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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Iveder Kommunismus noch Kapitalismus

heute neben der deutschen die tüchtigste Bauernschaft Europas ist. Die Bauern
einiger deutscheu Provinzen: Holsteins, Oldenburgs, eines Teils von West¬
falen, Schlesiens, Oberbaierns sind tüchtiger als die französischen, aber die
französischen dürften im Verhältnis zur Volkszahl zahlreicher sein, und ihre
schwächsten scheinen es nicht so armselig zu treiben, wie die westdeutsche!, Zwerg¬
bauern und die mecklenburgischen und pommerschen Kätner. Die Revolution
vou 1789 verdient als Erneuererin des französischen Bauernstandes wirklich
den Namen einer glorreichen Revolution; der "Schrecken," der ja erst kam,
nachdem die großen Refvrmgesetze schon fertig waren, wäre, wie Trine satt¬
sam klar gemacht hat, gar nicht nötig gewesen.

Von der Hebung der Lage der industriellen Arbeiter in unserm Jahr¬
hundert sprechen wir später. Die ländlichen haben von der Besserung bisher
noch wenig gespürt. Die Scheußlichkeit der auch vou Röscher beschriebnen
Gangs in einigen östlichen Grafschaften ist noch nicht ganz abgestellt. Am
scheußlichsten sind die Kindergangs. Der Pächter alkordirt mit dem Gnng-
master; dieser macht Jagd auf Kinder und führt den Trupp, den er zu¬
sammengebracht hat, nachdem die Arbeit bei dem einen Pächter besorgt ist,
zu einem ander". Der Gnngmafter, ein versoffener Schurke, mißhandelt die
Kinder nicht, sondern sucht sie vielmehr, da er auf freiwillige Kundschaft
angewiesen ist, zu locken, besonders dadurch, daß er die frechste Schamlosigkeit
im Umgange von Knaben und Mädchen uicht allein gestattet, sondern be¬
günstigt. Des Nachts werden sie, Knaben und Mädchen unter einander, in
schmutzige, lustlose Schuppen gesperrt, des Tages zur Arbeit getrieben, die
sie sehr hurtig verrichten, und notdürftig gefüttert. Um das Jahr 1860 lenkte
ein Geistlicher, namens Girdlestone, die Aufmerksamkeit des Publikums auf
das ländliche Arbciterelend; aber die Pächter drohten, ihn in die Pferde¬
schwemme zu werfen, wenn er nicht das Maul halte, und er schwieg schon
darum, weil er einsah, daß er die Lage der Unglücklichen nnr verschlimmert
hätte. Einige Jahre später wagte ein wackrer Bauer, Joseph Ares, den "he¬
roischen Versuch," die stumpfsinnigen Landarbeiter aufzurütteln, zur Erkenntnis
ihrer Lage zu bringen und sie zu vrgcinisiren; Rogers war der erste Manu
von Ansehen, der seine Bemühungen durch einen Vortrag in einer Arbeiter-
versammlnng aufmunterte. Seitdem Rogers sein Werk herausgegeben hat, hat
die Bewegung Fortschritte gemacht und sogar den vorigen Landwirtschnfts-
minister zu Gesetzentwürfen über Schaffung kleiner Vauernstellen und Seß-
hnstmachung von Arbeitern veranlaßt. Wie weit jene Bewegung und diese Ge¬
setzentwürfe Erfolg haben werden, läßt sich nicht voraussehen. Versuche der
Organisation dieses heruntergekommenen Standes stoßen auf schier unüber¬
windliche Hindernisse: bei der Mittel- und Hilflosigkeit, dem Stumpfsinn und
der Unwissenheit der ländlichen Arbeiter fehlen alle Voraussetzungen einer Or¬
ganisation. Natürlich sind sie auch mit allen Lastern behaftet, die die Sklaverei


Iveder Kommunismus noch Kapitalismus

heute neben der deutschen die tüchtigste Bauernschaft Europas ist. Die Bauern
einiger deutscheu Provinzen: Holsteins, Oldenburgs, eines Teils von West¬
falen, Schlesiens, Oberbaierns sind tüchtiger als die französischen, aber die
französischen dürften im Verhältnis zur Volkszahl zahlreicher sein, und ihre
schwächsten scheinen es nicht so armselig zu treiben, wie die westdeutsche!, Zwerg¬
bauern und die mecklenburgischen und pommerschen Kätner. Die Revolution
vou 1789 verdient als Erneuererin des französischen Bauernstandes wirklich
den Namen einer glorreichen Revolution; der „Schrecken," der ja erst kam,
nachdem die großen Refvrmgesetze schon fertig waren, wäre, wie Trine satt¬
sam klar gemacht hat, gar nicht nötig gewesen.

Von der Hebung der Lage der industriellen Arbeiter in unserm Jahr¬
hundert sprechen wir später. Die ländlichen haben von der Besserung bisher
noch wenig gespürt. Die Scheußlichkeit der auch vou Röscher beschriebnen
Gangs in einigen östlichen Grafschaften ist noch nicht ganz abgestellt. Am
scheußlichsten sind die Kindergangs. Der Pächter alkordirt mit dem Gnng-
master; dieser macht Jagd auf Kinder und führt den Trupp, den er zu¬
sammengebracht hat, nachdem die Arbeit bei dem einen Pächter besorgt ist,
zu einem ander«. Der Gnngmafter, ein versoffener Schurke, mißhandelt die
Kinder nicht, sondern sucht sie vielmehr, da er auf freiwillige Kundschaft
angewiesen ist, zu locken, besonders dadurch, daß er die frechste Schamlosigkeit
im Umgange von Knaben und Mädchen uicht allein gestattet, sondern be¬
günstigt. Des Nachts werden sie, Knaben und Mädchen unter einander, in
schmutzige, lustlose Schuppen gesperrt, des Tages zur Arbeit getrieben, die
sie sehr hurtig verrichten, und notdürftig gefüttert. Um das Jahr 1860 lenkte
ein Geistlicher, namens Girdlestone, die Aufmerksamkeit des Publikums auf
das ländliche Arbciterelend; aber die Pächter drohten, ihn in die Pferde¬
schwemme zu werfen, wenn er nicht das Maul halte, und er schwieg schon
darum, weil er einsah, daß er die Lage der Unglücklichen nnr verschlimmert
hätte. Einige Jahre später wagte ein wackrer Bauer, Joseph Ares, den „he¬
roischen Versuch," die stumpfsinnigen Landarbeiter aufzurütteln, zur Erkenntnis
ihrer Lage zu bringen und sie zu vrgcinisiren; Rogers war der erste Manu
von Ansehen, der seine Bemühungen durch einen Vortrag in einer Arbeiter-
versammlnng aufmunterte. Seitdem Rogers sein Werk herausgegeben hat, hat
die Bewegung Fortschritte gemacht und sogar den vorigen Landwirtschnfts-
minister zu Gesetzentwürfen über Schaffung kleiner Vauernstellen und Seß-
hnstmachung von Arbeitern veranlaßt. Wie weit jene Bewegung und diese Ge¬
setzentwürfe Erfolg haben werden, läßt sich nicht voraussehen. Versuche der
Organisation dieses heruntergekommenen Standes stoßen auf schier unüber¬
windliche Hindernisse: bei der Mittel- und Hilflosigkeit, dem Stumpfsinn und
der Unwissenheit der ländlichen Arbeiter fehlen alle Voraussetzungen einer Or¬
ganisation. Natürlich sind sie auch mit allen Lastern behaftet, die die Sklaverei


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[0640] Iveder Kommunismus noch Kapitalismus heute neben der deutschen die tüchtigste Bauernschaft Europas ist. Die Bauern einiger deutscheu Provinzen: Holsteins, Oldenburgs, eines Teils von West¬ falen, Schlesiens, Oberbaierns sind tüchtiger als die französischen, aber die französischen dürften im Verhältnis zur Volkszahl zahlreicher sein, und ihre schwächsten scheinen es nicht so armselig zu treiben, wie die westdeutsche!, Zwerg¬ bauern und die mecklenburgischen und pommerschen Kätner. Die Revolution vou 1789 verdient als Erneuererin des französischen Bauernstandes wirklich den Namen einer glorreichen Revolution; der „Schrecken," der ja erst kam, nachdem die großen Refvrmgesetze schon fertig waren, wäre, wie Trine satt¬ sam klar gemacht hat, gar nicht nötig gewesen. Von der Hebung der Lage der industriellen Arbeiter in unserm Jahr¬ hundert sprechen wir später. Die ländlichen haben von der Besserung bisher noch wenig gespürt. Die Scheußlichkeit der auch vou Röscher beschriebnen Gangs in einigen östlichen Grafschaften ist noch nicht ganz abgestellt. Am scheußlichsten sind die Kindergangs. Der Pächter alkordirt mit dem Gnng- master; dieser macht Jagd auf Kinder und führt den Trupp, den er zu¬ sammengebracht hat, nachdem die Arbeit bei dem einen Pächter besorgt ist, zu einem ander«. Der Gnngmafter, ein versoffener Schurke, mißhandelt die Kinder nicht, sondern sucht sie vielmehr, da er auf freiwillige Kundschaft angewiesen ist, zu locken, besonders dadurch, daß er die frechste Schamlosigkeit im Umgange von Knaben und Mädchen uicht allein gestattet, sondern be¬ günstigt. Des Nachts werden sie, Knaben und Mädchen unter einander, in schmutzige, lustlose Schuppen gesperrt, des Tages zur Arbeit getrieben, die sie sehr hurtig verrichten, und notdürftig gefüttert. Um das Jahr 1860 lenkte ein Geistlicher, namens Girdlestone, die Aufmerksamkeit des Publikums auf das ländliche Arbciterelend; aber die Pächter drohten, ihn in die Pferde¬ schwemme zu werfen, wenn er nicht das Maul halte, und er schwieg schon darum, weil er einsah, daß er die Lage der Unglücklichen nnr verschlimmert hätte. Einige Jahre später wagte ein wackrer Bauer, Joseph Ares, den „he¬ roischen Versuch," die stumpfsinnigen Landarbeiter aufzurütteln, zur Erkenntnis ihrer Lage zu bringen und sie zu vrgcinisiren; Rogers war der erste Manu von Ansehen, der seine Bemühungen durch einen Vortrag in einer Arbeiter- versammlnng aufmunterte. Seitdem Rogers sein Werk herausgegeben hat, hat die Bewegung Fortschritte gemacht und sogar den vorigen Landwirtschnfts- minister zu Gesetzentwürfen über Schaffung kleiner Vauernstellen und Seß- hnstmachung von Arbeitern veranlaßt. Wie weit jene Bewegung und diese Ge¬ setzentwürfe Erfolg haben werden, läßt sich nicht voraussehen. Versuche der Organisation dieses heruntergekommenen Standes stoßen auf schier unüber¬ windliche Hindernisse: bei der Mittel- und Hilflosigkeit, dem Stumpfsinn und der Unwissenheit der ländlichen Arbeiter fehlen alle Voraussetzungen einer Or¬ ganisation. Natürlich sind sie auch mit allen Lastern behaftet, die die Sklaverei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/640>, abgerufen am 23.07.2024.