hinaus,
der den einzigen Kulturwert darstelle. Denn in der Natur herrscht die Regel,
nicht die Ausnahme.

Überblickt man aber den Gesamtverlauf der Entwicklung, so ist doch sehr
fraglich, ob Nietzsche mit diesen Träumen von einem Asgard des zwanzigsten
Jahrhunderts, mit seiner „Fabrik von Asen" dem Verfall wieder aufhelfen


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[0091] Die Philosophie vom Übermenschen Übermensch ist das letzte Produkt der Menschheit, dem „Hunderte, tausende von Durchschnittsmenschen hingeopfert werden, damit er da sei," der wie ein Riese steht unter Pygmäen, ein Bahnbrecher, Gesetzgeber, Menschenverächter, Tempelschänder, der nicht die Rache und die Pereats der Menge fürchtet, uicht durch die eigne Gewissensqual gelähmt wird, der es aber müde wird, über Sklaven zu herrschen und um den Abscheu vor der pöbelhafter Gemein¬ heit, vor dein „Menschen" loszuwerden, in die Einsamkeit geht. Auf dem Markte des Lebens, wo die schwächliche Mittelmäßigkeit herrscht, ist nicht sein Platz. Abermals merkwürdig: vor der Macht der Ohnmacht zieht sich der Herrscher ins öde Nichts der Wüste zurück und begnügt sich mit dem „Ekel des vornehmen Geistes, mit unserm lärmenden und pöbelhafter Zeitalter aus einer Schüssel essen zu müssen." Denn von allem muß sich der Vornehme frei machen, ,,von jeder Person, auch der geliebtesten, vom Vaterland, vom Mitleid, von der Wissenschaft, von seiner eignen Loslösung (!), von seinen Tugenden," nur sich selbst, seine souveräne Individualität muß er zu bewahren wissen. Also un¬ abhängig von allem und nichts außer sich selbst achtend, hat die vornehme Seele,,Ehrfurcht vor sich selbst." In die weltferne Einsamkeit entrückt, schwingt sie sich unter dem Weihrauch eines pietätvollen Jchtultus zur „dionysischen Begeistrung" auf. Faßt man dieses Ziel der Entwicklung ins Ange, so drängt sich jedem Verstündigen die Frage auf: Was soll der Kultur ein Asgard von Asen helfen, die in und von der Einsamkeit leben, von Riesen, Thaten- und Gewaltmenschen, die über Sklaven zu herrschen müde geworden sind und sich aus der Welt des Lebens tapfer kämpfend, nein, nicht einmal tapfer kämpfend, zurückziehen? Was wollen sie denn in der Einsamkeit, in der thatenleeren Öde? Es bleibt dem Sonnenaar auf den „eisigen Hohen" nichts übrig, als die Kraft der über¬ schäumenden Leiblichkeit, die sich entladen muß, zu Purzelbäumen zu verwenden, oder — das Ich in Selbstqual zu zerreiben. Das Ende ist der — Selbst¬ mord. Und wirklich sagt Nietzsche: der Gedanke um den Selbstmord ist ein starkes Trvstmittel: mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg. Aber ein Thatenmensch ohne Thaten ist ein Unding. Der Einsame, als Schlußpunkt im Nictzscheschen Weltplane, ist Inkonsequenz, logischer Wider¬ spruch und lauter Protest gegen alle Prämissen. Zudem ist es mit aller Naturbetrachtung unvereinbar, wenn Nietzsche sagt, es liege im Wesen der Natur, Gewaltmenschen hervorzubringen, und alle Ent¬ wicklung laufe nur auf die Züchtung des Einsamen, des Übermenschen hinaus, der den einzigen Kulturwert darstelle. Denn in der Natur herrscht die Regel, nicht die Ausnahme. Überblickt man aber den Gesamtverlauf der Entwicklung, so ist doch sehr fraglich, ob Nietzsche mit diesen Träumen von einem Asgard des zwanzigsten Jahrhunderts, mit seiner „Fabrik von Asen" dem Verfall wieder aufhelfen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/91>, abgerufen am 23.07.2024.