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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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unter dem Gesichtspunkte Reichs, daß das wesentlichste wenn nicht einzige Ver¬
dienst eines modernen Künstlers und Dichters in dem Blick für Menschen und
Zustände des arbeitenden, hart ringenden Volks, der Besitz- und Bilduugsloseu,
bestünde, würde sich zeigen, daß dieser Blick viel öfter vorhanden war und ist,
als Reich weiß oder zugeben will. Natürlich wird mit solchem Blick mehr
gesehen, als nur das Elend, nur die übermenschliche harte, herz- und hirn-
vertrvcknende Arbeit, nur die Roheit, der Schmutz und das Laster, die ija
uuter der Wucht der modernen Jndustrieeutwicklung und des blödsinnigen
Drängens in die Großstädte sicher gewachsen, aber doch nicht alles, nicht "das
Leben" und "die Wahrheit" allein sind. Nein, die deutsche Litteratur hat das
wundervolle Wort Goethes: "Wie sehr ich wieder auf diesem dunkeln Zug
Liebe zu der Klasse von Menschen gekriegt habe, die mau die niedre nennt!
die aber gewiß für Gott die höchste ist. Da sind doch alle Tugenden bei¬
sammen, Beschränktheit, Genügsamkeit, gerader Sinn, Treue, Freude über das
leidlichste Gute, Harmlosigkeit, Dulden, Dulden, Ausharren!" nur selten ver¬
gessen und hat den feindseligen Klassengegensatz, weder die freche Überhebung
des großen Kapitalisten, noch die Furcht des geängstigten Philisters, gegen die
"niedre Klasse" nicht geteilt. Wo die Darstellung der bürgerlichen Welt und ihrer
Kinder auch nur einen Zug von Überhebung gezeigt hat, ist die Kritik nicht aus¬
geblieben; der gepriesenfte Dichter, den man in gewissem Sinn als einen künstle¬
rischen Anwalt der Bourgeoisie bezeichnen könnte, Gustav Freytag,? hat sich ge¬
fallen lassen müssen, daß man ihm den Geldhvchmut des Herrn Traugott Schröter,
der Kapitalbildung und Bildung für synonhm hält, und den Gelehrtendünkel des
Herrn Professor Felix Werner scharf vorgerückt hat. Wenn es freilich schon als
Ausfluß des "Klasfenbewußtseius" angesehen wird, daß Dichter und Künstler
außerhalb der Proletarierkreise noch Menschen sehen, sich aus dem gesündesten
Gefühl für die Ganzheit des Lebens und die Fülle feiner Erscheinungen gegen
die graue Eintönigkeit der unablässig wiederholten Elendsschilderung wehren, so
ist eine weitere Erörterung nutzlos. Reich setzt sich aber durch die einseitige
Verherrlichung der revolutionären Kampf- und Zornkunst, der Hungermotive
nicht nur in entschiednen Widerspruch mit dem eigentlichen Zweck seiner Schrift:
der geistigem Erhebung der großen Volkskreise durch die Kunst, sondern auch
mit dem innersten Bedürfnis dieser Kreise selbst. Gerade die Besitzlosen, die Ent¬
erbten haben das lebendige Verlangen, etwas andres künstlerisch gespiegelt zu
erhalten, als ihr eignes Elend, lind wenn einmal prophezeit werden soll, so
wagen wir zu prophezeien, daß in der großen Volkskunst, in die sich die
bürgerliche Kunst im zwanzigsten Jahrhundert verwandeln soll, die heute be¬
liebte Hungerschilderung einen nicht halb so breiten Raum einnehmen kann
und wird, als der gewissenlose Übermut und die wilde Jagd uach dem an¬
geblich "Neuen" im Augenblick beanspruchen.

Emil Reich hat an einer der lichtvollen Stellen seines Buches eine voll-


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unter dem Gesichtspunkte Reichs, daß das wesentlichste wenn nicht einzige Ver¬
dienst eines modernen Künstlers und Dichters in dem Blick für Menschen und
Zustände des arbeitenden, hart ringenden Volks, der Besitz- und Bilduugsloseu,
bestünde, würde sich zeigen, daß dieser Blick viel öfter vorhanden war und ist,
als Reich weiß oder zugeben will. Natürlich wird mit solchem Blick mehr
gesehen, als nur das Elend, nur die übermenschliche harte, herz- und hirn-
vertrvcknende Arbeit, nur die Roheit, der Schmutz und das Laster, die ija
uuter der Wucht der modernen Jndustrieeutwicklung und des blödsinnigen
Drängens in die Großstädte sicher gewachsen, aber doch nicht alles, nicht „das
Leben" und „die Wahrheit" allein sind. Nein, die deutsche Litteratur hat das
wundervolle Wort Goethes: „Wie sehr ich wieder auf diesem dunkeln Zug
Liebe zu der Klasse von Menschen gekriegt habe, die mau die niedre nennt!
die aber gewiß für Gott die höchste ist. Da sind doch alle Tugenden bei¬
sammen, Beschränktheit, Genügsamkeit, gerader Sinn, Treue, Freude über das
leidlichste Gute, Harmlosigkeit, Dulden, Dulden, Ausharren!" nur selten ver¬
gessen und hat den feindseligen Klassengegensatz, weder die freche Überhebung
des großen Kapitalisten, noch die Furcht des geängstigten Philisters, gegen die
„niedre Klasse" nicht geteilt. Wo die Darstellung der bürgerlichen Welt und ihrer
Kinder auch nur einen Zug von Überhebung gezeigt hat, ist die Kritik nicht aus¬
geblieben; der gepriesenfte Dichter, den man in gewissem Sinn als einen künstle¬
rischen Anwalt der Bourgeoisie bezeichnen könnte, Gustav Freytag,? hat sich ge¬
fallen lassen müssen, daß man ihm den Geldhvchmut des Herrn Traugott Schröter,
der Kapitalbildung und Bildung für synonhm hält, und den Gelehrtendünkel des
Herrn Professor Felix Werner scharf vorgerückt hat. Wenn es freilich schon als
Ausfluß des „Klasfenbewußtseius" angesehen wird, daß Dichter und Künstler
außerhalb der Proletarierkreise noch Menschen sehen, sich aus dem gesündesten
Gefühl für die Ganzheit des Lebens und die Fülle feiner Erscheinungen gegen
die graue Eintönigkeit der unablässig wiederholten Elendsschilderung wehren, so
ist eine weitere Erörterung nutzlos. Reich setzt sich aber durch die einseitige
Verherrlichung der revolutionären Kampf- und Zornkunst, der Hungermotive
nicht nur in entschiednen Widerspruch mit dem eigentlichen Zweck seiner Schrift:
der geistigem Erhebung der großen Volkskreise durch die Kunst, sondern auch
mit dem innersten Bedürfnis dieser Kreise selbst. Gerade die Besitzlosen, die Ent¬
erbten haben das lebendige Verlangen, etwas andres künstlerisch gespiegelt zu
erhalten, als ihr eignes Elend, lind wenn einmal prophezeit werden soll, so
wagen wir zu prophezeien, daß in der großen Volkskunst, in die sich die
bürgerliche Kunst im zwanzigsten Jahrhundert verwandeln soll, die heute be¬
liebte Hungerschilderung einen nicht halb so breiten Raum einnehmen kann
und wird, als der gewissenlose Übermut und die wilde Jagd uach dem an¬
geblich „Neuen" im Augenblick beanspruchen.

Emil Reich hat an einer der lichtvollen Stellen seines Buches eine voll-


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[0595] si (^it-LSN-loi! unter dem Gesichtspunkte Reichs, daß das wesentlichste wenn nicht einzige Ver¬ dienst eines modernen Künstlers und Dichters in dem Blick für Menschen und Zustände des arbeitenden, hart ringenden Volks, der Besitz- und Bilduugsloseu, bestünde, würde sich zeigen, daß dieser Blick viel öfter vorhanden war und ist, als Reich weiß oder zugeben will. Natürlich wird mit solchem Blick mehr gesehen, als nur das Elend, nur die übermenschliche harte, herz- und hirn- vertrvcknende Arbeit, nur die Roheit, der Schmutz und das Laster, die ija uuter der Wucht der modernen Jndustrieeutwicklung und des blödsinnigen Drängens in die Großstädte sicher gewachsen, aber doch nicht alles, nicht „das Leben" und „die Wahrheit" allein sind. Nein, die deutsche Litteratur hat das wundervolle Wort Goethes: „Wie sehr ich wieder auf diesem dunkeln Zug Liebe zu der Klasse von Menschen gekriegt habe, die mau die niedre nennt! die aber gewiß für Gott die höchste ist. Da sind doch alle Tugenden bei¬ sammen, Beschränktheit, Genügsamkeit, gerader Sinn, Treue, Freude über das leidlichste Gute, Harmlosigkeit, Dulden, Dulden, Ausharren!" nur selten ver¬ gessen und hat den feindseligen Klassengegensatz, weder die freche Überhebung des großen Kapitalisten, noch die Furcht des geängstigten Philisters, gegen die „niedre Klasse" nicht geteilt. Wo die Darstellung der bürgerlichen Welt und ihrer Kinder auch nur einen Zug von Überhebung gezeigt hat, ist die Kritik nicht aus¬ geblieben; der gepriesenfte Dichter, den man in gewissem Sinn als einen künstle¬ rischen Anwalt der Bourgeoisie bezeichnen könnte, Gustav Freytag,? hat sich ge¬ fallen lassen müssen, daß man ihm den Geldhvchmut des Herrn Traugott Schröter, der Kapitalbildung und Bildung für synonhm hält, und den Gelehrtendünkel des Herrn Professor Felix Werner scharf vorgerückt hat. Wenn es freilich schon als Ausfluß des „Klasfenbewußtseius" angesehen wird, daß Dichter und Künstler außerhalb der Proletarierkreise noch Menschen sehen, sich aus dem gesündesten Gefühl für die Ganzheit des Lebens und die Fülle feiner Erscheinungen gegen die graue Eintönigkeit der unablässig wiederholten Elendsschilderung wehren, so ist eine weitere Erörterung nutzlos. Reich setzt sich aber durch die einseitige Verherrlichung der revolutionären Kampf- und Zornkunst, der Hungermotive nicht nur in entschiednen Widerspruch mit dem eigentlichen Zweck seiner Schrift: der geistigem Erhebung der großen Volkskreise durch die Kunst, sondern auch mit dem innersten Bedürfnis dieser Kreise selbst. Gerade die Besitzlosen, die Ent¬ erbten haben das lebendige Verlangen, etwas andres künstlerisch gespiegelt zu erhalten, als ihr eignes Elend, lind wenn einmal prophezeit werden soll, so wagen wir zu prophezeien, daß in der großen Volkskunst, in die sich die bürgerliche Kunst im zwanzigsten Jahrhundert verwandeln soll, die heute be¬ liebte Hungerschilderung einen nicht halb so breiten Raum einnehmen kann und wird, als der gewissenlose Übermut und die wilde Jagd uach dem an¬ geblich „Neuen" im Augenblick beanspruchen. Emil Reich hat an einer der lichtvollen Stellen seines Buches eine voll-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/595>, abgerufen am 23.12.2024.