Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Vmiein et Lirevn"""

berechtigte, höchst notwendige und sehr feine Unterscheidung zwischen Natura-
lismus und Naturalismus gegeben. Er trennt die naturalistischen Produkte,
die "das Virtuosentum der nackten Sinnlichkeit, die Darstellung der Sinnen-
lust als interessantesten Gegenstandes der Schilderung, die Litteratur der mo¬
ralischen Fäulnis" vertreten, von den Sozialrefvrmern und Sozialisten, "die
wieder Ideale haben, in deren Brust ein unvertilgbares Vertrauen zu der
Zukunft der Menschheit wohnt." Er Hütte schärfer sehen und schärfer trennen
sollen. Er nimmt in gutem Glauben die Anläufe aller, die sich mit der so¬
zialen Frage befassen, sie im Bild oder Buch verwenden, als gleichwertig an,
er vergißt vollständig, daß ein guter, wir wollen nicht sagen der größte Teil
dieser Tendenzbilder, Tendenzdramen und Tendenzerzählungen eben auch nur
aus dem Bedürfnis der Sensation um jeden Preis, aus der Berechnung, die
halb abgestumpften, halb überreizten Nerven der Blasirten, innerlich Ver-
kvmmnen zur Abwechslung mit Grauen und Schrecken, anstatt mit erotischen
Bildern und sogenannten Pikanterien in Schwingung zu setzen, hervorgegangen
sind. Wer da weiß, wie viel an dem jüngsten "Sturm" eitel Wind, nu dem
jüngsten "Drang" eitel Drängen ist, mühelos nach oben zu kommen, wer es
erlebt hat, wie sich gewisse geistreiche "Reisende" zwischen Berlin und Hamburg,
zwischen Berlin und Stettin beinahe mit gleichem Entzücken von den Beinen
und Brüsten des Rvnachertheaters und den "Genialitäten" der "Freien
Bühne" unterhalten, der wird sich von den leidenschaftlichen Sophismen einer
Schrift wie "Die bürgerliche Kunst und die besitzlosen Volksklassen" nicht be¬
irren lassen. Sophismen aber bedenklichster Art sind es, wenn Reich die
Naturalisten der Demimvndepoesie für "die letzten Dichter des Bürgertums"
erklärt, wenn er die Pseudoidealisten als notwendige Ausläufer der bürger¬
lichen Kunst darstellt. Nein, Gottfried Keller, Theodor Storni, Adolf Wil-
brandt, Marie Ebner-Eschenbach, von einem Dutzend andrer zu schweige", sind
so wenig bürgerliche Dichter, als es ihre größer" Vorgänger gewesen sind;
aber auch wenn sie es wären, so führt doch von ihrem Schaffen, von ihrer
Weltanschauung und Weltdarstellung keine Brücke zu dem Gesindel der frivolen
und angefaultem Lebensschilderung für die Plntvkratie. Und noch einmal sei
nachdrücklich betont: es leben im deutschen Reiche Hunderttausende, die ein
frierender und hungernder Arbeiter gelegentlich mit Recht beneiden mag, die
aber weder im arbeitslosen Genuß schwelgen, noch die Sünden, Anmaßungen
und Geschmncksentartungen der "im Wohlleben verkommenden, die kein Hei¬
liges mehr kennen," teilen. Im Namen dieser Hunderttausende, unter denen
unter andern auch die Grenzboten ihre Leser suchen und finden, verwahren
wir uns so feierlich als energisch gegen den Begriff "bürgerlicher Kunst," der
in I>s.ruzm et LirocmLös mit unglaublicher Willkür konstruirt wird.

Auf ebenso schwachen Füßen wie die Beweisführung für die Verkommen¬
heit der nicht sozialistischen, der angeblich bürgerlichen Kunst steht die Förte-


Vmiein et Lirevn«««

berechtigte, höchst notwendige und sehr feine Unterscheidung zwischen Natura-
lismus und Naturalismus gegeben. Er trennt die naturalistischen Produkte,
die „das Virtuosentum der nackten Sinnlichkeit, die Darstellung der Sinnen-
lust als interessantesten Gegenstandes der Schilderung, die Litteratur der mo¬
ralischen Fäulnis" vertreten, von den Sozialrefvrmern und Sozialisten, „die
wieder Ideale haben, in deren Brust ein unvertilgbares Vertrauen zu der
Zukunft der Menschheit wohnt." Er Hütte schärfer sehen und schärfer trennen
sollen. Er nimmt in gutem Glauben die Anläufe aller, die sich mit der so¬
zialen Frage befassen, sie im Bild oder Buch verwenden, als gleichwertig an,
er vergißt vollständig, daß ein guter, wir wollen nicht sagen der größte Teil
dieser Tendenzbilder, Tendenzdramen und Tendenzerzählungen eben auch nur
aus dem Bedürfnis der Sensation um jeden Preis, aus der Berechnung, die
halb abgestumpften, halb überreizten Nerven der Blasirten, innerlich Ver-
kvmmnen zur Abwechslung mit Grauen und Schrecken, anstatt mit erotischen
Bildern und sogenannten Pikanterien in Schwingung zu setzen, hervorgegangen
sind. Wer da weiß, wie viel an dem jüngsten „Sturm" eitel Wind, nu dem
jüngsten „Drang" eitel Drängen ist, mühelos nach oben zu kommen, wer es
erlebt hat, wie sich gewisse geistreiche „Reisende" zwischen Berlin und Hamburg,
zwischen Berlin und Stettin beinahe mit gleichem Entzücken von den Beinen
und Brüsten des Rvnachertheaters und den „Genialitäten" der „Freien
Bühne" unterhalten, der wird sich von den leidenschaftlichen Sophismen einer
Schrift wie „Die bürgerliche Kunst und die besitzlosen Volksklassen" nicht be¬
irren lassen. Sophismen aber bedenklichster Art sind es, wenn Reich die
Naturalisten der Demimvndepoesie für „die letzten Dichter des Bürgertums"
erklärt, wenn er die Pseudoidealisten als notwendige Ausläufer der bürger¬
lichen Kunst darstellt. Nein, Gottfried Keller, Theodor Storni, Adolf Wil-
brandt, Marie Ebner-Eschenbach, von einem Dutzend andrer zu schweige», sind
so wenig bürgerliche Dichter, als es ihre größer» Vorgänger gewesen sind;
aber auch wenn sie es wären, so führt doch von ihrem Schaffen, von ihrer
Weltanschauung und Weltdarstellung keine Brücke zu dem Gesindel der frivolen
und angefaultem Lebensschilderung für die Plntvkratie. Und noch einmal sei
nachdrücklich betont: es leben im deutschen Reiche Hunderttausende, die ein
frierender und hungernder Arbeiter gelegentlich mit Recht beneiden mag, die
aber weder im arbeitslosen Genuß schwelgen, noch die Sünden, Anmaßungen
und Geschmncksentartungen der „im Wohlleben verkommenden, die kein Hei¬
liges mehr kennen," teilen. Im Namen dieser Hunderttausende, unter denen
unter andern auch die Grenzboten ihre Leser suchen und finden, verwahren
wir uns so feierlich als energisch gegen den Begriff „bürgerlicher Kunst," der
in I>s.ruzm et LirocmLös mit unglaublicher Willkür konstruirt wird.

Auf ebenso schwachen Füßen wie die Beweisführung für die Verkommen¬
heit der nicht sozialistischen, der angeblich bürgerlichen Kunst steht die Förte-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0596" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213710"/>
          <fw type="header" place="top"> Vmiein et Lirevn«««</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1853" prev="#ID_1852"> berechtigte, höchst notwendige und sehr feine Unterscheidung zwischen Natura-<lb/>
lismus und Naturalismus gegeben. Er trennt die naturalistischen Produkte,<lb/>
die &#x201E;das Virtuosentum der nackten Sinnlichkeit, die Darstellung der Sinnen-<lb/>
lust als interessantesten Gegenstandes der Schilderung, die Litteratur der mo¬<lb/>
ralischen Fäulnis" vertreten, von den Sozialrefvrmern und Sozialisten, &#x201E;die<lb/>
wieder Ideale haben, in deren Brust ein unvertilgbares Vertrauen zu der<lb/>
Zukunft der Menschheit wohnt." Er Hütte schärfer sehen und schärfer trennen<lb/>
sollen. Er nimmt in gutem Glauben die Anläufe aller, die sich mit der so¬<lb/>
zialen Frage befassen, sie im Bild oder Buch verwenden, als gleichwertig an,<lb/>
er vergißt vollständig, daß ein guter, wir wollen nicht sagen der größte Teil<lb/>
dieser Tendenzbilder, Tendenzdramen und Tendenzerzählungen eben auch nur<lb/>
aus dem Bedürfnis der Sensation um jeden Preis, aus der Berechnung, die<lb/>
halb abgestumpften, halb überreizten Nerven der Blasirten, innerlich Ver-<lb/>
kvmmnen zur Abwechslung mit Grauen und Schrecken, anstatt mit erotischen<lb/>
Bildern und sogenannten Pikanterien in Schwingung zu setzen, hervorgegangen<lb/>
sind. Wer da weiß, wie viel an dem jüngsten &#x201E;Sturm" eitel Wind, nu dem<lb/>
jüngsten &#x201E;Drang" eitel Drängen ist, mühelos nach oben zu kommen, wer es<lb/>
erlebt hat, wie sich gewisse geistreiche &#x201E;Reisende" zwischen Berlin und Hamburg,<lb/>
zwischen Berlin und Stettin beinahe mit gleichem Entzücken von den Beinen<lb/>
und Brüsten des Rvnachertheaters und den &#x201E;Genialitäten" der &#x201E;Freien<lb/>
Bühne" unterhalten, der wird sich von den leidenschaftlichen Sophismen einer<lb/>
Schrift wie &#x201E;Die bürgerliche Kunst und die besitzlosen Volksklassen" nicht be¬<lb/>
irren lassen. Sophismen aber bedenklichster Art sind es, wenn Reich die<lb/>
Naturalisten der Demimvndepoesie für &#x201E;die letzten Dichter des Bürgertums"<lb/>
erklärt, wenn er die Pseudoidealisten als notwendige Ausläufer der bürger¬<lb/>
lichen Kunst darstellt. Nein, Gottfried Keller, Theodor Storni, Adolf Wil-<lb/>
brandt, Marie Ebner-Eschenbach, von einem Dutzend andrer zu schweige», sind<lb/>
so wenig bürgerliche Dichter, als es ihre größer» Vorgänger gewesen sind;<lb/>
aber auch wenn sie es wären, so führt doch von ihrem Schaffen, von ihrer<lb/>
Weltanschauung und Weltdarstellung keine Brücke zu dem Gesindel der frivolen<lb/>
und angefaultem Lebensschilderung für die Plntvkratie. Und noch einmal sei<lb/>
nachdrücklich betont: es leben im deutschen Reiche Hunderttausende, die ein<lb/>
frierender und hungernder Arbeiter gelegentlich mit Recht beneiden mag, die<lb/>
aber weder im arbeitslosen Genuß schwelgen, noch die Sünden, Anmaßungen<lb/>
und Geschmncksentartungen der &#x201E;im Wohlleben verkommenden, die kein Hei¬<lb/>
liges mehr kennen," teilen. Im Namen dieser Hunderttausende, unter denen<lb/>
unter andern auch die Grenzboten ihre Leser suchen und finden, verwahren<lb/>
wir uns so feierlich als energisch gegen den Begriff &#x201E;bürgerlicher Kunst," der<lb/>
in I&gt;s.ruzm et LirocmLös mit unglaublicher Willkür konstruirt wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1854" next="#ID_1855"> Auf ebenso schwachen Füßen wie die Beweisführung für die Verkommen¬<lb/>
heit der nicht sozialistischen, der angeblich bürgerlichen Kunst steht die Förte-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0596] Vmiein et Lirevn««« berechtigte, höchst notwendige und sehr feine Unterscheidung zwischen Natura- lismus und Naturalismus gegeben. Er trennt die naturalistischen Produkte, die „das Virtuosentum der nackten Sinnlichkeit, die Darstellung der Sinnen- lust als interessantesten Gegenstandes der Schilderung, die Litteratur der mo¬ ralischen Fäulnis" vertreten, von den Sozialrefvrmern und Sozialisten, „die wieder Ideale haben, in deren Brust ein unvertilgbares Vertrauen zu der Zukunft der Menschheit wohnt." Er Hütte schärfer sehen und schärfer trennen sollen. Er nimmt in gutem Glauben die Anläufe aller, die sich mit der so¬ zialen Frage befassen, sie im Bild oder Buch verwenden, als gleichwertig an, er vergißt vollständig, daß ein guter, wir wollen nicht sagen der größte Teil dieser Tendenzbilder, Tendenzdramen und Tendenzerzählungen eben auch nur aus dem Bedürfnis der Sensation um jeden Preis, aus der Berechnung, die halb abgestumpften, halb überreizten Nerven der Blasirten, innerlich Ver- kvmmnen zur Abwechslung mit Grauen und Schrecken, anstatt mit erotischen Bildern und sogenannten Pikanterien in Schwingung zu setzen, hervorgegangen sind. Wer da weiß, wie viel an dem jüngsten „Sturm" eitel Wind, nu dem jüngsten „Drang" eitel Drängen ist, mühelos nach oben zu kommen, wer es erlebt hat, wie sich gewisse geistreiche „Reisende" zwischen Berlin und Hamburg, zwischen Berlin und Stettin beinahe mit gleichem Entzücken von den Beinen und Brüsten des Rvnachertheaters und den „Genialitäten" der „Freien Bühne" unterhalten, der wird sich von den leidenschaftlichen Sophismen einer Schrift wie „Die bürgerliche Kunst und die besitzlosen Volksklassen" nicht be¬ irren lassen. Sophismen aber bedenklichster Art sind es, wenn Reich die Naturalisten der Demimvndepoesie für „die letzten Dichter des Bürgertums" erklärt, wenn er die Pseudoidealisten als notwendige Ausläufer der bürger¬ lichen Kunst darstellt. Nein, Gottfried Keller, Theodor Storni, Adolf Wil- brandt, Marie Ebner-Eschenbach, von einem Dutzend andrer zu schweige», sind so wenig bürgerliche Dichter, als es ihre größer» Vorgänger gewesen sind; aber auch wenn sie es wären, so führt doch von ihrem Schaffen, von ihrer Weltanschauung und Weltdarstellung keine Brücke zu dem Gesindel der frivolen und angefaultem Lebensschilderung für die Plntvkratie. Und noch einmal sei nachdrücklich betont: es leben im deutschen Reiche Hunderttausende, die ein frierender und hungernder Arbeiter gelegentlich mit Recht beneiden mag, die aber weder im arbeitslosen Genuß schwelgen, noch die Sünden, Anmaßungen und Geschmncksentartungen der „im Wohlleben verkommenden, die kein Hei¬ liges mehr kennen," teilen. Im Namen dieser Hunderttausende, unter denen unter andern auch die Grenzboten ihre Leser suchen und finden, verwahren wir uns so feierlich als energisch gegen den Begriff „bürgerlicher Kunst," der in I>s.ruzm et LirocmLös mit unglaublicher Willkür konstruirt wird. Auf ebenso schwachen Füßen wie die Beweisführung für die Verkommen¬ heit der nicht sozialistischen, der angeblich bürgerlichen Kunst steht die Förte-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/596
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/596>, abgerufen am 23.07.2024.