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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die alte Geschichte von der alten Geschichte

nicht gleich abgeschnitten. Eine gut gefüllte Gedächtnisvorratstalmner -- das
ist in den alten Sprachen wie im Geschichtsunterricht noch immer das er¬
strebenswerte Ziel der Schulvkonomie. So lange (wie es der von dem Mi¬
nister erwühute, gewiß sehr oft vorkommende Fall beweist) der Geschichtslehrer
seinen Ehrgeiz darein setzt, den Schülern eine Fülle von gedächtnismäßigem
Wissen beizubringen, das Nieder im Verstand noch im Gemüt haften bleiben
kann, wird die Forderung der Prüfungsordnung nicht erfüllt werden. Mit
der Verherrlichung des Memorirstoffs hängt überdies der Krebsschaden zu¬
sammen, an dem der Geschichtsunterricht tränkt. Meist vermag der Schüler
unter "Geschichte" mir die Kenntnis einer Unzahl von Herrschern und Feld¬
herren, Kriegen, Schlachten und Friedensschlüssen zu verstehen, die ihm das
innere Wesen der geschichtlichen Entwicklung in weite Ferne rücken. Eine Re¬
form des Geschichtsunterrichts, die ihn nicht formalistisch, sondern inhaltlich
ändern wollte, müßte Gustav Freytags Wort beherzigen: "Nicht der Hader
der Fürsten, der Verlauf diplomatischer Verhandlungen und militärischer
Aktionen oder die Herausbildung solcher Institutionen, sondern das ist das
Wissenswürdigste, wie das Volk in Gemüt, Lebensgewohnheit und in seiner
Thätigkeit gewesen ist, sich gewandelt hat, und wie dadurch nicht nur sein
Staatswesen, sondern seine ganze Existenz fortgebildet wurde." Mit einem
Wort: die Geschichte niuß bereits auf den obern Klassen der höhern Schulen
nicht wie bisher als Staaten- und .Kriegsgeschichte, sondern als Kulturgeschichte
im höhern Sinn aufgefaßt werden.

Geschichte als Tabellenweisheit, als Gedächtniskram, bei dem der Schüler
das Wesen des geschichtlichen Werdens nicht erkennt, also den Wald vor lauter
Bäumen nicht sieht, das ist die eine schwache Seite unsers Geschichtsunterrichts,
die andre aber ist die Anbetung des Dogmas: "Ohne alte Geschichte kein Heil!"
Noch immer ist der Mut selten, der es wagt, mit der von ehrwürdigen Schul¬
staub überdeckte" Überlieferung zu brechen. Noch immer werden die Steine
des Formalismus, die mau statt des Brotes der befruchtenden Ideen der
Seele des jungen Deutschen bietet, zur Steinigung sür den bereit gehalten,
der sich gegen den alleinseligmachenden Glaube" an die Segnungen von Athen
und Rom aufzulehnen wagt. Noch immer gilt es vielen Schulgewaltigen als
verderbliche Ketzerei, gegen die von gelehrten Philologen und seichten Auf¬
klärern erfuudne Phrase ,,von finstern barbarischen Mittelalter" zu pro-
testiren. Daß dieses Jahrtausend der Quell ist, aus dem unsre Volkssitte,
unser heimisches Recht (kannte doch beispielsweise das Mittelalter längst die
Zivilehe, die wir erst vor siebzehn Jahren erhielten!), die Entwicklung unsers
Bürgertums und viele andre staatliche und gesellschaftliche Einrichtungen ihre
Begründung schöpften, davon läßt sich unsre Schulweisheit nichts träume".
Nicht wenn wir den Einfluß, den die Einrichtungen des Römertums auf
unser Staats- und Rechtsleben gewonnen haben, in die gebührenden Schranken


Die alte Geschichte von der alten Geschichte

nicht gleich abgeschnitten. Eine gut gefüllte Gedächtnisvorratstalmner — das
ist in den alten Sprachen wie im Geschichtsunterricht noch immer das er¬
strebenswerte Ziel der Schulvkonomie. So lange (wie es der von dem Mi¬
nister erwühute, gewiß sehr oft vorkommende Fall beweist) der Geschichtslehrer
seinen Ehrgeiz darein setzt, den Schülern eine Fülle von gedächtnismäßigem
Wissen beizubringen, das Nieder im Verstand noch im Gemüt haften bleiben
kann, wird die Forderung der Prüfungsordnung nicht erfüllt werden. Mit
der Verherrlichung des Memorirstoffs hängt überdies der Krebsschaden zu¬
sammen, an dem der Geschichtsunterricht tränkt. Meist vermag der Schüler
unter „Geschichte" mir die Kenntnis einer Unzahl von Herrschern und Feld¬
herren, Kriegen, Schlachten und Friedensschlüssen zu verstehen, die ihm das
innere Wesen der geschichtlichen Entwicklung in weite Ferne rücken. Eine Re¬
form des Geschichtsunterrichts, die ihn nicht formalistisch, sondern inhaltlich
ändern wollte, müßte Gustav Freytags Wort beherzigen: „Nicht der Hader
der Fürsten, der Verlauf diplomatischer Verhandlungen und militärischer
Aktionen oder die Herausbildung solcher Institutionen, sondern das ist das
Wissenswürdigste, wie das Volk in Gemüt, Lebensgewohnheit und in seiner
Thätigkeit gewesen ist, sich gewandelt hat, und wie dadurch nicht nur sein
Staatswesen, sondern seine ganze Existenz fortgebildet wurde." Mit einem
Wort: die Geschichte niuß bereits auf den obern Klassen der höhern Schulen
nicht wie bisher als Staaten- und .Kriegsgeschichte, sondern als Kulturgeschichte
im höhern Sinn aufgefaßt werden.

Geschichte als Tabellenweisheit, als Gedächtniskram, bei dem der Schüler
das Wesen des geschichtlichen Werdens nicht erkennt, also den Wald vor lauter
Bäumen nicht sieht, das ist die eine schwache Seite unsers Geschichtsunterrichts,
die andre aber ist die Anbetung des Dogmas: „Ohne alte Geschichte kein Heil!"
Noch immer ist der Mut selten, der es wagt, mit der von ehrwürdigen Schul¬
staub überdeckte« Überlieferung zu brechen. Noch immer werden die Steine
des Formalismus, die mau statt des Brotes der befruchtenden Ideen der
Seele des jungen Deutschen bietet, zur Steinigung sür den bereit gehalten,
der sich gegen den alleinseligmachenden Glaube» an die Segnungen von Athen
und Rom aufzulehnen wagt. Noch immer gilt es vielen Schulgewaltigen als
verderbliche Ketzerei, gegen die von gelehrten Philologen und seichten Auf¬
klärern erfuudne Phrase ,,von finstern barbarischen Mittelalter" zu pro-
testiren. Daß dieses Jahrtausend der Quell ist, aus dem unsre Volkssitte,
unser heimisches Recht (kannte doch beispielsweise das Mittelalter längst die
Zivilehe, die wir erst vor siebzehn Jahren erhielten!), die Entwicklung unsers
Bürgertums und viele andre staatliche und gesellschaftliche Einrichtungen ihre
Begründung schöpften, davon läßt sich unsre Schulweisheit nichts träume«.
Nicht wenn wir den Einfluß, den die Einrichtungen des Römertums auf
unser Staats- und Rechtsleben gewonnen haben, in die gebührenden Schranken


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[0644] Die alte Geschichte von der alten Geschichte nicht gleich abgeschnitten. Eine gut gefüllte Gedächtnisvorratstalmner — das ist in den alten Sprachen wie im Geschichtsunterricht noch immer das er¬ strebenswerte Ziel der Schulvkonomie. So lange (wie es der von dem Mi¬ nister erwühute, gewiß sehr oft vorkommende Fall beweist) der Geschichtslehrer seinen Ehrgeiz darein setzt, den Schülern eine Fülle von gedächtnismäßigem Wissen beizubringen, das Nieder im Verstand noch im Gemüt haften bleiben kann, wird die Forderung der Prüfungsordnung nicht erfüllt werden. Mit der Verherrlichung des Memorirstoffs hängt überdies der Krebsschaden zu¬ sammen, an dem der Geschichtsunterricht tränkt. Meist vermag der Schüler unter „Geschichte" mir die Kenntnis einer Unzahl von Herrschern und Feld¬ herren, Kriegen, Schlachten und Friedensschlüssen zu verstehen, die ihm das innere Wesen der geschichtlichen Entwicklung in weite Ferne rücken. Eine Re¬ form des Geschichtsunterrichts, die ihn nicht formalistisch, sondern inhaltlich ändern wollte, müßte Gustav Freytags Wort beherzigen: „Nicht der Hader der Fürsten, der Verlauf diplomatischer Verhandlungen und militärischer Aktionen oder die Herausbildung solcher Institutionen, sondern das ist das Wissenswürdigste, wie das Volk in Gemüt, Lebensgewohnheit und in seiner Thätigkeit gewesen ist, sich gewandelt hat, und wie dadurch nicht nur sein Staatswesen, sondern seine ganze Existenz fortgebildet wurde." Mit einem Wort: die Geschichte niuß bereits auf den obern Klassen der höhern Schulen nicht wie bisher als Staaten- und .Kriegsgeschichte, sondern als Kulturgeschichte im höhern Sinn aufgefaßt werden. Geschichte als Tabellenweisheit, als Gedächtniskram, bei dem der Schüler das Wesen des geschichtlichen Werdens nicht erkennt, also den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, das ist die eine schwache Seite unsers Geschichtsunterrichts, die andre aber ist die Anbetung des Dogmas: „Ohne alte Geschichte kein Heil!" Noch immer ist der Mut selten, der es wagt, mit der von ehrwürdigen Schul¬ staub überdeckte« Überlieferung zu brechen. Noch immer werden die Steine des Formalismus, die mau statt des Brotes der befruchtenden Ideen der Seele des jungen Deutschen bietet, zur Steinigung sür den bereit gehalten, der sich gegen den alleinseligmachenden Glaube» an die Segnungen von Athen und Rom aufzulehnen wagt. Noch immer gilt es vielen Schulgewaltigen als verderbliche Ketzerei, gegen die von gelehrten Philologen und seichten Auf¬ klärern erfuudne Phrase ,,von finstern barbarischen Mittelalter" zu pro- testiren. Daß dieses Jahrtausend der Quell ist, aus dem unsre Volkssitte, unser heimisches Recht (kannte doch beispielsweise das Mittelalter längst die Zivilehe, die wir erst vor siebzehn Jahren erhielten!), die Entwicklung unsers Bürgertums und viele andre staatliche und gesellschaftliche Einrichtungen ihre Begründung schöpften, davon läßt sich unsre Schulweisheit nichts träume«. Nicht wenn wir den Einfluß, den die Einrichtungen des Römertums auf unser Staats- und Rechtsleben gewonnen haben, in die gebührenden Schranken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/644>, abgerufen am 23.07.2024.