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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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!^er das schönste Weihnachtsfest feierte

lassen, ohne zu ihm zu kommen? Er fing an zu weinen, als er daran dachte,
und als er erst einmal angefangen hatte, weinte und weinte er, bis er nicht
wieder aufhören konnte. Aber noch immer kam kein Bescheid für ihn.

Doch was stürzte sich da auf einmal mit einem lauten Aufschrei über
ihn? Es kam so plötzlich, daß er vor Schrecken mit dem Weinen innehielt,
und ehe er sichs versah, war er auf die Straße hinaus gerollt. Hol ihn der
Teufel, den infamen Bengel! Wozu muß er auch gerade da sitzen, wo ich meine
Beine hinsetzen will? Es war die Stimme der Großmutter, die so hinter ihm
ertönte, und die Großmutter war böse, das konnte er hören. Sie hatte
nämlich auch einige Vorbereitungen für diesen Abend getroffen, sie hatte da¬
gesessen und auf Jakob gewartet und konnte nicht begreifen, wo er blieb;
deswegen war sie nun hinausgegangen, um sich nach ihm umzusehen. Daß
sie aber sofort über ihn wegfiel, ärgerte sie, denn es kam ihr sehr über¬
raschend, und sie hatte das Gefühl, daß es undankbar von dem Knaben sei,
sich so im Dunkeln hinzusetzen, gerade da, wo sie vorüber mußte, während
sie doch den ganzen Tag daran gedacht hatte, ihm eine Freude zu machen.

Mach, daß du fortkommst, oder ich werde dir Beine machen! fuhr sie
in ihrem Ärger fort und bemühte sich, selbst wieder auf die Beine zu kommen.
Aber der Unbequemlichkeit, Jakob Beine zu macheu, war sie überhoben, denn
ihre bösen Worte und ihre erzürnte Stimme wurden der Tropfen, der den
Becher überfließen ließ.

Im Grunde war es ja ganz natürlich, daß die Großmutter nicht sonder¬
lich erbaut von dieser Wendung der Dinge war, denn sie hatte alte Beine,
die nicht zum Purzelbaumschlageu eingerichtet waren, und gut gemeint hatte
sie es ja. Aber das alles bedachte Jakob in diesem Augenblick nicht. Er
fand nur, daß sich heute Abend alles gegen ihn verschworen habe, und nun
hatte ihn auch noch die letzte von sich gestoßen, nun war er ganz unglücklich,
und es blieb ihm nichts weiter übrig, als in die finstere Welt hinauszulaufen
und nie wiederzukommen.

Und so lief er denn davon. Von der Dorfstraße gings über die öden,
einsamen Felder, er wußte nicht, wie weit und wie lange er lief. Die nassen
Tropfen wurden zu Schnee, dichter und dichter siel er auf ihn herab,
bedeckte Wege und Stege und hüllte Büsche und Bäume in seinen dichtesten
Schleier, aber Jakob merkte es nicht. Der Wind erhob sich, sauste und
brauste rings um ihn her, riß ihm die Mütze vom Kopf und fuhr unter
seinen geflickten Anzug, aber er dachte nicht daran, sein ganzes Denken ging
darauf, weit, weit hinwegzulaufen, je weiter, desto besser, fort von all seinem
Kummer, von all seiner Verlassenheit. Und er lief und lief mit glühenden
Wangen und keuchender Brust, bis ihm der Atem ausging und er milde" in
Schnee und Sturm gegen etwas anstieß. Da sank er nieder und blieb liegen.

Wo war er nun? Er wußte es nicht, denn Himmel und Erde schwammen
in einander. Aber wo er auch sein mochte, seinem Kummer und seiner Ver¬
lassenheit hatte er nicht entfliehen können. Er war allein; Schnee und Finsternis
lagen rings um ihn her, wie gewaltige Mauern, die ihn von der Welt trennten,
aber sein' Kummer war ihm in die Einsamkeit gefolgt und legte sich ihm
noch tausendmal so schwer aufs Herz.

Ein alter Zaun hatte ihn in seinem Laufe gehemmt, und über ihm hingen
Büsche, die in dem dichten Schneenebel wie drohende Kobolde anzusehen
waren. Wenn man so recht zu ihnen aufsah, konnte man die drohenden Ge-


!^er das schönste Weihnachtsfest feierte

lassen, ohne zu ihm zu kommen? Er fing an zu weinen, als er daran dachte,
und als er erst einmal angefangen hatte, weinte und weinte er, bis er nicht
wieder aufhören konnte. Aber noch immer kam kein Bescheid für ihn.

Doch was stürzte sich da auf einmal mit einem lauten Aufschrei über
ihn? Es kam so plötzlich, daß er vor Schrecken mit dem Weinen innehielt,
und ehe er sichs versah, war er auf die Straße hinaus gerollt. Hol ihn der
Teufel, den infamen Bengel! Wozu muß er auch gerade da sitzen, wo ich meine
Beine hinsetzen will? Es war die Stimme der Großmutter, die so hinter ihm
ertönte, und die Großmutter war böse, das konnte er hören. Sie hatte
nämlich auch einige Vorbereitungen für diesen Abend getroffen, sie hatte da¬
gesessen und auf Jakob gewartet und konnte nicht begreifen, wo er blieb;
deswegen war sie nun hinausgegangen, um sich nach ihm umzusehen. Daß
sie aber sofort über ihn wegfiel, ärgerte sie, denn es kam ihr sehr über¬
raschend, und sie hatte das Gefühl, daß es undankbar von dem Knaben sei,
sich so im Dunkeln hinzusetzen, gerade da, wo sie vorüber mußte, während
sie doch den ganzen Tag daran gedacht hatte, ihm eine Freude zu machen.

Mach, daß du fortkommst, oder ich werde dir Beine machen! fuhr sie
in ihrem Ärger fort und bemühte sich, selbst wieder auf die Beine zu kommen.
Aber der Unbequemlichkeit, Jakob Beine zu macheu, war sie überhoben, denn
ihre bösen Worte und ihre erzürnte Stimme wurden der Tropfen, der den
Becher überfließen ließ.

Im Grunde war es ja ganz natürlich, daß die Großmutter nicht sonder¬
lich erbaut von dieser Wendung der Dinge war, denn sie hatte alte Beine,
die nicht zum Purzelbaumschlageu eingerichtet waren, und gut gemeint hatte
sie es ja. Aber das alles bedachte Jakob in diesem Augenblick nicht. Er
fand nur, daß sich heute Abend alles gegen ihn verschworen habe, und nun
hatte ihn auch noch die letzte von sich gestoßen, nun war er ganz unglücklich,
und es blieb ihm nichts weiter übrig, als in die finstere Welt hinauszulaufen
und nie wiederzukommen.

Und so lief er denn davon. Von der Dorfstraße gings über die öden,
einsamen Felder, er wußte nicht, wie weit und wie lange er lief. Die nassen
Tropfen wurden zu Schnee, dichter und dichter siel er auf ihn herab,
bedeckte Wege und Stege und hüllte Büsche und Bäume in seinen dichtesten
Schleier, aber Jakob merkte es nicht. Der Wind erhob sich, sauste und
brauste rings um ihn her, riß ihm die Mütze vom Kopf und fuhr unter
seinen geflickten Anzug, aber er dachte nicht daran, sein ganzes Denken ging
darauf, weit, weit hinwegzulaufen, je weiter, desto besser, fort von all seinem
Kummer, von all seiner Verlassenheit. Und er lief und lief mit glühenden
Wangen und keuchender Brust, bis ihm der Atem ausging und er milde» in
Schnee und Sturm gegen etwas anstieß. Da sank er nieder und blieb liegen.

Wo war er nun? Er wußte es nicht, denn Himmel und Erde schwammen
in einander. Aber wo er auch sein mochte, seinem Kummer und seiner Ver¬
lassenheit hatte er nicht entfliehen können. Er war allein; Schnee und Finsternis
lagen rings um ihn her, wie gewaltige Mauern, die ihn von der Welt trennten,
aber sein' Kummer war ihm in die Einsamkeit gefolgt und legte sich ihm
noch tausendmal so schwer aufs Herz.

Ein alter Zaun hatte ihn in seinem Laufe gehemmt, und über ihm hingen
Büsche, die in dem dichten Schneenebel wie drohende Kobolde anzusehen
waren. Wenn man so recht zu ihnen aufsah, konnte man die drohenden Ge-


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[0660] !^er das schönste Weihnachtsfest feierte lassen, ohne zu ihm zu kommen? Er fing an zu weinen, als er daran dachte, und als er erst einmal angefangen hatte, weinte und weinte er, bis er nicht wieder aufhören konnte. Aber noch immer kam kein Bescheid für ihn. Doch was stürzte sich da auf einmal mit einem lauten Aufschrei über ihn? Es kam so plötzlich, daß er vor Schrecken mit dem Weinen innehielt, und ehe er sichs versah, war er auf die Straße hinaus gerollt. Hol ihn der Teufel, den infamen Bengel! Wozu muß er auch gerade da sitzen, wo ich meine Beine hinsetzen will? Es war die Stimme der Großmutter, die so hinter ihm ertönte, und die Großmutter war böse, das konnte er hören. Sie hatte nämlich auch einige Vorbereitungen für diesen Abend getroffen, sie hatte da¬ gesessen und auf Jakob gewartet und konnte nicht begreifen, wo er blieb; deswegen war sie nun hinausgegangen, um sich nach ihm umzusehen. Daß sie aber sofort über ihn wegfiel, ärgerte sie, denn es kam ihr sehr über¬ raschend, und sie hatte das Gefühl, daß es undankbar von dem Knaben sei, sich so im Dunkeln hinzusetzen, gerade da, wo sie vorüber mußte, während sie doch den ganzen Tag daran gedacht hatte, ihm eine Freude zu machen. Mach, daß du fortkommst, oder ich werde dir Beine machen! fuhr sie in ihrem Ärger fort und bemühte sich, selbst wieder auf die Beine zu kommen. Aber der Unbequemlichkeit, Jakob Beine zu macheu, war sie überhoben, denn ihre bösen Worte und ihre erzürnte Stimme wurden der Tropfen, der den Becher überfließen ließ. Im Grunde war es ja ganz natürlich, daß die Großmutter nicht sonder¬ lich erbaut von dieser Wendung der Dinge war, denn sie hatte alte Beine, die nicht zum Purzelbaumschlageu eingerichtet waren, und gut gemeint hatte sie es ja. Aber das alles bedachte Jakob in diesem Augenblick nicht. Er fand nur, daß sich heute Abend alles gegen ihn verschworen habe, und nun hatte ihn auch noch die letzte von sich gestoßen, nun war er ganz unglücklich, und es blieb ihm nichts weiter übrig, als in die finstere Welt hinauszulaufen und nie wiederzukommen. Und so lief er denn davon. Von der Dorfstraße gings über die öden, einsamen Felder, er wußte nicht, wie weit und wie lange er lief. Die nassen Tropfen wurden zu Schnee, dichter und dichter siel er auf ihn herab, bedeckte Wege und Stege und hüllte Büsche und Bäume in seinen dichtesten Schleier, aber Jakob merkte es nicht. Der Wind erhob sich, sauste und brauste rings um ihn her, riß ihm die Mütze vom Kopf und fuhr unter seinen geflickten Anzug, aber er dachte nicht daran, sein ganzes Denken ging darauf, weit, weit hinwegzulaufen, je weiter, desto besser, fort von all seinem Kummer, von all seiner Verlassenheit. Und er lief und lief mit glühenden Wangen und keuchender Brust, bis ihm der Atem ausging und er milde» in Schnee und Sturm gegen etwas anstieß. Da sank er nieder und blieb liegen. Wo war er nun? Er wußte es nicht, denn Himmel und Erde schwammen in einander. Aber wo er auch sein mochte, seinem Kummer und seiner Ver¬ lassenheit hatte er nicht entfliehen können. Er war allein; Schnee und Finsternis lagen rings um ihn her, wie gewaltige Mauern, die ihn von der Welt trennten, aber sein' Kummer war ihm in die Einsamkeit gefolgt und legte sich ihm noch tausendmal so schwer aufs Herz. Ein alter Zaun hatte ihn in seinem Laufe gehemmt, und über ihm hingen Büsche, die in dem dichten Schneenebel wie drohende Kobolde anzusehen waren. Wenn man so recht zu ihnen aufsah, konnte man die drohenden Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/660>, abgerufen am 22.12.2024.