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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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unterricht große" Nutzen dringen. Wie der Lehrer der Naturkunde mit seineu
Schillern zum Botanisiren in die freie Natur zieht, so müßte der Geschichts¬
lehrer mit den Jungen durch die Straße" der Stadt wandern, ihnen die alten
Bauwerke zeigen und erklären, sie durch den Augenschein belehren, wie sich das
Stadtleben innerlich und äußerlich in der Folge der Zeiten gestaltet hat; er
müßte den Schülern die alten merkwürdigen Straßennamen deuten, er müßte
sie zu historischen Sammlungen führen, kurz ihr Interesse an geschichtlicher
Entwicklung durch Hinweise auf geschichtliche Beziehungen im täglichen Leben
zu fesseln suchein Und wie wäre es, wenn man, wie es zu Gunsten der
naturwissenschaftlichen Belehrung in Berlin durch die Errichtung des Urania¬
theaters geschah, ein geschichtswissenschaftliches Theater zur volkstümlichen
Belehrung gründete, das geschichtliche Vorgänge weitesten Kreisen lebendig
und anschaulich vorführte? In der Darstellung der Kolumbusfahrt hat die
Urania der Klio schon vorgearbeitet.

Welche Wege und Hilfsmittel aber auch benutzt werden mögen, eins wird
dem Freunde nationaler Erziehung einleuchten: der Geschichtsunterricht muß
aus seiner veralteten Methode herausgerissen werden. Nicht über Athen und
Rom führt der Weg zum Herzen unsers Volks, zum Verständnis der Gegen¬
wart aus der Vergangenheit. Schneiden wir den Zopf mutig ab, wir werdeu
uns an das Neue schnell gewöhnen. Sieben Jahre nach dem Zopf von Jena
hatten wir die Befreiungskriege, mit wesentlich denselben Offizieren. Früher
stellte mau auf Standbildern die Könige und Feldherrn in altrömischer Tracht
dar; jetzt erscheint uns das abgeschmackt. Ähnlich wird uns zu Mute sein,
wenn wir der Überschätzung der Antike für das Geschichtsleben ein Ende machen.
Die instinktive Empfindung unsrer Jungen weist uus deu richtigen Weg. Wir
möchten den begeisternngsfähigen Knaben sehen, dessen Herz trotz aller "klassischen"
Bildung nicht höher schlüge, dessen Interesse nicht reger würde, wenn er die
Namen und Thaten Karls des Großen, Friedrich Barbarossas, Luthers, des
großen .Kurfürsten, des alten Fritz, des alten Blücher vernimmt, als wenn er
"in seinem Plutarch liest von großen Menschen," mögen sie noch so groß,
wie Themistokles und Aristides, wie Cato und Cäsar sein.

Machen wir also dem Minister und der Jngend die Freude, daß im Ge¬
schichtsunterricht diese und "andre zum Ärgernis gewordne Gewohnheiten" auf¬
hören. Ein Mann, den die Verehrer der alten Geschichte gewiß gelten lassen
werden, der alte Diodor, sagt: "Die Geschichte erwirbt der Jugend den Ver¬
stand der Alten." Mögen die Alten dafür sorgen, daß die Jugend nicht bloß
aus den Alten jene Weisheit hole, die sie dereinst befähigen soll, ihr Volk in
Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen und zu lieben.




unterricht große» Nutzen dringen. Wie der Lehrer der Naturkunde mit seineu
Schillern zum Botanisiren in die freie Natur zieht, so müßte der Geschichts¬
lehrer mit den Jungen durch die Straße» der Stadt wandern, ihnen die alten
Bauwerke zeigen und erklären, sie durch den Augenschein belehren, wie sich das
Stadtleben innerlich und äußerlich in der Folge der Zeiten gestaltet hat; er
müßte den Schülern die alten merkwürdigen Straßennamen deuten, er müßte
sie zu historischen Sammlungen führen, kurz ihr Interesse an geschichtlicher
Entwicklung durch Hinweise auf geschichtliche Beziehungen im täglichen Leben
zu fesseln suchein Und wie wäre es, wenn man, wie es zu Gunsten der
naturwissenschaftlichen Belehrung in Berlin durch die Errichtung des Urania¬
theaters geschah, ein geschichtswissenschaftliches Theater zur volkstümlichen
Belehrung gründete, das geschichtliche Vorgänge weitesten Kreisen lebendig
und anschaulich vorführte? In der Darstellung der Kolumbusfahrt hat die
Urania der Klio schon vorgearbeitet.

Welche Wege und Hilfsmittel aber auch benutzt werden mögen, eins wird
dem Freunde nationaler Erziehung einleuchten: der Geschichtsunterricht muß
aus seiner veralteten Methode herausgerissen werden. Nicht über Athen und
Rom führt der Weg zum Herzen unsers Volks, zum Verständnis der Gegen¬
wart aus der Vergangenheit. Schneiden wir den Zopf mutig ab, wir werdeu
uns an das Neue schnell gewöhnen. Sieben Jahre nach dem Zopf von Jena
hatten wir die Befreiungskriege, mit wesentlich denselben Offizieren. Früher
stellte mau auf Standbildern die Könige und Feldherrn in altrömischer Tracht
dar; jetzt erscheint uns das abgeschmackt. Ähnlich wird uns zu Mute sein,
wenn wir der Überschätzung der Antike für das Geschichtsleben ein Ende machen.
Die instinktive Empfindung unsrer Jungen weist uus deu richtigen Weg. Wir
möchten den begeisternngsfähigen Knaben sehen, dessen Herz trotz aller „klassischen"
Bildung nicht höher schlüge, dessen Interesse nicht reger würde, wenn er die
Namen und Thaten Karls des Großen, Friedrich Barbarossas, Luthers, des
großen .Kurfürsten, des alten Fritz, des alten Blücher vernimmt, als wenn er
„in seinem Plutarch liest von großen Menschen," mögen sie noch so groß,
wie Themistokles und Aristides, wie Cato und Cäsar sein.

Machen wir also dem Minister und der Jngend die Freude, daß im Ge¬
schichtsunterricht diese und „andre zum Ärgernis gewordne Gewohnheiten" auf¬
hören. Ein Mann, den die Verehrer der alten Geschichte gewiß gelten lassen
werden, der alte Diodor, sagt: „Die Geschichte erwirbt der Jugend den Ver¬
stand der Alten." Mögen die Alten dafür sorgen, daß die Jugend nicht bloß
aus den Alten jene Weisheit hole, die sie dereinst befähigen soll, ihr Volk in
Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen und zu lieben.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/647>, abgerufen am 22.12.2024.