Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Philosophie vom Übermenschen

Schwächern -- das ist das Lebensideal. Der "Edle," der "Vornehme," der
"Held" ist an ein "natürliches" Gesetz gebunden, an die nach Entfaltung,
Bethätigung ringenden Instinkte, d. h. an die Rücksichtslosigkeit und Willkür
des Raubtiers in ihm; Verbreitung von Furcht, Entsetzen, Schrecken, Grauen,
Tod -- das ist seine Aufgabe. Die Unterdrückung der tierischen Instinkte in
der blonden Bestie durch das Gewissen, das ist die Krankheit, die Befrie¬
digung der Begierden, das ist die Gesundheit der Nasse. Damit darüber kein
Zweifel bleibe, sagt Nietzsche: "Man muß hier gründlich auf deu Grund denken
und sich aller schwächlichen Empfindsamkeit erwehren: Grundprinzip der Ge¬
sellschaft ist Wille zur Verneinung des Lebens." Und an einer andern Stelle:
"Die Grausamkeit ist die große Festfreude der Menschheit. Leiden sehen thut
wohl, Leiden machen thut wohler: das ist ein harter Satz, aber ein alter,
mächtiger, menschlich-allzumenschlicher Satz." Der Typus des wahren Menschen-
tums wäre also der von der Fessel des Herkommens, der Sitte, des Gebots
losgebundne Mensch, der Verbrecher.

Ein Satz Carlhles, von ihm in seinem Usro vorMix entwickelt, lautet: Der
Retter der Menschheit ist der "Held." Aber wie himmelweit verschieden versteht
ihn der Engländer, der "Wirrkopf," wie ihn Nietzsche nennt! Die Geschichte dessen,
was der Mensch in dieser Welt vollbracht hat, sagt Carlyle, ist nichts andres
als die Geschichte der heldenhaften Männer. Sie waren die VvlkSführer, die
geistigen Bildner der Masse, die Schöpfer des Volksgeistes. Auch Carlyle läßt zwar
alles Große durch den Helden geschehen, aber er stellt ihn in den Dienst einer
höhern Knlturidee, in deu Dienst des Volksgeistes, der Bildung der Massen,
der Menschheit, während Nietzsche den "Edeln" lediglich seine eigne Größe "gleich
dem Bären in der Menagerie" zeigen läßt- Aleibiades, Caesar, Kaiser Friedrich
der Zweite, Cesare Borgia, Napoleon sind denn auch seine Lieblingsgestalten,
denen Carlyle einen Muhammed, Oliver Cromwell und Luther gegenüberstellt.

Die geschichtliche Thatsache, daß die Kraft, die Macht, die "Größe"
des Edeltypns auf der ganzen Linie den Vorkämpfern der Herdenkultur, den
Armen, Feigen, Listigen, Schwachen, das stolze Römcrtnm z. B. der
verachteten und weltfremden Christenmoral hat weichen müssen, daß die
Haustiere in ihrer Zahmheit über die blutige Despotie der Raubtiere den
Sieg davon getragen haben, macht Nietzsche keine Bedenken. Ebenso wenig findet
die Frage, ob der Mensch, der ein Spielball seiner wilden Triebe ist, der, von
den Gesetzen der Menschlichkeit befreit, sich in den sklavischen Dienst seiner
selbstischen Instinkte schlagen läßt, also lediglich den Herrn wechselt, wahrhaft
frei, wahrhaft groß und edel sei, eine Antwort. Herr seiner selbst ist er nicht
mehr. In dem wilden Strudel der Machttriebe ist das Ich untergegangen,
ein Neutrum geworden, ein r<zZW8, aber kein rootor.

Die Selbstsucht, sagt Nietzsche weiter, gehört zum Wesen der vornehmen
Seele. Der Egoismus ist das Leben. Dieser Satz ist für den Herrn im Ur-


Die Philosophie vom Übermenschen

Schwächern — das ist das Lebensideal. Der „Edle," der „Vornehme," der
„Held" ist an ein „natürliches" Gesetz gebunden, an die nach Entfaltung,
Bethätigung ringenden Instinkte, d. h. an die Rücksichtslosigkeit und Willkür
des Raubtiers in ihm; Verbreitung von Furcht, Entsetzen, Schrecken, Grauen,
Tod — das ist seine Aufgabe. Die Unterdrückung der tierischen Instinkte in
der blonden Bestie durch das Gewissen, das ist die Krankheit, die Befrie¬
digung der Begierden, das ist die Gesundheit der Nasse. Damit darüber kein
Zweifel bleibe, sagt Nietzsche: „Man muß hier gründlich auf deu Grund denken
und sich aller schwächlichen Empfindsamkeit erwehren: Grundprinzip der Ge¬
sellschaft ist Wille zur Verneinung des Lebens." Und an einer andern Stelle:
„Die Grausamkeit ist die große Festfreude der Menschheit. Leiden sehen thut
wohl, Leiden machen thut wohler: das ist ein harter Satz, aber ein alter,
mächtiger, menschlich-allzumenschlicher Satz." Der Typus des wahren Menschen-
tums wäre also der von der Fessel des Herkommens, der Sitte, des Gebots
losgebundne Mensch, der Verbrecher.

Ein Satz Carlhles, von ihm in seinem Usro vorMix entwickelt, lautet: Der
Retter der Menschheit ist der „Held." Aber wie himmelweit verschieden versteht
ihn der Engländer, der „Wirrkopf," wie ihn Nietzsche nennt! Die Geschichte dessen,
was der Mensch in dieser Welt vollbracht hat, sagt Carlyle, ist nichts andres
als die Geschichte der heldenhaften Männer. Sie waren die VvlkSführer, die
geistigen Bildner der Masse, die Schöpfer des Volksgeistes. Auch Carlyle läßt zwar
alles Große durch den Helden geschehen, aber er stellt ihn in den Dienst einer
höhern Knlturidee, in deu Dienst des Volksgeistes, der Bildung der Massen,
der Menschheit, während Nietzsche den „Edeln" lediglich seine eigne Größe „gleich
dem Bären in der Menagerie" zeigen läßt- Aleibiades, Caesar, Kaiser Friedrich
der Zweite, Cesare Borgia, Napoleon sind denn auch seine Lieblingsgestalten,
denen Carlyle einen Muhammed, Oliver Cromwell und Luther gegenüberstellt.

Die geschichtliche Thatsache, daß die Kraft, die Macht, die „Größe"
des Edeltypns auf der ganzen Linie den Vorkämpfern der Herdenkultur, den
Armen, Feigen, Listigen, Schwachen, das stolze Römcrtnm z. B. der
verachteten und weltfremden Christenmoral hat weichen müssen, daß die
Haustiere in ihrer Zahmheit über die blutige Despotie der Raubtiere den
Sieg davon getragen haben, macht Nietzsche keine Bedenken. Ebenso wenig findet
die Frage, ob der Mensch, der ein Spielball seiner wilden Triebe ist, der, von
den Gesetzen der Menschlichkeit befreit, sich in den sklavischen Dienst seiner
selbstischen Instinkte schlagen läßt, also lediglich den Herrn wechselt, wahrhaft
frei, wahrhaft groß und edel sei, eine Antwort. Herr seiner selbst ist er nicht
mehr. In dem wilden Strudel der Machttriebe ist das Ich untergegangen,
ein Neutrum geworden, ein r<zZW8, aber kein rootor.

Die Selbstsucht, sagt Nietzsche weiter, gehört zum Wesen der vornehmen
Seele. Der Egoismus ist das Leben. Dieser Satz ist für den Herrn im Ur-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0088" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213202"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Philosophie vom Übermenschen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_223" prev="#ID_222"> Schwächern &#x2014; das ist das Lebensideal. Der &#x201E;Edle," der &#x201E;Vornehme," der<lb/>
&#x201E;Held" ist an ein &#x201E;natürliches" Gesetz gebunden, an die nach Entfaltung,<lb/>
Bethätigung ringenden Instinkte, d. h. an die Rücksichtslosigkeit und Willkür<lb/>
des Raubtiers in ihm; Verbreitung von Furcht, Entsetzen, Schrecken, Grauen,<lb/>
Tod &#x2014; das ist seine Aufgabe. Die Unterdrückung der tierischen Instinkte in<lb/>
der blonden Bestie durch das Gewissen, das ist die Krankheit, die Befrie¬<lb/>
digung der Begierden, das ist die Gesundheit der Nasse. Damit darüber kein<lb/>
Zweifel bleibe, sagt Nietzsche: &#x201E;Man muß hier gründlich auf deu Grund denken<lb/>
und sich aller schwächlichen Empfindsamkeit erwehren: Grundprinzip der Ge¬<lb/>
sellschaft ist Wille zur Verneinung des Lebens." Und an einer andern Stelle:<lb/>
&#x201E;Die Grausamkeit ist die große Festfreude der Menschheit. Leiden sehen thut<lb/>
wohl, Leiden machen thut wohler: das ist ein harter Satz, aber ein alter,<lb/>
mächtiger, menschlich-allzumenschlicher Satz." Der Typus des wahren Menschen-<lb/>
tums wäre also der von der Fessel des Herkommens, der Sitte, des Gebots<lb/>
losgebundne Mensch, der Verbrecher.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_224"> Ein Satz Carlhles, von ihm in seinem Usro vorMix entwickelt, lautet: Der<lb/>
Retter der Menschheit ist der &#x201E;Held." Aber wie himmelweit verschieden versteht<lb/>
ihn der Engländer, der &#x201E;Wirrkopf," wie ihn Nietzsche nennt! Die Geschichte dessen,<lb/>
was der Mensch in dieser Welt vollbracht hat, sagt Carlyle, ist nichts andres<lb/>
als die Geschichte der heldenhaften Männer. Sie waren die VvlkSführer, die<lb/>
geistigen Bildner der Masse, die Schöpfer des Volksgeistes. Auch Carlyle läßt zwar<lb/>
alles Große durch den Helden geschehen, aber er stellt ihn in den Dienst einer<lb/>
höhern Knlturidee, in deu Dienst des Volksgeistes, der Bildung der Massen,<lb/>
der Menschheit, während Nietzsche den &#x201E;Edeln" lediglich seine eigne Größe &#x201E;gleich<lb/>
dem Bären in der Menagerie" zeigen läßt- Aleibiades, Caesar, Kaiser Friedrich<lb/>
der Zweite, Cesare Borgia, Napoleon sind denn auch seine Lieblingsgestalten,<lb/>
denen Carlyle einen Muhammed, Oliver Cromwell und Luther gegenüberstellt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_225"> Die geschichtliche Thatsache, daß die Kraft, die Macht, die &#x201E;Größe"<lb/>
des Edeltypns auf der ganzen Linie den Vorkämpfern der Herdenkultur, den<lb/>
Armen, Feigen, Listigen, Schwachen, das stolze Römcrtnm z. B. der<lb/>
verachteten und weltfremden Christenmoral hat weichen müssen, daß die<lb/>
Haustiere in ihrer Zahmheit über die blutige Despotie der Raubtiere den<lb/>
Sieg davon getragen haben, macht Nietzsche keine Bedenken. Ebenso wenig findet<lb/>
die Frage, ob der Mensch, der ein Spielball seiner wilden Triebe ist, der, von<lb/>
den Gesetzen der Menschlichkeit befreit, sich in den sklavischen Dienst seiner<lb/>
selbstischen Instinkte schlagen läßt, also lediglich den Herrn wechselt, wahrhaft<lb/>
frei, wahrhaft groß und edel sei, eine Antwort. Herr seiner selbst ist er nicht<lb/>
mehr. In dem wilden Strudel der Machttriebe ist das Ich untergegangen,<lb/>
ein Neutrum geworden, ein r&lt;zZW8, aber kein rootor.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_226" next="#ID_227"> Die Selbstsucht, sagt Nietzsche weiter, gehört zum Wesen der vornehmen<lb/>
Seele.  Der Egoismus ist das Leben. Dieser Satz ist für den Herrn im Ur-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0088] Die Philosophie vom Übermenschen Schwächern — das ist das Lebensideal. Der „Edle," der „Vornehme," der „Held" ist an ein „natürliches" Gesetz gebunden, an die nach Entfaltung, Bethätigung ringenden Instinkte, d. h. an die Rücksichtslosigkeit und Willkür des Raubtiers in ihm; Verbreitung von Furcht, Entsetzen, Schrecken, Grauen, Tod — das ist seine Aufgabe. Die Unterdrückung der tierischen Instinkte in der blonden Bestie durch das Gewissen, das ist die Krankheit, die Befrie¬ digung der Begierden, das ist die Gesundheit der Nasse. Damit darüber kein Zweifel bleibe, sagt Nietzsche: „Man muß hier gründlich auf deu Grund denken und sich aller schwächlichen Empfindsamkeit erwehren: Grundprinzip der Ge¬ sellschaft ist Wille zur Verneinung des Lebens." Und an einer andern Stelle: „Die Grausamkeit ist die große Festfreude der Menschheit. Leiden sehen thut wohl, Leiden machen thut wohler: das ist ein harter Satz, aber ein alter, mächtiger, menschlich-allzumenschlicher Satz." Der Typus des wahren Menschen- tums wäre also der von der Fessel des Herkommens, der Sitte, des Gebots losgebundne Mensch, der Verbrecher. Ein Satz Carlhles, von ihm in seinem Usro vorMix entwickelt, lautet: Der Retter der Menschheit ist der „Held." Aber wie himmelweit verschieden versteht ihn der Engländer, der „Wirrkopf," wie ihn Nietzsche nennt! Die Geschichte dessen, was der Mensch in dieser Welt vollbracht hat, sagt Carlyle, ist nichts andres als die Geschichte der heldenhaften Männer. Sie waren die VvlkSführer, die geistigen Bildner der Masse, die Schöpfer des Volksgeistes. Auch Carlyle läßt zwar alles Große durch den Helden geschehen, aber er stellt ihn in den Dienst einer höhern Knlturidee, in deu Dienst des Volksgeistes, der Bildung der Massen, der Menschheit, während Nietzsche den „Edeln" lediglich seine eigne Größe „gleich dem Bären in der Menagerie" zeigen läßt- Aleibiades, Caesar, Kaiser Friedrich der Zweite, Cesare Borgia, Napoleon sind denn auch seine Lieblingsgestalten, denen Carlyle einen Muhammed, Oliver Cromwell und Luther gegenüberstellt. Die geschichtliche Thatsache, daß die Kraft, die Macht, die „Größe" des Edeltypns auf der ganzen Linie den Vorkämpfern der Herdenkultur, den Armen, Feigen, Listigen, Schwachen, das stolze Römcrtnm z. B. der verachteten und weltfremden Christenmoral hat weichen müssen, daß die Haustiere in ihrer Zahmheit über die blutige Despotie der Raubtiere den Sieg davon getragen haben, macht Nietzsche keine Bedenken. Ebenso wenig findet die Frage, ob der Mensch, der ein Spielball seiner wilden Triebe ist, der, von den Gesetzen der Menschlichkeit befreit, sich in den sklavischen Dienst seiner selbstischen Instinkte schlagen läßt, also lediglich den Herrn wechselt, wahrhaft frei, wahrhaft groß und edel sei, eine Antwort. Herr seiner selbst ist er nicht mehr. In dem wilden Strudel der Machttriebe ist das Ich untergegangen, ein Neutrum geworden, ein r<zZW8, aber kein rootor. Die Selbstsucht, sagt Nietzsche weiter, gehört zum Wesen der vornehmen Seele. Der Egoismus ist das Leben. Dieser Satz ist für den Herrn im Ur-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/88
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/88>, abgerufen am 23.07.2024.