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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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an den erhebenden Wirkungen wirklicher Kunst ans die Männer und Frauen
des "vierten und fünften Standes," wer hätte nicht erfahren, daß gerade den
größten Schöpfungen der Kunst gegenüber der Instinkt der Massen auf der
vierten und fünften Galerie oft weit wertvoller ist, als die blasirte Bildung
und die Herzenskälte des ersten Ranges, wer leugnet, daß es Pflicht sei, den
besitzlosen Volksklassen zur Besserung ihrer geistigen so gut, wie ihrer mate¬
rielle" Notlage hilfreich die Hand zu bieten? In diesem Sinne würden eine
ganze Reihe der Vorschläge, die der Verfasser im dritten Hauptabschnitte seines
Buchs, "Das Volk sür die Kunst," macht, der ernstesten Erwägung wert sein,
und wir zweifeln keinen Augenblick daran, daß mehr als eine der hier aus-
gesprochnen Forderungen schon in den nächsten Jahren ihre Erfüllung finden
wird. Wir brauchen auch uicht zu untersuchen, ob alle Erörterungen Reichs
ohne weiteres das Rechte treffen; wir fürchten beispielsweise, daß die drako¬
nische Gesetzgebung, die er gegen die Besitzer hervorragender Kunstwerke vor¬
schlägt, zunächst höchstens dazu führen würde, den Ankauf von Kunstwerken
überhaupt zu verleiden. Wer sollte Lust haben, seinen Speise- oder Garten¬
saal mit Wandbildern schmücken zu lassen, wenn er verurteilt werden könnte,
drei Tage in der Woche oder drei Monate im Jahre nicht darin zu essen,
um Raum für die öffentliche Betrachtung zu geben? Die letzte Folge der vom
Verfasser verfochtenen Anschauungen würde es sein, daß keinem gestattet wäre,
sich ein Gartensleckcheu poetischer und geschmackvoller als seiue Nachbarn an¬
zulegen, ohne zugleich die Thür zu öffnen, damit ihm dieses Fleckchen mög¬
lichst bald zertreten würde. Doch soweit sind wir uoch uicht, und im Kern
sind und bleiben die Forderungen Reichs durchaus berechtigt. Auch die Ein¬
wände derer, die zunächst für Brot und Obdach gesorgt Nüssen wollen, ehe
von Kunstgenuß und Kuustverstüuduis die Rede sein kaun, dürfen wir ruhig
beiseite schieben die Losung muß heißen: das eine thun, und das andre
nicht lassen!

Wenn wirklich die Anregung für die freiere Erschließung öffentlicher
Kunstsammlungen, für die Gründung umfassender Volksbibliotheken, für die
Eröffnung von wirklichen Vvlkskonzerteu zu den billigsten Preisen, in denen
grundsätzlich nur die beste Musik geboten werden sollte, für die Unterstützung
von Arbeitergesangvereinen, die möglichst unentgeltliche Massenverbreitung guter
Bücher (namentlich auch guter Unterhaltungsschriften, die nicht der albernen
Zensur beschränkter Nüchternheit unterliegen dürfen), für die Veranstaltung von
Theaterabenden, die den Armen und Besitzlosen ganz umsonst oder gegen ganz
geringfügiges Eintrittsgeld zugänglich sind, der Hauptzweck des Reichschen Buchs
wäre, so würden wir keinen Anlaß haben, uns mit?W6in ot. LürosnssZ polemisch
auseinanderzusetzen. Der letzte Abschnitt des Buchs enthält manche Seite"
und zahlreiche Sätze, die wir nicht nur unbedenklich in die Grenzboten auf¬
nehmen würden, sondern die denn Sinn nach mit vielem übereinstimme", was


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an den erhebenden Wirkungen wirklicher Kunst ans die Männer und Frauen
des „vierten und fünften Standes," wer hätte nicht erfahren, daß gerade den
größten Schöpfungen der Kunst gegenüber der Instinkt der Massen auf der
vierten und fünften Galerie oft weit wertvoller ist, als die blasirte Bildung
und die Herzenskälte des ersten Ranges, wer leugnet, daß es Pflicht sei, den
besitzlosen Volksklassen zur Besserung ihrer geistigen so gut, wie ihrer mate¬
rielle» Notlage hilfreich die Hand zu bieten? In diesem Sinne würden eine
ganze Reihe der Vorschläge, die der Verfasser im dritten Hauptabschnitte seines
Buchs, „Das Volk sür die Kunst," macht, der ernstesten Erwägung wert sein,
und wir zweifeln keinen Augenblick daran, daß mehr als eine der hier aus-
gesprochnen Forderungen schon in den nächsten Jahren ihre Erfüllung finden
wird. Wir brauchen auch uicht zu untersuchen, ob alle Erörterungen Reichs
ohne weiteres das Rechte treffen; wir fürchten beispielsweise, daß die drako¬
nische Gesetzgebung, die er gegen die Besitzer hervorragender Kunstwerke vor¬
schlägt, zunächst höchstens dazu führen würde, den Ankauf von Kunstwerken
überhaupt zu verleiden. Wer sollte Lust haben, seinen Speise- oder Garten¬
saal mit Wandbildern schmücken zu lassen, wenn er verurteilt werden könnte,
drei Tage in der Woche oder drei Monate im Jahre nicht darin zu essen,
um Raum für die öffentliche Betrachtung zu geben? Die letzte Folge der vom
Verfasser verfochtenen Anschauungen würde es sein, daß keinem gestattet wäre,
sich ein Gartensleckcheu poetischer und geschmackvoller als seiue Nachbarn an¬
zulegen, ohne zugleich die Thür zu öffnen, damit ihm dieses Fleckchen mög¬
lichst bald zertreten würde. Doch soweit sind wir uoch uicht, und im Kern
sind und bleiben die Forderungen Reichs durchaus berechtigt. Auch die Ein¬
wände derer, die zunächst für Brot und Obdach gesorgt Nüssen wollen, ehe
von Kunstgenuß und Kuustverstüuduis die Rede sein kaun, dürfen wir ruhig
beiseite schieben die Losung muß heißen: das eine thun, und das andre
nicht lassen!

Wenn wirklich die Anregung für die freiere Erschließung öffentlicher
Kunstsammlungen, für die Gründung umfassender Volksbibliotheken, für die
Eröffnung von wirklichen Vvlkskonzerteu zu den billigsten Preisen, in denen
grundsätzlich nur die beste Musik geboten werden sollte, für die Unterstützung
von Arbeitergesangvereinen, die möglichst unentgeltliche Massenverbreitung guter
Bücher (namentlich auch guter Unterhaltungsschriften, die nicht der albernen
Zensur beschränkter Nüchternheit unterliegen dürfen), für die Veranstaltung von
Theaterabenden, die den Armen und Besitzlosen ganz umsonst oder gegen ganz
geringfügiges Eintrittsgeld zugänglich sind, der Hauptzweck des Reichschen Buchs
wäre, so würden wir keinen Anlaß haben, uns mit?W6in ot. LürosnssZ polemisch
auseinanderzusetzen. Der letzte Abschnitt des Buchs enthält manche Seite»
und zahlreiche Sätze, die wir nicht nur unbedenklich in die Grenzboten auf¬
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[0591] Iranern et Lircen««« an den erhebenden Wirkungen wirklicher Kunst ans die Männer und Frauen des „vierten und fünften Standes," wer hätte nicht erfahren, daß gerade den größten Schöpfungen der Kunst gegenüber der Instinkt der Massen auf der vierten und fünften Galerie oft weit wertvoller ist, als die blasirte Bildung und die Herzenskälte des ersten Ranges, wer leugnet, daß es Pflicht sei, den besitzlosen Volksklassen zur Besserung ihrer geistigen so gut, wie ihrer mate¬ rielle» Notlage hilfreich die Hand zu bieten? In diesem Sinne würden eine ganze Reihe der Vorschläge, die der Verfasser im dritten Hauptabschnitte seines Buchs, „Das Volk sür die Kunst," macht, der ernstesten Erwägung wert sein, und wir zweifeln keinen Augenblick daran, daß mehr als eine der hier aus- gesprochnen Forderungen schon in den nächsten Jahren ihre Erfüllung finden wird. Wir brauchen auch uicht zu untersuchen, ob alle Erörterungen Reichs ohne weiteres das Rechte treffen; wir fürchten beispielsweise, daß die drako¬ nische Gesetzgebung, die er gegen die Besitzer hervorragender Kunstwerke vor¬ schlägt, zunächst höchstens dazu führen würde, den Ankauf von Kunstwerken überhaupt zu verleiden. Wer sollte Lust haben, seinen Speise- oder Garten¬ saal mit Wandbildern schmücken zu lassen, wenn er verurteilt werden könnte, drei Tage in der Woche oder drei Monate im Jahre nicht darin zu essen, um Raum für die öffentliche Betrachtung zu geben? Die letzte Folge der vom Verfasser verfochtenen Anschauungen würde es sein, daß keinem gestattet wäre, sich ein Gartensleckcheu poetischer und geschmackvoller als seiue Nachbarn an¬ zulegen, ohne zugleich die Thür zu öffnen, damit ihm dieses Fleckchen mög¬ lichst bald zertreten würde. Doch soweit sind wir uoch uicht, und im Kern sind und bleiben die Forderungen Reichs durchaus berechtigt. Auch die Ein¬ wände derer, die zunächst für Brot und Obdach gesorgt Nüssen wollen, ehe von Kunstgenuß und Kuustverstüuduis die Rede sein kaun, dürfen wir ruhig beiseite schieben die Losung muß heißen: das eine thun, und das andre nicht lassen! Wenn wirklich die Anregung für die freiere Erschließung öffentlicher Kunstsammlungen, für die Gründung umfassender Volksbibliotheken, für die Eröffnung von wirklichen Vvlkskonzerteu zu den billigsten Preisen, in denen grundsätzlich nur die beste Musik geboten werden sollte, für die Unterstützung von Arbeitergesangvereinen, die möglichst unentgeltliche Massenverbreitung guter Bücher (namentlich auch guter Unterhaltungsschriften, die nicht der albernen Zensur beschränkter Nüchternheit unterliegen dürfen), für die Veranstaltung von Theaterabenden, die den Armen und Besitzlosen ganz umsonst oder gegen ganz geringfügiges Eintrittsgeld zugänglich sind, der Hauptzweck des Reichschen Buchs wäre, so würden wir keinen Anlaß haben, uns mit?W6in ot. LürosnssZ polemisch auseinanderzusetzen. Der letzte Abschnitt des Buchs enthält manche Seite» und zahlreiche Sätze, die wir nicht nur unbedenklich in die Grenzboten auf¬ nehmen würden, sondern die denn Sinn nach mit vielem übereinstimme», was

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/591>, abgerufen am 23.07.2024.