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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Der Rückgang der französischen Bevölkerung

(7,4 vom Tausend jährlich für den Zeitraum von 1865 bis 1883 gegen den
Durchschnitt 8,4 für ganz' Europa) hält Levasfeur nicht für bedenklich; die
feit etwa zehn Jahren bemerkbare Abnahme erklärt er durch die Erhöhung
der wirklichen Präsenzziffer des Heeres und durch die Wanderungen vom Lande
in die Städte. Die Schwäche Frankreichs -- das gesteht er zu -- liegt in
der geringen Geburtsziffer, die von 32,2 (jährlicher Durchschnitt vom Tausend
für den Zeitraum 1801 bis 1810) auf 24,0 (für den Zeitraum von 1881 bis
1888) zurückgegangen ist; in der zweiten Hälfte unsers Jahrhunderts aber
war der Niedergang rascher als in der ersten. Levasfeur erwähnt, daß seit 1886
die Zahl der Geburten über 900000 jährlich beträgt, er vergißt aber hinzu¬
zufügen, daß diese Zahl in dem Zeitraume von 1859 bis 1866 meist die Million
überschritten hatte, seit 1801 aber immer höher gewesen ist als 900000. Er
berechnet, daß das sogenannte produktive Alter, die Altersklassen vom 15. bis
60. Lebensjahre, infolge der vorerwähnten, den Aufbau der Bevölkerungs¬
pyramide beeinflussenden Verhältnisse ungefähr drei Fünftel der Bevölkerung
betrügt (1866 61,9 Prozent, 1886 60,9 Prozent), während z. B. 1876 die
Altersklassen von 15 bis zu 65 Jahren in der Schweiz mit 63, im deutschen
Reiche mit weniger als 61, in Großbritannien mit weniger als 60 Prozent
der Bevölkerung vertreten waren. Solche Ziffern mögen einen Trost bieten
und Aussichten auf die wirtschaftliche Zukunft des Landes eröffnen, die deu
Patrioten über die demvgrciphischen Bedenken hinwegtäuschen mögen. Aber die
politische Seite der Frage erfordert, wenn man für die unmittelbare Gegen¬
wart Beobachtungen anstellt, Rücksicht auf die absoluten Zahlen, nicht auf die
Verhältniszahlen; denn die Heeresergänzung der nächsten Zeit berechnet sich
nach den wirklichen, nicht nach den verhältnismäßigen Zahlen, die kaum eine
nodo c1" "onsolMou bieten. Hier liegt die Gefahr. Es ist zwar wahr, daß
much anderwärts und allenthalben weniger die Zahl der Heiraten als die Zahl
der Geburten, d. h. die Fruchtbarkeit der Ehen abnimmt, wenn aber Frank¬
reich wirklich, wie es sich rühmt, an der Spitze der Zivilisation einherschreitet,
so wird es auch die Folgen dieses Vorzugs lange vor andern Statten er¬
fahren, die in dieser Beziehung weit im Rückstände sind und daher auf Jahr¬
zehnte oder auf ein Jahrhundert Vorsprung haben.

Die Abnahme der Geburten wird nun zwar auch in andern Ländern be¬
obachtet, aber nicht in dem Maße wie in Frankreich. Seit 1872 berechnet
man für Europa als Jahresdurchschnitt der Geburtenüberschüsse 11 vom Tau¬
send, in Deutschland 11,6, in Frankreich 3,4. Frankreich war aber schon 1881
auf 2,9 zurückgegangen, dann auf einen Jahresdurchschnitt von 1,7, und 1890
find die Geburtenüberschüsse ganz ausgeblieben. Eine Folge der Abnahme der
Geburten ist die Zunahme der Einwanderung. Kein europäischer Staat be¬
herbergt so viel Fremde wie Frankreich. Levasseur ist der Ansicht, daß es
nötig sein werde, die Fremden soweit möglich der staatlichen Gesellschaft zu-


Der Rückgang der französischen Bevölkerung

(7,4 vom Tausend jährlich für den Zeitraum von 1865 bis 1883 gegen den
Durchschnitt 8,4 für ganz' Europa) hält Levasfeur nicht für bedenklich; die
feit etwa zehn Jahren bemerkbare Abnahme erklärt er durch die Erhöhung
der wirklichen Präsenzziffer des Heeres und durch die Wanderungen vom Lande
in die Städte. Die Schwäche Frankreichs — das gesteht er zu — liegt in
der geringen Geburtsziffer, die von 32,2 (jährlicher Durchschnitt vom Tausend
für den Zeitraum 1801 bis 1810) auf 24,0 (für den Zeitraum von 1881 bis
1888) zurückgegangen ist; in der zweiten Hälfte unsers Jahrhunderts aber
war der Niedergang rascher als in der ersten. Levasfeur erwähnt, daß seit 1886
die Zahl der Geburten über 900000 jährlich beträgt, er vergißt aber hinzu¬
zufügen, daß diese Zahl in dem Zeitraume von 1859 bis 1866 meist die Million
überschritten hatte, seit 1801 aber immer höher gewesen ist als 900000. Er
berechnet, daß das sogenannte produktive Alter, die Altersklassen vom 15. bis
60. Lebensjahre, infolge der vorerwähnten, den Aufbau der Bevölkerungs¬
pyramide beeinflussenden Verhältnisse ungefähr drei Fünftel der Bevölkerung
betrügt (1866 61,9 Prozent, 1886 60,9 Prozent), während z. B. 1876 die
Altersklassen von 15 bis zu 65 Jahren in der Schweiz mit 63, im deutschen
Reiche mit weniger als 61, in Großbritannien mit weniger als 60 Prozent
der Bevölkerung vertreten waren. Solche Ziffern mögen einen Trost bieten
und Aussichten auf die wirtschaftliche Zukunft des Landes eröffnen, die deu
Patrioten über die demvgrciphischen Bedenken hinwegtäuschen mögen. Aber die
politische Seite der Frage erfordert, wenn man für die unmittelbare Gegen¬
wart Beobachtungen anstellt, Rücksicht auf die absoluten Zahlen, nicht auf die
Verhältniszahlen; denn die Heeresergänzung der nächsten Zeit berechnet sich
nach den wirklichen, nicht nach den verhältnismäßigen Zahlen, die kaum eine
nodo c1« «onsolMou bieten. Hier liegt die Gefahr. Es ist zwar wahr, daß
much anderwärts und allenthalben weniger die Zahl der Heiraten als die Zahl
der Geburten, d. h. die Fruchtbarkeit der Ehen abnimmt, wenn aber Frank¬
reich wirklich, wie es sich rühmt, an der Spitze der Zivilisation einherschreitet,
so wird es auch die Folgen dieses Vorzugs lange vor andern Statten er¬
fahren, die in dieser Beziehung weit im Rückstände sind und daher auf Jahr¬
zehnte oder auf ein Jahrhundert Vorsprung haben.

Die Abnahme der Geburten wird nun zwar auch in andern Ländern be¬
obachtet, aber nicht in dem Maße wie in Frankreich. Seit 1872 berechnet
man für Europa als Jahresdurchschnitt der Geburtenüberschüsse 11 vom Tau¬
send, in Deutschland 11,6, in Frankreich 3,4. Frankreich war aber schon 1881
auf 2,9 zurückgegangen, dann auf einen Jahresdurchschnitt von 1,7, und 1890
find die Geburtenüberschüsse ganz ausgeblieben. Eine Folge der Abnahme der
Geburten ist die Zunahme der Einwanderung. Kein europäischer Staat be¬
herbergt so viel Fremde wie Frankreich. Levasseur ist der Ansicht, daß es
nötig sein werde, die Fremden soweit möglich der staatlichen Gesellschaft zu-


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[0568] Der Rückgang der französischen Bevölkerung (7,4 vom Tausend jährlich für den Zeitraum von 1865 bis 1883 gegen den Durchschnitt 8,4 für ganz' Europa) hält Levasfeur nicht für bedenklich; die feit etwa zehn Jahren bemerkbare Abnahme erklärt er durch die Erhöhung der wirklichen Präsenzziffer des Heeres und durch die Wanderungen vom Lande in die Städte. Die Schwäche Frankreichs — das gesteht er zu — liegt in der geringen Geburtsziffer, die von 32,2 (jährlicher Durchschnitt vom Tausend für den Zeitraum 1801 bis 1810) auf 24,0 (für den Zeitraum von 1881 bis 1888) zurückgegangen ist; in der zweiten Hälfte unsers Jahrhunderts aber war der Niedergang rascher als in der ersten. Levasfeur erwähnt, daß seit 1886 die Zahl der Geburten über 900000 jährlich beträgt, er vergißt aber hinzu¬ zufügen, daß diese Zahl in dem Zeitraume von 1859 bis 1866 meist die Million überschritten hatte, seit 1801 aber immer höher gewesen ist als 900000. Er berechnet, daß das sogenannte produktive Alter, die Altersklassen vom 15. bis 60. Lebensjahre, infolge der vorerwähnten, den Aufbau der Bevölkerungs¬ pyramide beeinflussenden Verhältnisse ungefähr drei Fünftel der Bevölkerung betrügt (1866 61,9 Prozent, 1886 60,9 Prozent), während z. B. 1876 die Altersklassen von 15 bis zu 65 Jahren in der Schweiz mit 63, im deutschen Reiche mit weniger als 61, in Großbritannien mit weniger als 60 Prozent der Bevölkerung vertreten waren. Solche Ziffern mögen einen Trost bieten und Aussichten auf die wirtschaftliche Zukunft des Landes eröffnen, die deu Patrioten über die demvgrciphischen Bedenken hinwegtäuschen mögen. Aber die politische Seite der Frage erfordert, wenn man für die unmittelbare Gegen¬ wart Beobachtungen anstellt, Rücksicht auf die absoluten Zahlen, nicht auf die Verhältniszahlen; denn die Heeresergänzung der nächsten Zeit berechnet sich nach den wirklichen, nicht nach den verhältnismäßigen Zahlen, die kaum eine nodo c1« «onsolMou bieten. Hier liegt die Gefahr. Es ist zwar wahr, daß much anderwärts und allenthalben weniger die Zahl der Heiraten als die Zahl der Geburten, d. h. die Fruchtbarkeit der Ehen abnimmt, wenn aber Frank¬ reich wirklich, wie es sich rühmt, an der Spitze der Zivilisation einherschreitet, so wird es auch die Folgen dieses Vorzugs lange vor andern Statten er¬ fahren, die in dieser Beziehung weit im Rückstände sind und daher auf Jahr¬ zehnte oder auf ein Jahrhundert Vorsprung haben. Die Abnahme der Geburten wird nun zwar auch in andern Ländern be¬ obachtet, aber nicht in dem Maße wie in Frankreich. Seit 1872 berechnet man für Europa als Jahresdurchschnitt der Geburtenüberschüsse 11 vom Tau¬ send, in Deutschland 11,6, in Frankreich 3,4. Frankreich war aber schon 1881 auf 2,9 zurückgegangen, dann auf einen Jahresdurchschnitt von 1,7, und 1890 find die Geburtenüberschüsse ganz ausgeblieben. Eine Folge der Abnahme der Geburten ist die Zunahme der Einwanderung. Kein europäischer Staat be¬ herbergt so viel Fremde wie Frankreich. Levasseur ist der Ansicht, daß es nötig sein werde, die Fremden soweit möglich der staatlichen Gesellschaft zu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/568>, abgerufen am 23.07.2024.