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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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der Verfasser das eine mal verkündet: "Umgestaltung, nicht Umsturz, das muß
die Lösung aller werden, welche nicht in einer unbedingten Erhaltung des Be¬
stehenden, sondern in der fortschreitenden Entwicklung das Heil erblicken. Daß
diese Entwicklung zu höhern Lebensformen dauernd nur dann begründet werden
kann, wenn sie nicht stoßweise durch Revolution, sondern schrittweise durch
Evolution sich vollzieht, dieses Bewußtsein muß schließlich alle durchdrungen-
es muß aber auch zu der Erkenntnis führen, daß man die Forderungen der
untern Stände vorbeugend erfüllen müsse, ehe sie erzwungen werden," und das
andre mal vollkommen gleichgiltig hinwirft: "ob die Gesellschaftsordnung der
Zukunft mehr den Prinzipien des Sozialismus in seinen gemäßigten Formen,
der Sozialdemokratie, des Kommunismus oder des Anarchismus entsprechen
wird, wissen wir nicht," wenn er das eine mal selbst eine Huldigung für den
Kaiser Franz Joseph beliebt, um ein andermal alle, aber auch alle, die uicht
zum Proletariat im engsten Sinne gehören, in eine Verdammung einzu¬
schließen, wonach alle "Besitzenden" eiskalt, gleichgiltig, ja gehässig den Ar¬
beitern, den Männern des vierten und fünften Standes gegenüberstehen, so
sind das sehr schwache Seiten seines Buches. Nur mit völligem Jgnoriren
der Millionen, die zwischen den "Reichen" und den völlig "Besitzlosen" stehen,
nur mit Verleugnung der Thatsache, daß unser deutsches Leben Hundert-
tausende von Existenzen birgt, die sich in energischer, zum Teil in harter und
angespannter Arbeit die Bedingungen mäßigen Lebensgenusses, aber tieferer Bil¬
dung sichern, mit Verschweigen der Wahrheit, daß diese Hunderttausende nichts
mit denen gemein haben, die "genießen ohne zu schaffen," nichts, als daß sie
ebenfalls nicht hungern oder frieren, kann der Verfasser die Welt in "eine" Bour¬
geoisie und "ein" Proletariat teilen. Einem Geschichtsphilosophen, dem es so
klar ist, daß jede historische Entwicklung auf ihrem Höhepunkt den Keim des
Verderbens in sich trägt, sollte man, nebenbei gesagt, auch zumuten können,
daß er hinter dem Siege der roten Internationale auch bereits die neuen
Herren erblickte, die hart und heiter, hellen Blicks und mit gefühllos eherner
Energie über den versklavten, aber gefütterten Massen schalten und walten
werden, die Aristokratie jener "Übermenschen," die Fr. Nietzsches Philosophisch-
Prophetische Blinder voraus verkünden, jener Gebietenden, bei denen es für
die Geschicke der Menschheit ganz gleich ist, ob sie ans dem Samen der Roth¬
schild und Hirsch oder ans dem der gegenwärtigen Führer der Sozialdemo¬
kratie hervorgehen. Wenn sonst nichts, würde eine historische Ahnung dieser
Art wenigstens das bewirken, daß sich Publizisten und Ästhetiker neueste"
Schlages vielleicht doch bedenken würden, einer Tendeuzkuust das Wort zu
rede", die keine andre Aufgabe haben soll, als den wildesten, erbittertsten
Klassenhaß zu schüren.

Doch wir haben es hier mit dem Ästhetiker Reich zu thun, der der Über¬
zeugung lebt, daß die gesamte Kunst des Jahrhunderts "bürgerlich" und darum


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die Lösung aller werden, welche nicht in einer unbedingten Erhaltung des Be¬
stehenden, sondern in der fortschreitenden Entwicklung das Heil erblicken. Daß
diese Entwicklung zu höhern Lebensformen dauernd nur dann begründet werden
kann, wenn sie nicht stoßweise durch Revolution, sondern schrittweise durch
Evolution sich vollzieht, dieses Bewußtsein muß schließlich alle durchdrungen-
es muß aber auch zu der Erkenntnis führen, daß man die Forderungen der
untern Stände vorbeugend erfüllen müsse, ehe sie erzwungen werden," und das
andre mal vollkommen gleichgiltig hinwirft: „ob die Gesellschaftsordnung der
Zukunft mehr den Prinzipien des Sozialismus in seinen gemäßigten Formen,
der Sozialdemokratie, des Kommunismus oder des Anarchismus entsprechen
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Kaiser Franz Joseph beliebt, um ein andermal alle, aber auch alle, die uicht
zum Proletariat im engsten Sinne gehören, in eine Verdammung einzu¬
schließen, wonach alle „Besitzenden" eiskalt, gleichgiltig, ja gehässig den Ar¬
beitern, den Männern des vierten und fünften Standes gegenüberstehen, so
sind das sehr schwache Seiten seines Buches. Nur mit völligem Jgnoriren
der Millionen, die zwischen den „Reichen" und den völlig „Besitzlosen" stehen,
nur mit Verleugnung der Thatsache, daß unser deutsches Leben Hundert-
tausende von Existenzen birgt, die sich in energischer, zum Teil in harter und
angespannter Arbeit die Bedingungen mäßigen Lebensgenusses, aber tieferer Bil¬
dung sichern, mit Verschweigen der Wahrheit, daß diese Hunderttausende nichts
mit denen gemein haben, die „genießen ohne zu schaffen," nichts, als daß sie
ebenfalls nicht hungern oder frieren, kann der Verfasser die Welt in „eine" Bour¬
geoisie und „ein" Proletariat teilen. Einem Geschichtsphilosophen, dem es so
klar ist, daß jede historische Entwicklung auf ihrem Höhepunkt den Keim des
Verderbens in sich trägt, sollte man, nebenbei gesagt, auch zumuten können,
daß er hinter dem Siege der roten Internationale auch bereits die neuen
Herren erblickte, die hart und heiter, hellen Blicks und mit gefühllos eherner
Energie über den versklavten, aber gefütterten Massen schalten und walten
werden, die Aristokratie jener „Übermenschen," die Fr. Nietzsches Philosophisch-
Prophetische Blinder voraus verkünden, jener Gebietenden, bei denen es für
die Geschicke der Menschheit ganz gleich ist, ob sie ans dem Samen der Roth¬
schild und Hirsch oder ans dem der gegenwärtigen Führer der Sozialdemo¬
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Art wenigstens das bewirken, daß sich Publizisten und Ästhetiker neueste»
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rede», die keine andre Aufgabe haben soll, als den wildesten, erbittertsten
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zeugung lebt, daß die gesamte Kunst des Jahrhunderts „bürgerlich" und darum


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/593>, abgerufen am 23.07.2024.