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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die alte Geschichte von der alten Geschichte

der geschichtliche!, Takt mit redaktioneller Begabung vereinigt. Will man ein
solches Lesebuch nicht, so wäre es vielleicht geraten, klassische Geschichtswerke
mit den Schülern zu lesen. Unter klassischen Werken verstehen wir aber nicht
etwa Geschichtswerke der alten Klassiker, sondern die unsers Volks. Die ein-
zigen ^deutschen Geschichtswerke, die allenfalls in der Klasse gelesen werden, sind
der "Abfall der Niederlande" und die "Geschichte des dreißigjährigen Krieges"
von Schiller. Aber die Auswahl gerade dieser beiden Werke ist eine höchst un¬
glückliche. In ihrem Mangel an historischer Kritik, in ihrer einseitigen Gruppi-
rung der Thatsachen sind sie bekanntlich des großen Dichters schwächste Leistung
und müssen durchweg als veraltet gelten. Den Einwurf, daß die Wahl eines
deutschen Geschichtswerks schwierig sei, lassen wir nicht gelten. Es giebt vor¬
treffliche Geschichtsdarstellungen, die zwischen Ranke und Treitschke die Mitte
halten, und die an erzieherischen Wert durchaus nicht unter den großen Ge¬
schichtschreibern des Altertums stehen. Wir nennen nur Frehtags Bilder aus
der deutschen Bergaugeuheit.

Aber es sind noch viele andre Dinge, die zur Belebung des geschichtlichen
Unterrichts beitragen könnten. Ein Stiefkind ist der Geschichtslmterricht mich
in der ihm zugewiesenen Stundenzahl. Es war ein folgenschwerer Irrtum
jenes Ausschusses der sieben Weisen der Schulkoufereuz, daß sie sich dahin
aussprachen, daß die eingehendere Behandlung der neuern vaterländischen Ge¬
schichte "ohne Vermehrung der bisher dem Geschichtsunterricht zugewiesenen
Stundenzahl zu erreichen sei." Bei drei wöchentlichen Geschichts- und Geo¬
graphiestunden ist eine eingehende Behandlung der vaterländischen Geschichte
unmöglich. Die bisherige Gesamtstnndenzahl darf natürlich nicht vermehrt
werden; aber wenn der lateinische oder der mathematische Unterricht eine
Stunde abgäbe, wäre doch leicht Wandel zu schaffen.

Natur und Geschichte, so verschiedenartig beide scheinen, haben doch innern
Zusammenhang, und erst die Kenntnis beider giebt dem Schüler das rechte
geistige Gleichgewicht. Den beiden menschlichen Anschauungsformen von Raum
und Zeit entsprechen die beiden Erscheiuungsäußerungeu des Weltlebens: Natur
und Geschichte. Alles, was sich entwickelt, ist innerhalb des Raumes Natur,
innerhalb der Zeit Geschichte. Die Entwicklung, das Werden und Wachsen
des Menschentums und der Ideen, die es bewegen, zu erkennen, im Zu-
samenhang zu verstehen und daraus Schlüsse für die sittliche Welt zu ziehen,
das ist die nimmerruhende Arbeit der Geschichte. Noch ist es der Geschichts¬
wissenschaft nicht in dem Maße wie der Naturwissenschaft gelungen, die Gesetz-
müßigkeit des geschichtlichen Waltens zu erkennen; aber auch hier treten wir
doch schon ans dein Dämmer der Ahnungen allmählich in den klaren Gesichts¬
kreis systematischer Entwicklungslehre. Wie sich aber Natur und Geschichte in
ihrer Gleichartigkeit ergänzen, so sollte auch im Unterricht das, was der Natur
recht ist, der Geschichte billig fein. Auch ihr würde daher der Anfchnuungs-


Die alte Geschichte von der alten Geschichte

der geschichtliche!, Takt mit redaktioneller Begabung vereinigt. Will man ein
solches Lesebuch nicht, so wäre es vielleicht geraten, klassische Geschichtswerke
mit den Schülern zu lesen. Unter klassischen Werken verstehen wir aber nicht
etwa Geschichtswerke der alten Klassiker, sondern die unsers Volks. Die ein-
zigen ^deutschen Geschichtswerke, die allenfalls in der Klasse gelesen werden, sind
der „Abfall der Niederlande" und die „Geschichte des dreißigjährigen Krieges"
von Schiller. Aber die Auswahl gerade dieser beiden Werke ist eine höchst un¬
glückliche. In ihrem Mangel an historischer Kritik, in ihrer einseitigen Gruppi-
rung der Thatsachen sind sie bekanntlich des großen Dichters schwächste Leistung
und müssen durchweg als veraltet gelten. Den Einwurf, daß die Wahl eines
deutschen Geschichtswerks schwierig sei, lassen wir nicht gelten. Es giebt vor¬
treffliche Geschichtsdarstellungen, die zwischen Ranke und Treitschke die Mitte
halten, und die an erzieherischen Wert durchaus nicht unter den großen Ge¬
schichtschreibern des Altertums stehen. Wir nennen nur Frehtags Bilder aus
der deutschen Bergaugeuheit.

Aber es sind noch viele andre Dinge, die zur Belebung des geschichtlichen
Unterrichts beitragen könnten. Ein Stiefkind ist der Geschichtslmterricht mich
in der ihm zugewiesenen Stundenzahl. Es war ein folgenschwerer Irrtum
jenes Ausschusses der sieben Weisen der Schulkoufereuz, daß sie sich dahin
aussprachen, daß die eingehendere Behandlung der neuern vaterländischen Ge¬
schichte „ohne Vermehrung der bisher dem Geschichtsunterricht zugewiesenen
Stundenzahl zu erreichen sei." Bei drei wöchentlichen Geschichts- und Geo¬
graphiestunden ist eine eingehende Behandlung der vaterländischen Geschichte
unmöglich. Die bisherige Gesamtstnndenzahl darf natürlich nicht vermehrt
werden; aber wenn der lateinische oder der mathematische Unterricht eine
Stunde abgäbe, wäre doch leicht Wandel zu schaffen.

Natur und Geschichte, so verschiedenartig beide scheinen, haben doch innern
Zusammenhang, und erst die Kenntnis beider giebt dem Schüler das rechte
geistige Gleichgewicht. Den beiden menschlichen Anschauungsformen von Raum
und Zeit entsprechen die beiden Erscheiuungsäußerungeu des Weltlebens: Natur
und Geschichte. Alles, was sich entwickelt, ist innerhalb des Raumes Natur,
innerhalb der Zeit Geschichte. Die Entwicklung, das Werden und Wachsen
des Menschentums und der Ideen, die es bewegen, zu erkennen, im Zu-
samenhang zu verstehen und daraus Schlüsse für die sittliche Welt zu ziehen,
das ist die nimmerruhende Arbeit der Geschichte. Noch ist es der Geschichts¬
wissenschaft nicht in dem Maße wie der Naturwissenschaft gelungen, die Gesetz-
müßigkeit des geschichtlichen Waltens zu erkennen; aber auch hier treten wir
doch schon ans dein Dämmer der Ahnungen allmählich in den klaren Gesichts¬
kreis systematischer Entwicklungslehre. Wie sich aber Natur und Geschichte in
ihrer Gleichartigkeit ergänzen, so sollte auch im Unterricht das, was der Natur
recht ist, der Geschichte billig fein. Auch ihr würde daher der Anfchnuungs-


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[0646] Die alte Geschichte von der alten Geschichte der geschichtliche!, Takt mit redaktioneller Begabung vereinigt. Will man ein solches Lesebuch nicht, so wäre es vielleicht geraten, klassische Geschichtswerke mit den Schülern zu lesen. Unter klassischen Werken verstehen wir aber nicht etwa Geschichtswerke der alten Klassiker, sondern die unsers Volks. Die ein- zigen ^deutschen Geschichtswerke, die allenfalls in der Klasse gelesen werden, sind der „Abfall der Niederlande" und die „Geschichte des dreißigjährigen Krieges" von Schiller. Aber die Auswahl gerade dieser beiden Werke ist eine höchst un¬ glückliche. In ihrem Mangel an historischer Kritik, in ihrer einseitigen Gruppi- rung der Thatsachen sind sie bekanntlich des großen Dichters schwächste Leistung und müssen durchweg als veraltet gelten. Den Einwurf, daß die Wahl eines deutschen Geschichtswerks schwierig sei, lassen wir nicht gelten. Es giebt vor¬ treffliche Geschichtsdarstellungen, die zwischen Ranke und Treitschke die Mitte halten, und die an erzieherischen Wert durchaus nicht unter den großen Ge¬ schichtschreibern des Altertums stehen. Wir nennen nur Frehtags Bilder aus der deutschen Bergaugeuheit. Aber es sind noch viele andre Dinge, die zur Belebung des geschichtlichen Unterrichts beitragen könnten. Ein Stiefkind ist der Geschichtslmterricht mich in der ihm zugewiesenen Stundenzahl. Es war ein folgenschwerer Irrtum jenes Ausschusses der sieben Weisen der Schulkoufereuz, daß sie sich dahin aussprachen, daß die eingehendere Behandlung der neuern vaterländischen Ge¬ schichte „ohne Vermehrung der bisher dem Geschichtsunterricht zugewiesenen Stundenzahl zu erreichen sei." Bei drei wöchentlichen Geschichts- und Geo¬ graphiestunden ist eine eingehende Behandlung der vaterländischen Geschichte unmöglich. Die bisherige Gesamtstnndenzahl darf natürlich nicht vermehrt werden; aber wenn der lateinische oder der mathematische Unterricht eine Stunde abgäbe, wäre doch leicht Wandel zu schaffen. Natur und Geschichte, so verschiedenartig beide scheinen, haben doch innern Zusammenhang, und erst die Kenntnis beider giebt dem Schüler das rechte geistige Gleichgewicht. Den beiden menschlichen Anschauungsformen von Raum und Zeit entsprechen die beiden Erscheiuungsäußerungeu des Weltlebens: Natur und Geschichte. Alles, was sich entwickelt, ist innerhalb des Raumes Natur, innerhalb der Zeit Geschichte. Die Entwicklung, das Werden und Wachsen des Menschentums und der Ideen, die es bewegen, zu erkennen, im Zu- samenhang zu verstehen und daraus Schlüsse für die sittliche Welt zu ziehen, das ist die nimmerruhende Arbeit der Geschichte. Noch ist es der Geschichts¬ wissenschaft nicht in dem Maße wie der Naturwissenschaft gelungen, die Gesetz- müßigkeit des geschichtlichen Waltens zu erkennen; aber auch hier treten wir doch schon ans dein Dämmer der Ahnungen allmählich in den klaren Gesichts¬ kreis systematischer Entwicklungslehre. Wie sich aber Natur und Geschichte in ihrer Gleichartigkeit ergänzen, so sollte auch im Unterricht das, was der Natur recht ist, der Geschichte billig fein. Auch ihr würde daher der Anfchnuungs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/646>, abgerufen am 23.07.2024.