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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Ein amerikanischer Socialist

ist sie ganz ebenso Besitzerin davon; sie hat daher mich dasselbe Verfügungs¬
recht darüber. Der Mann kann der Frau so wenig Geld ,,geben," wie der
Unternehmer den Arbeitern Arbeit "geben" kann; was sie verbraucht, das
nimmt sie von ihrem rechtmäßigen Eigentum. Es ist eine thörichte Vor¬
stellung, sagt Gronlund, daß sich zwei Personen, die in Liebe mit einander
verbunden sind, bei völliger Gleichberechtigung aus unlösbaren Konflikten nicht
herausfinden würden. Die gegenwärtige Ehegesetzgebung aller Staaten be¬
zeichnet er, namentlich auch mit Beziehung auf das Vermögensrecht, als bar¬
barisch. Daß bei gegenseitiger Abneigung die Lösung des Ehebandes zu raten
sei, dieser Meinung seien viele sehr angesehene Morallehrer gewesen. Mehr
wollten auch die Sozialisten nicht öd. h. doch wohl nur, die seltnen Sozialsten
von Gronlnnds Art), und es sei daher unrecht, ihnen vorzuwerfen, daß sie
die "freie Liebe" erstrebten. Wenn er sich u. a. auch auf I. G. Fichte beruft,
so scheint er nur abgerissene Sätze aus dessen Sittenlehre, aber nicht den Zu¬
sammenhang zu kennen. Fichte lehrt allerdings, daß es unsittlich sei,
wenn sich ein Weib dem ungeliebten Manne hingebe, aber von Scheidung
sagt er nichts, sondern erklärt die Ehe für unauflöslich. Fehlen die sittlichen
Bedingungen, ist das eheliche Verhältnis nicht so, wie es sein soll, dann,
sagt er mit seiner gewöhnlichen Härte, ,,ist es ein einziges zusammenhängendes
Verbrechen, das der Verbeßrung durch Sittenregeln ganz unfähig ist"; daß
diesem "Verbrechen" durch Trennung ein Ende gemacht werden solle, deutet
er nicht an. Ob der Sozialismus, wenn er zur Herrschaft gelangte, die Pro¬
stitution ausrotten, und ob nicht am Ende das, was er an die Stelle zu
setzen vermöchte, noch schlimmer sein würde, kann natürlich niemand wissen.
Aber darin haben die Sozialisten Recht, daß das Übel dnrch die Anhäufung
von Menschenmassen auf engem Raum, durch die Verspätung des Heiratcns,
durch den Reichtum der einen, die Geld haben, Menschen zu kaufen, und die
Armut der andern, die gezwungen oder wenigstens versucht werden, sich zu
verkaufen, außerordentlich befördert wird, und daß diese drei Erscheinungen
sehr eng mit dem Kapitalismus zusammenhängen; demnach läßt sich annehmen,
daß jede Steigerung dieses Systems auch jenes Übel steigern werde, was immer
auch die Gesetzgeber und Moralisten zu seiner Bekämpfung sagen, schreiben und
thun mögen.

Die Kindererziehung gebührt auch nach Gronlnnd dem Staate. Daß die
Kinder richtig erzogen würden, daran sei der Gesellschaft weit mehr gelegen
als den Eltern. Gegenwärtig vernachlässigten diese ganz allgemein die heilige
Pflicht der Kindererziehung, weil ihnen sowohl die Befähigung als auch die
Mittel fehlten. Im zartesten Alter müßten die Kinder schon auf die Straße,
in die Fabrik, ins Bergwerk. Da die Eltern ohne den Verdienst der Kinder
nicht durchkommen, "so sind sie in Massachusetts, wo ein paar Wochen Schul¬
besuch vom Gesetz vorgeschrieben werden, gezwungen, das Gesetz durch be-


Ein amerikanischer Socialist

ist sie ganz ebenso Besitzerin davon; sie hat daher mich dasselbe Verfügungs¬
recht darüber. Der Mann kann der Frau so wenig Geld ,,geben," wie der
Unternehmer den Arbeitern Arbeit „geben" kann; was sie verbraucht, das
nimmt sie von ihrem rechtmäßigen Eigentum. Es ist eine thörichte Vor¬
stellung, sagt Gronlund, daß sich zwei Personen, die in Liebe mit einander
verbunden sind, bei völliger Gleichberechtigung aus unlösbaren Konflikten nicht
herausfinden würden. Die gegenwärtige Ehegesetzgebung aller Staaten be¬
zeichnet er, namentlich auch mit Beziehung auf das Vermögensrecht, als bar¬
barisch. Daß bei gegenseitiger Abneigung die Lösung des Ehebandes zu raten
sei, dieser Meinung seien viele sehr angesehene Morallehrer gewesen. Mehr
wollten auch die Sozialisten nicht öd. h. doch wohl nur, die seltnen Sozialsten
von Gronlnnds Art), und es sei daher unrecht, ihnen vorzuwerfen, daß sie
die „freie Liebe" erstrebten. Wenn er sich u. a. auch auf I. G. Fichte beruft,
so scheint er nur abgerissene Sätze aus dessen Sittenlehre, aber nicht den Zu¬
sammenhang zu kennen. Fichte lehrt allerdings, daß es unsittlich sei,
wenn sich ein Weib dem ungeliebten Manne hingebe, aber von Scheidung
sagt er nichts, sondern erklärt die Ehe für unauflöslich. Fehlen die sittlichen
Bedingungen, ist das eheliche Verhältnis nicht so, wie es sein soll, dann,
sagt er mit seiner gewöhnlichen Härte, ,,ist es ein einziges zusammenhängendes
Verbrechen, das der Verbeßrung durch Sittenregeln ganz unfähig ist"; daß
diesem „Verbrechen" durch Trennung ein Ende gemacht werden solle, deutet
er nicht an. Ob der Sozialismus, wenn er zur Herrschaft gelangte, die Pro¬
stitution ausrotten, und ob nicht am Ende das, was er an die Stelle zu
setzen vermöchte, noch schlimmer sein würde, kann natürlich niemand wissen.
Aber darin haben die Sozialisten Recht, daß das Übel dnrch die Anhäufung
von Menschenmassen auf engem Raum, durch die Verspätung des Heiratcns,
durch den Reichtum der einen, die Geld haben, Menschen zu kaufen, und die
Armut der andern, die gezwungen oder wenigstens versucht werden, sich zu
verkaufen, außerordentlich befördert wird, und daß diese drei Erscheinungen
sehr eng mit dem Kapitalismus zusammenhängen; demnach läßt sich annehmen,
daß jede Steigerung dieses Systems auch jenes Übel steigern werde, was immer
auch die Gesetzgeber und Moralisten zu seiner Bekämpfung sagen, schreiben und
thun mögen.

Die Kindererziehung gebührt auch nach Gronlnnd dem Staate. Daß die
Kinder richtig erzogen würden, daran sei der Gesellschaft weit mehr gelegen
als den Eltern. Gegenwärtig vernachlässigten diese ganz allgemein die heilige
Pflicht der Kindererziehung, weil ihnen sowohl die Befähigung als auch die
Mittel fehlten. Im zartesten Alter müßten die Kinder schon auf die Straße,
in die Fabrik, ins Bergwerk. Da die Eltern ohne den Verdienst der Kinder
nicht durchkommen, „so sind sie in Massachusetts, wo ein paar Wochen Schul¬
besuch vom Gesetz vorgeschrieben werden, gezwungen, das Gesetz durch be-


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[0082] Ein amerikanischer Socialist ist sie ganz ebenso Besitzerin davon; sie hat daher mich dasselbe Verfügungs¬ recht darüber. Der Mann kann der Frau so wenig Geld ,,geben," wie der Unternehmer den Arbeitern Arbeit „geben" kann; was sie verbraucht, das nimmt sie von ihrem rechtmäßigen Eigentum. Es ist eine thörichte Vor¬ stellung, sagt Gronlund, daß sich zwei Personen, die in Liebe mit einander verbunden sind, bei völliger Gleichberechtigung aus unlösbaren Konflikten nicht herausfinden würden. Die gegenwärtige Ehegesetzgebung aller Staaten be¬ zeichnet er, namentlich auch mit Beziehung auf das Vermögensrecht, als bar¬ barisch. Daß bei gegenseitiger Abneigung die Lösung des Ehebandes zu raten sei, dieser Meinung seien viele sehr angesehene Morallehrer gewesen. Mehr wollten auch die Sozialisten nicht öd. h. doch wohl nur, die seltnen Sozialsten von Gronlnnds Art), und es sei daher unrecht, ihnen vorzuwerfen, daß sie die „freie Liebe" erstrebten. Wenn er sich u. a. auch auf I. G. Fichte beruft, so scheint er nur abgerissene Sätze aus dessen Sittenlehre, aber nicht den Zu¬ sammenhang zu kennen. Fichte lehrt allerdings, daß es unsittlich sei, wenn sich ein Weib dem ungeliebten Manne hingebe, aber von Scheidung sagt er nichts, sondern erklärt die Ehe für unauflöslich. Fehlen die sittlichen Bedingungen, ist das eheliche Verhältnis nicht so, wie es sein soll, dann, sagt er mit seiner gewöhnlichen Härte, ,,ist es ein einziges zusammenhängendes Verbrechen, das der Verbeßrung durch Sittenregeln ganz unfähig ist"; daß diesem „Verbrechen" durch Trennung ein Ende gemacht werden solle, deutet er nicht an. Ob der Sozialismus, wenn er zur Herrschaft gelangte, die Pro¬ stitution ausrotten, und ob nicht am Ende das, was er an die Stelle zu setzen vermöchte, noch schlimmer sein würde, kann natürlich niemand wissen. Aber darin haben die Sozialisten Recht, daß das Übel dnrch die Anhäufung von Menschenmassen auf engem Raum, durch die Verspätung des Heiratcns, durch den Reichtum der einen, die Geld haben, Menschen zu kaufen, und die Armut der andern, die gezwungen oder wenigstens versucht werden, sich zu verkaufen, außerordentlich befördert wird, und daß diese drei Erscheinungen sehr eng mit dem Kapitalismus zusammenhängen; demnach läßt sich annehmen, daß jede Steigerung dieses Systems auch jenes Übel steigern werde, was immer auch die Gesetzgeber und Moralisten zu seiner Bekämpfung sagen, schreiben und thun mögen. Die Kindererziehung gebührt auch nach Gronlnnd dem Staate. Daß die Kinder richtig erzogen würden, daran sei der Gesellschaft weit mehr gelegen als den Eltern. Gegenwärtig vernachlässigten diese ganz allgemein die heilige Pflicht der Kindererziehung, weil ihnen sowohl die Befähigung als auch die Mittel fehlten. Im zartesten Alter müßten die Kinder schon auf die Straße, in die Fabrik, ins Bergwerk. Da die Eltern ohne den Verdienst der Kinder nicht durchkommen, „so sind sie in Massachusetts, wo ein paar Wochen Schul¬ besuch vom Gesetz vorgeschrieben werden, gezwungen, das Gesetz durch be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/82>, abgerufen am 25.08.2024.