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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie vom Übermenschen

gesetz der Dinge begründet. Er nimmt ihn hin ohne jedes Fragezeichen, auch
ohne Gefühle von Härte, Zwang, Willkür. Was ist denn Willkür des Herrn?
Er bildet sich die Formen des Lebens, seines Handelns und Empfindens aus
eigner Machtvollkommenheit. Sein Wille ist höchstes Gesetz, sein Egoismus
die Gerechtigkeit selbst. Selbst wenn die vornehme Seele zugesteht, daß es
neben ihr Gleichberechtigte in der Kaste gebe, so gesteht sie das lediglich ihrem
Ich zu. Das Zugeständnis ist ein Stück ihres Jchknltus mehr, weil sie mit
dieser scheinbaren, ausgeklügelten Selbstbeschränkung im Verkehr mit ihres¬
gleichen sich selbst, eben das Herren-Ich in den Genossen ehrt.

Den Kulturfortschritt verbürgt die Rasse der gesunden Aristokraten, die
sich als "Zweck und Sinn der menschlichen Gesellschaft" zu fühlen haben, den
Rückschritt das Herdenvolk, das -- merkwürdigerweise -- bisher zwar immer
die Rolle des Siegers gegen die Herren gespielt hat, das aber nach Nietzsche
seinen Wert und seine Berechtigung darin hat, daß es die Existenz der Aristo¬
kraten und durch diese die Kultur und ihre Steigerung ermöglicht. Das ist
die Fußschemelrvlle, die Nietzsche dem Volke, der Masse anweist. Von der
geschichtlichen Betrachtung, die an dieser Stelle von nöten gewesen wäre, sieht
er klugerweise ab. Die Verallgemeinerung der Lebensgüter und Lebensrechte,
das Streben nach Gleichheit und innerer Gliederung, die Demokratisirnng der
Massen ist Raub am Herrenrecht und bedeutet eine Verfallsform der Gesell¬
schaft und des Menschen selbst. Das allen Gemeine, sagt er, kann nur das
Gemeine sein. Großes, Tiefes, Seltenes kann immer mir für große, tiefe und
seltene Menschen, d. h. sür die Aristokraten da sein. Sklaverei und Ausbeutung,
d. h. Besiegter und Sieger, eine dienende und eine genießende Klasse müssen
sein, weil sie Bedingungen für jede Erhöhung der Kultur sind, weil ohne sie keine
Aristokratie mit dem "Pathos der Distanz" bestehen kann, weil es ohne sie
leine Ausbeutung der Gesellschaft gäbe, die eine notwendige Lebensäußerung,
Pflicht und Recht des Vornehmen ist.

Auch in diesen Gedanken ist der Wert, den eine gesunde Aristokratie, der
bedeutende Mensch, "der erleuchtete Despot" ohne Zweifel für den Kultur¬
fortschritt hat, in einseitiger Weise übertrieben. Mau kann Nietzsche bis
zu einem gewissen Grade die Kultnrwidrigkeit der demokratischen Verflachung
zugeben; aber es widerspricht aller geschichtlichen Anschauung, Aristokratie und
Plebs, Herren und Sklaven, als Kulturschöpfer zu trennen. Gewiß, die Großen,
Vornehmen sind die Pfadfinder der Kultur, sie vor allen andern schaffen die
Werte, sie steigern die Kultur, aber weitsichtig und klug sind sie nur dann, wenn
sie die Massen an dem Kulturfortschritt beteiligen. Eine vernünftige Aristo¬
kratie naße sich uicht an, daß die Gesellschaft nur um ihretwillen da sei, und
behauptet ihre Vorteile und Vorrechte, wie Carlyle sagt, uicht im eignen
Interesse, sondern zur Hebung und Veredlung des Gesamtorganismus, sie hat
also einen ethischen Zug. Jede Erkenntnis, sei es die Durchschnittserkenntnis


Greuzboien IV ,892 11
Die Philosophie vom Übermenschen

gesetz der Dinge begründet. Er nimmt ihn hin ohne jedes Fragezeichen, auch
ohne Gefühle von Härte, Zwang, Willkür. Was ist denn Willkür des Herrn?
Er bildet sich die Formen des Lebens, seines Handelns und Empfindens aus
eigner Machtvollkommenheit. Sein Wille ist höchstes Gesetz, sein Egoismus
die Gerechtigkeit selbst. Selbst wenn die vornehme Seele zugesteht, daß es
neben ihr Gleichberechtigte in der Kaste gebe, so gesteht sie das lediglich ihrem
Ich zu. Das Zugeständnis ist ein Stück ihres Jchknltus mehr, weil sie mit
dieser scheinbaren, ausgeklügelten Selbstbeschränkung im Verkehr mit ihres¬
gleichen sich selbst, eben das Herren-Ich in den Genossen ehrt.

Den Kulturfortschritt verbürgt die Rasse der gesunden Aristokraten, die
sich als „Zweck und Sinn der menschlichen Gesellschaft" zu fühlen haben, den
Rückschritt das Herdenvolk, das — merkwürdigerweise — bisher zwar immer
die Rolle des Siegers gegen die Herren gespielt hat, das aber nach Nietzsche
seinen Wert und seine Berechtigung darin hat, daß es die Existenz der Aristo¬
kraten und durch diese die Kultur und ihre Steigerung ermöglicht. Das ist
die Fußschemelrvlle, die Nietzsche dem Volke, der Masse anweist. Von der
geschichtlichen Betrachtung, die an dieser Stelle von nöten gewesen wäre, sieht
er klugerweise ab. Die Verallgemeinerung der Lebensgüter und Lebensrechte,
das Streben nach Gleichheit und innerer Gliederung, die Demokratisirnng der
Massen ist Raub am Herrenrecht und bedeutet eine Verfallsform der Gesell¬
schaft und des Menschen selbst. Das allen Gemeine, sagt er, kann nur das
Gemeine sein. Großes, Tiefes, Seltenes kann immer mir für große, tiefe und
seltene Menschen, d. h. sür die Aristokraten da sein. Sklaverei und Ausbeutung,
d. h. Besiegter und Sieger, eine dienende und eine genießende Klasse müssen
sein, weil sie Bedingungen für jede Erhöhung der Kultur sind, weil ohne sie keine
Aristokratie mit dem „Pathos der Distanz" bestehen kann, weil es ohne sie
leine Ausbeutung der Gesellschaft gäbe, die eine notwendige Lebensäußerung,
Pflicht und Recht des Vornehmen ist.

Auch in diesen Gedanken ist der Wert, den eine gesunde Aristokratie, der
bedeutende Mensch, „der erleuchtete Despot" ohne Zweifel für den Kultur¬
fortschritt hat, in einseitiger Weise übertrieben. Mau kann Nietzsche bis
zu einem gewissen Grade die Kultnrwidrigkeit der demokratischen Verflachung
zugeben; aber es widerspricht aller geschichtlichen Anschauung, Aristokratie und
Plebs, Herren und Sklaven, als Kulturschöpfer zu trennen. Gewiß, die Großen,
Vornehmen sind die Pfadfinder der Kultur, sie vor allen andern schaffen die
Werte, sie steigern die Kultur, aber weitsichtig und klug sind sie nur dann, wenn
sie die Massen an dem Kulturfortschritt beteiligen. Eine vernünftige Aristo¬
kratie naße sich uicht an, daß die Gesellschaft nur um ihretwillen da sei, und
behauptet ihre Vorteile und Vorrechte, wie Carlyle sagt, uicht im eignen
Interesse, sondern zur Hebung und Veredlung des Gesamtorganismus, sie hat
also einen ethischen Zug. Jede Erkenntnis, sei es die Durchschnittserkenntnis


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/89>, abgerufen am 23.07.2024.