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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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feindselig oder wenigstens gleichgiltig gegen die Armen und Elenden, unfähig,
das Große in der Frage nach der künftigen Stellung des besitzlosen Hand¬
arbeiters zu verstehen, armselig geneigt sei, sich mit der Liebe und ähnlichen
"abgebrauchter" Motiven des Menschenlebens herumzuschlagen, während "der
Hunger in allen seinen mannichfaltigen Formen dem bildenden Künstler wie
dem Poeten Gelegenheit zu vollster Bewahrung seiner Meisterschaft giebt," der
sich zwar gegen die Annahme verwahrt, das; er "die Ansicht vertreten wolle,
als dürften in der Kunst nun bloß noch soziale Gegenstände behandelt werden,"
aber in einer langen Aufzählung alles zusammenreibt, was Leiden und In¬
grimm der Proletarier künstlerisch zu verkörpern trachtet. Daß hier manches
unterläuft, was in diesen Zusammenhang nicht gehört (man mag über Fritz
von Abbe denken, wie man will, aber seine Bilder in einem Atem mit Courbets
oder Christian Kroghs trostlosen Werken, mit Ginottis Petroleuse oder ähn¬
lichen tendenziösen Arbeiten zu nennen, ist schlechthin unzulässig), daß rein künst¬
lerische, aus der warmen innern Teilnahme an dem Lose der Enterbten entquollene
Schöpfungen mit den brutalsten Agitatious- und den grellsten Sensations¬
werken in einem Atem genannt werden, erscheint nur natürlich. Aber viel
stärker für die Beurteilung der Grundanschauung des Verfassers füllt ins Ge¬
wicht, daß er sich genötigt sieht, überall auf die verachtete und vervehmte
Bourgeoistnnst zurückzugreifen, er muß zum Beispiel Charles Dickens heran¬
ziehen (der das Elend gekannt, die Armen an Geist und Leib liebevoll be¬
obachtet und geschildert hat, wie einer, dem aber natürlich die Welt nicht in
der Wiedergabe von Hunger und Haß aufging). Wenn dabei die Dickensschcn
Romane nnr eine höchst unvollständige Würdigung erfahren und eines der
unbedeutendsten seiner Bücher, "Harte Zeiten." in den Mittelpunkt der Betrach¬
tung gerückt wird, so ist das nur die unvermeidliche Folge der tendenziösen
Einseitigkeit Reichs. Mau kann sich des Gedankens nicht erwehren, daß die
ganze Galerie wunderbarer Gestalten ans den untersten Schichten, die der
große englische Humorist aufzuweisen hat, in der Wertschätzung des Verfassers
nur deshalb zurücksteht, weil sie nicht eine revolutionär-agitatorische Spitze
haben, wie Josias Bounderbh und im Gegensatz zu ihm die "Hände" von
Cvketown.

Jedenfalls ist hier der Ort, gegen den ersten falschen Satz des Verfassers,
ans dem alle weitern falschen mit leidlicher Logik folgen, energisch zu pro-
testiren. Die Kunst und namentlich die deutsche Litteratur der ersten beiden
Drittel unsers Jahrhunderts ist so wenig ein "Privilegium der Reichen," be¬
findet sich so wenig in einem feindseligen Klassengegensatz zu den Mensche"
aus dem Volke, daß Dreiviertel der Anschuldigungen, die in ?M<ziu et Lür"gnss8
erhoben werden, für jeden leidlichen Kenner der bessern lebensvollern Schö¬
pfungen --- natürlich auch derer, die nicht in der Gartenlaube erschienen sind
und nicht an der breiten Heerstraße liegen einfach in nichts zerfallen. Selbst


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feindselig oder wenigstens gleichgiltig gegen die Armen und Elenden, unfähig,
das Große in der Frage nach der künftigen Stellung des besitzlosen Hand¬
arbeiters zu verstehen, armselig geneigt sei, sich mit der Liebe und ähnlichen
„abgebrauchter" Motiven des Menschenlebens herumzuschlagen, während „der
Hunger in allen seinen mannichfaltigen Formen dem bildenden Künstler wie
dem Poeten Gelegenheit zu vollster Bewahrung seiner Meisterschaft giebt," der
sich zwar gegen die Annahme verwahrt, das; er „die Ansicht vertreten wolle,
als dürften in der Kunst nun bloß noch soziale Gegenstände behandelt werden,"
aber in einer langen Aufzählung alles zusammenreibt, was Leiden und In¬
grimm der Proletarier künstlerisch zu verkörpern trachtet. Daß hier manches
unterläuft, was in diesen Zusammenhang nicht gehört (man mag über Fritz
von Abbe denken, wie man will, aber seine Bilder in einem Atem mit Courbets
oder Christian Kroghs trostlosen Werken, mit Ginottis Petroleuse oder ähn¬
lichen tendenziösen Arbeiten zu nennen, ist schlechthin unzulässig), daß rein künst¬
lerische, aus der warmen innern Teilnahme an dem Lose der Enterbten entquollene
Schöpfungen mit den brutalsten Agitatious- und den grellsten Sensations¬
werken in einem Atem genannt werden, erscheint nur natürlich. Aber viel
stärker für die Beurteilung der Grundanschauung des Verfassers füllt ins Ge¬
wicht, daß er sich genötigt sieht, überall auf die verachtete und vervehmte
Bourgeoistnnst zurückzugreifen, er muß zum Beispiel Charles Dickens heran¬
ziehen (der das Elend gekannt, die Armen an Geist und Leib liebevoll be¬
obachtet und geschildert hat, wie einer, dem aber natürlich die Welt nicht in
der Wiedergabe von Hunger und Haß aufging). Wenn dabei die Dickensschcn
Romane nnr eine höchst unvollständige Würdigung erfahren und eines der
unbedeutendsten seiner Bücher, „Harte Zeiten." in den Mittelpunkt der Betrach¬
tung gerückt wird, so ist das nur die unvermeidliche Folge der tendenziösen
Einseitigkeit Reichs. Mau kann sich des Gedankens nicht erwehren, daß die
ganze Galerie wunderbarer Gestalten ans den untersten Schichten, die der
große englische Humorist aufzuweisen hat, in der Wertschätzung des Verfassers
nur deshalb zurücksteht, weil sie nicht eine revolutionär-agitatorische Spitze
haben, wie Josias Bounderbh und im Gegensatz zu ihm die „Hände" von
Cvketown.

Jedenfalls ist hier der Ort, gegen den ersten falschen Satz des Verfassers,
ans dem alle weitern falschen mit leidlicher Logik folgen, energisch zu pro-
testiren. Die Kunst und namentlich die deutsche Litteratur der ersten beiden
Drittel unsers Jahrhunderts ist so wenig ein „Privilegium der Reichen," be¬
findet sich so wenig in einem feindseligen Klassengegensatz zu den Mensche»
aus dem Volke, daß Dreiviertel der Anschuldigungen, die in ?M<ziu et Lür«gnss8
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[0594] Z^Amen Livccn»k» feindselig oder wenigstens gleichgiltig gegen die Armen und Elenden, unfähig, das Große in der Frage nach der künftigen Stellung des besitzlosen Hand¬ arbeiters zu verstehen, armselig geneigt sei, sich mit der Liebe und ähnlichen „abgebrauchter" Motiven des Menschenlebens herumzuschlagen, während „der Hunger in allen seinen mannichfaltigen Formen dem bildenden Künstler wie dem Poeten Gelegenheit zu vollster Bewahrung seiner Meisterschaft giebt," der sich zwar gegen die Annahme verwahrt, das; er „die Ansicht vertreten wolle, als dürften in der Kunst nun bloß noch soziale Gegenstände behandelt werden," aber in einer langen Aufzählung alles zusammenreibt, was Leiden und In¬ grimm der Proletarier künstlerisch zu verkörpern trachtet. Daß hier manches unterläuft, was in diesen Zusammenhang nicht gehört (man mag über Fritz von Abbe denken, wie man will, aber seine Bilder in einem Atem mit Courbets oder Christian Kroghs trostlosen Werken, mit Ginottis Petroleuse oder ähn¬ lichen tendenziösen Arbeiten zu nennen, ist schlechthin unzulässig), daß rein künst¬ lerische, aus der warmen innern Teilnahme an dem Lose der Enterbten entquollene Schöpfungen mit den brutalsten Agitatious- und den grellsten Sensations¬ werken in einem Atem genannt werden, erscheint nur natürlich. Aber viel stärker für die Beurteilung der Grundanschauung des Verfassers füllt ins Ge¬ wicht, daß er sich genötigt sieht, überall auf die verachtete und vervehmte Bourgeoistnnst zurückzugreifen, er muß zum Beispiel Charles Dickens heran¬ ziehen (der das Elend gekannt, die Armen an Geist und Leib liebevoll be¬ obachtet und geschildert hat, wie einer, dem aber natürlich die Welt nicht in der Wiedergabe von Hunger und Haß aufging). Wenn dabei die Dickensschcn Romane nnr eine höchst unvollständige Würdigung erfahren und eines der unbedeutendsten seiner Bücher, „Harte Zeiten." in den Mittelpunkt der Betrach¬ tung gerückt wird, so ist das nur die unvermeidliche Folge der tendenziösen Einseitigkeit Reichs. Mau kann sich des Gedankens nicht erwehren, daß die ganze Galerie wunderbarer Gestalten ans den untersten Schichten, die der große englische Humorist aufzuweisen hat, in der Wertschätzung des Verfassers nur deshalb zurücksteht, weil sie nicht eine revolutionär-agitatorische Spitze haben, wie Josias Bounderbh und im Gegensatz zu ihm die „Hände" von Cvketown. Jedenfalls ist hier der Ort, gegen den ersten falschen Satz des Verfassers, ans dem alle weitern falschen mit leidlicher Logik folgen, energisch zu pro- testiren. Die Kunst und namentlich die deutsche Litteratur der ersten beiden Drittel unsers Jahrhunderts ist so wenig ein „Privilegium der Reichen," be¬ findet sich so wenig in einem feindseligen Klassengegensatz zu den Mensche» aus dem Volke, daß Dreiviertel der Anschuldigungen, die in ?M<ziu et Lür«gnss8 erhoben werden, für jeden leidlichen Kenner der bessern lebensvollern Schö¬ pfungen -— natürlich auch derer, die nicht in der Gartenlaube erschienen sind und nicht an der breiten Heerstraße liegen einfach in nichts zerfallen. Selbst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/594>, abgerufen am 23.12.2024.