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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie vom Übermenschen

einer Zeit oder die Idee eines großen Einzelnen, ist an sich unvollkommen,
aber als Unterstufe für den aufsteigenden Gang der Volksentwicklung be¬
berechtigt, vielleicht sogar notwendig. Keine Einzelperson und keine Einzel¬
erkenntnis darf den Anspruch ans unbedingte Geltung für alle Zeiten und
Volker erheben, wohl aber liefert der Gesamtverlauf der Weltentwicklung die
allgemein wertvollen und bleibenden Wahrheiten. "Werte schaffen" demnach
nicht nur die Herren, sondern auch die Dienenden.

Nietzsche ist aus seineu Voraussetzungen heraus gezwungen, dies Werte-
schasfen als Herrenrecht zu fordern, weil er aus diesem auf das sittliche Gebiet
hinübergespielten Vorrecht seine Unterscheidung einer Herren- und einer Sklaven¬
moral ableitet. Als sittlicher Wert oder Unwert, behauptet er, ist nnr an¬
zusehen, was der Herr als solchen bestimmt. In ihrer mächtigen Leiblichkeit,
ihrer blühenden Gesundheit und überschäumenden Kraft lieben die Herren
starkes, freies, frohgemutes Handeln, sie freuen sich ihres Daseins und ihrer
Kraft, sie ehren, was sie an sich selbst sehen, und nennen wertvoll das Gefühl
der Fülle und der Kraft, das Glück der hohen Spannung, das Bewußtsein
des Reichtums, verächtlich aber alles, was dem Hochgefühl des Sklaven zu¬
wider ist. Die Herrenmoral also ist Verherrlichung des Ichs. Der Herr ist
es, der die Werte "gut" und "schlecht" schafft; "gut" ist alles, was er selbst thut,
"schlecht," niedrig, verächtlich, gemein, pöbelhaft, was er am Sklaven sieht. Für
ihn lautet der Gegensatz "gut und schlecht," nicht "gut und böse." Anders beim
Sklaven. Diesem erscheint unter dem blutigen Drucke seines Verfolgers als
Lichtgestalt, wer ihm sein Leiden mildert und sein Dasein verklärt. Das
Mitleiden, die gefällige, hilfbereite Hand, das warme Herz , Geduld, Demut,
Güte, Sanftmut, Freundlichkeit -- das sind die "guten" Mächte, die "guten"
sittlichen Werte. Aber die Tugenden des Thrannen, seine wilden Blutinstinkte,
die Lust zur Vergewaltigung, der Vernichtungstrieb, seine Macht, wehe zu
thun, alles Dinge, die dem Herrn "gut" scheinen, schädigen den Sklaven, er
fürchtet sie als verderbliche Mächte und nennt sie "böse," nicht "schlecht."
Also in beiden Moralen tritt der Begriff "gut" auf, aber in verschiednen
Sinne: der Sklave nennt "gut" den mitleidig helfenden, der Herr den Furcht-
erregcr, der seinerseits dem "Giftauge des Unterdrückten" als "böse" erscheint.
Aber der Herr hat mit diesem Gegensatze der Sklavenmoral nichts mehr zu
thun, er steht "jenseits von gut und böse"; er soll sich von dem entnervenden
Prinzip des "gut und böse" befreien und die ihm einzig und allein auslesende
Art zu urteilen annehmen, seine stolzen, freien Instinkte "gut," die Schwachheit,
Angst und Furcht des kleinen Mannes "schlecht" und verächtlich nennen.

Wenigstens wäre das der einzige Weg, das Geschlecht von seiner jämmer¬
lichen Gesellschaftsmoral, der Entartung und dem Verfall zu retten. Ist dem
Starken das gelungen, denn wird er fähig sei", "eiuen neuen, höhern,
schönern, mächtigern Typus Mensch, den Übermenschen hervorzubringen." Der


Die Philosophie vom Übermenschen

einer Zeit oder die Idee eines großen Einzelnen, ist an sich unvollkommen,
aber als Unterstufe für den aufsteigenden Gang der Volksentwicklung be¬
berechtigt, vielleicht sogar notwendig. Keine Einzelperson und keine Einzel¬
erkenntnis darf den Anspruch ans unbedingte Geltung für alle Zeiten und
Volker erheben, wohl aber liefert der Gesamtverlauf der Weltentwicklung die
allgemein wertvollen und bleibenden Wahrheiten. „Werte schaffen" demnach
nicht nur die Herren, sondern auch die Dienenden.

Nietzsche ist aus seineu Voraussetzungen heraus gezwungen, dies Werte-
schasfen als Herrenrecht zu fordern, weil er aus diesem auf das sittliche Gebiet
hinübergespielten Vorrecht seine Unterscheidung einer Herren- und einer Sklaven¬
moral ableitet. Als sittlicher Wert oder Unwert, behauptet er, ist nnr an¬
zusehen, was der Herr als solchen bestimmt. In ihrer mächtigen Leiblichkeit,
ihrer blühenden Gesundheit und überschäumenden Kraft lieben die Herren
starkes, freies, frohgemutes Handeln, sie freuen sich ihres Daseins und ihrer
Kraft, sie ehren, was sie an sich selbst sehen, und nennen wertvoll das Gefühl
der Fülle und der Kraft, das Glück der hohen Spannung, das Bewußtsein
des Reichtums, verächtlich aber alles, was dem Hochgefühl des Sklaven zu¬
wider ist. Die Herrenmoral also ist Verherrlichung des Ichs. Der Herr ist
es, der die Werte „gut" und „schlecht" schafft; „gut" ist alles, was er selbst thut,
„schlecht," niedrig, verächtlich, gemein, pöbelhaft, was er am Sklaven sieht. Für
ihn lautet der Gegensatz „gut und schlecht," nicht „gut und böse." Anders beim
Sklaven. Diesem erscheint unter dem blutigen Drucke seines Verfolgers als
Lichtgestalt, wer ihm sein Leiden mildert und sein Dasein verklärt. Das
Mitleiden, die gefällige, hilfbereite Hand, das warme Herz , Geduld, Demut,
Güte, Sanftmut, Freundlichkeit — das sind die „guten" Mächte, die „guten"
sittlichen Werte. Aber die Tugenden des Thrannen, seine wilden Blutinstinkte,
die Lust zur Vergewaltigung, der Vernichtungstrieb, seine Macht, wehe zu
thun, alles Dinge, die dem Herrn „gut" scheinen, schädigen den Sklaven, er
fürchtet sie als verderbliche Mächte und nennt sie „böse," nicht „schlecht."
Also in beiden Moralen tritt der Begriff „gut" auf, aber in verschiednen
Sinne: der Sklave nennt „gut" den mitleidig helfenden, der Herr den Furcht-
erregcr, der seinerseits dem „Giftauge des Unterdrückten" als „böse" erscheint.
Aber der Herr hat mit diesem Gegensatze der Sklavenmoral nichts mehr zu
thun, er steht „jenseits von gut und böse"; er soll sich von dem entnervenden
Prinzip des „gut und böse" befreien und die ihm einzig und allein auslesende
Art zu urteilen annehmen, seine stolzen, freien Instinkte „gut," die Schwachheit,
Angst und Furcht des kleinen Mannes „schlecht" und verächtlich nennen.

Wenigstens wäre das der einzige Weg, das Geschlecht von seiner jämmer¬
lichen Gesellschaftsmoral, der Entartung und dem Verfall zu retten. Ist dem
Starken das gelungen, denn wird er fähig sei«, „eiuen neuen, höhern,
schönern, mächtigern Typus Mensch, den Übermenschen hervorzubringen." Der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/90>, abgerufen am 23.07.2024.