Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Rückgang der französische" Bevölkerung

Der von I. Stucirt Mill gepriesene Beharrungszustand lasse sich,
meint Levasseur, für einen längern Zeitraum geschichtlich nicht nachweisen und
sei auch nicht wünschenswert; der Stachel zum wirtschaftlichen Fortschritt
liege gerade in dem Anwachsen der Bevölkerung. Wenn aber die Bevölkerung
stetig abnimmt, dann wird auch der Trieb zum Schaffen sinken, und hier
scheint der schwache Punkt in den Ausführungen Levasfeurs zu liegen.

Von Frankreich meint Levasseur, das es sich dem Beharrungszustande
nähere. Frankreich habe mit Ausnahme der Kriegsjahre 1854, 1855, 1870
und 1871, wozu allerdings auch noch das Friedeusjcchr 1890 gekommen sei
und, wie zu befürchten, auch das Jahr 1892 kommen werde, stets Geburts¬
überschüsse gehabt; obgleich gering, seien diese Überschüsse doch immer höher
gewesen als die Zahl der Geburten in den Familien der Fremden; seit fünf¬
zehn Jahren aber sei in dieser langsamen Bewegung noch ein Zögern eingetreten,
während sich der allgemeine Wohlstand ohne Zweifel vermehrt habe. Eine
Vermehrung der Bevölkerung, wie solche das neunzehnte Jahrhundert aufzu¬
weisen habe, sei aber überhaupt uoch nicht dagewesen, sondern sei thatsächlich
durch die Erfindungen in der Benutzung der Dampfkraft herbeigeführt worden.

In der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts hätten sich die Statistiker
überhaupt mit der Frage wenig beschäftigt, und die Nationalökonomen hätten
darüber gedacht wie Malthus. Erst unter dem zweiten Kaiserreiche habe die
öffentliche Meinung eine andre Richtung eingeschlagen, und seit Gründung
des deutschen Reichs bedürfe es eines gewissen Muts, um wisseuschciftlich die
wirtschaftlichen Vorteile eines langsamen Anwachsens der Bevölkerung zu
untersuchen und mit den politischen Nachteilen einer Verrückung des euro¬
päischen Gleichgewichts abzuwägen. Die Gefahr sei offenkundig und zeige sich
bei jeder Zählung. Keine Großmacht in Europa habe eine so bedrohte Haupt¬
stadt wie Frankreich. Levassenr fragt sich, ob ihm wohl der französische Leser
verzeihen werde, wenn er sage, daß sich Frankreich mit dieser Thatsache ab¬
finden müsse, und daß es würdiger und nützlicher sei, zu raten, die Heilmittel
dort anzuwenden, wo sie wirksamer seien, statt sich in Klagen über eine uner¬
bittliche Notwendigkeit zu ergehen. Auch die Thatsache müsse Frankreich als
unabänderlich hinnehmen, daß Frankreich, das 1816 uuter den fünf Gro߬
mächten Europas 21 Prozent darstellte, heute unter den sechs Großmächten
kaum 13 Prozent vertrete.

Zur Kennzeichnung der Lage des französischen Volks hebt Levasseur die
geringe Sterblichkeit hervor (22,2 vom Tausend jährlich für den Zeitraum
1881 bis 1888, während für dieselbe Zeit der Jahresdurchschnitt für Europa
28 vom Tausend war). Ohne zu verkennen, daß diese günstige Zahl besonders
mit der geringen Anzahl von Geburten zusammenhängt, glaubt Levasseur doch
auf die Verlüugeruug der durchschnittlichen Lebensdauer hinweisen zu sollen,
die sich unverkennbar allgemein geltend macht. Die Zahl der Eheschließungen


Der Rückgang der französische» Bevölkerung

Der von I. Stucirt Mill gepriesene Beharrungszustand lasse sich,
meint Levasseur, für einen längern Zeitraum geschichtlich nicht nachweisen und
sei auch nicht wünschenswert; der Stachel zum wirtschaftlichen Fortschritt
liege gerade in dem Anwachsen der Bevölkerung. Wenn aber die Bevölkerung
stetig abnimmt, dann wird auch der Trieb zum Schaffen sinken, und hier
scheint der schwache Punkt in den Ausführungen Levasfeurs zu liegen.

Von Frankreich meint Levasseur, das es sich dem Beharrungszustande
nähere. Frankreich habe mit Ausnahme der Kriegsjahre 1854, 1855, 1870
und 1871, wozu allerdings auch noch das Friedeusjcchr 1890 gekommen sei
und, wie zu befürchten, auch das Jahr 1892 kommen werde, stets Geburts¬
überschüsse gehabt; obgleich gering, seien diese Überschüsse doch immer höher
gewesen als die Zahl der Geburten in den Familien der Fremden; seit fünf¬
zehn Jahren aber sei in dieser langsamen Bewegung noch ein Zögern eingetreten,
während sich der allgemeine Wohlstand ohne Zweifel vermehrt habe. Eine
Vermehrung der Bevölkerung, wie solche das neunzehnte Jahrhundert aufzu¬
weisen habe, sei aber überhaupt uoch nicht dagewesen, sondern sei thatsächlich
durch die Erfindungen in der Benutzung der Dampfkraft herbeigeführt worden.

In der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts hätten sich die Statistiker
überhaupt mit der Frage wenig beschäftigt, und die Nationalökonomen hätten
darüber gedacht wie Malthus. Erst unter dem zweiten Kaiserreiche habe die
öffentliche Meinung eine andre Richtung eingeschlagen, und seit Gründung
des deutschen Reichs bedürfe es eines gewissen Muts, um wisseuschciftlich die
wirtschaftlichen Vorteile eines langsamen Anwachsens der Bevölkerung zu
untersuchen und mit den politischen Nachteilen einer Verrückung des euro¬
päischen Gleichgewichts abzuwägen. Die Gefahr sei offenkundig und zeige sich
bei jeder Zählung. Keine Großmacht in Europa habe eine so bedrohte Haupt¬
stadt wie Frankreich. Levassenr fragt sich, ob ihm wohl der französische Leser
verzeihen werde, wenn er sage, daß sich Frankreich mit dieser Thatsache ab¬
finden müsse, und daß es würdiger und nützlicher sei, zu raten, die Heilmittel
dort anzuwenden, wo sie wirksamer seien, statt sich in Klagen über eine uner¬
bittliche Notwendigkeit zu ergehen. Auch die Thatsache müsse Frankreich als
unabänderlich hinnehmen, daß Frankreich, das 1816 uuter den fünf Gro߬
mächten Europas 21 Prozent darstellte, heute unter den sechs Großmächten
kaum 13 Prozent vertrete.

Zur Kennzeichnung der Lage des französischen Volks hebt Levasseur die
geringe Sterblichkeit hervor (22,2 vom Tausend jährlich für den Zeitraum
1881 bis 1888, während für dieselbe Zeit der Jahresdurchschnitt für Europa
28 vom Tausend war). Ohne zu verkennen, daß diese günstige Zahl besonders
mit der geringen Anzahl von Geburten zusammenhängt, glaubt Levasseur doch
auf die Verlüugeruug der durchschnittlichen Lebensdauer hinweisen zu sollen,
die sich unverkennbar allgemein geltend macht. Die Zahl der Eheschließungen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0567" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213681"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Rückgang der französische» Bevölkerung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1774"> Der von I. Stucirt Mill gepriesene Beharrungszustand lasse sich,<lb/>
meint Levasseur, für einen längern Zeitraum geschichtlich nicht nachweisen und<lb/>
sei auch nicht wünschenswert; der Stachel zum wirtschaftlichen Fortschritt<lb/>
liege gerade in dem Anwachsen der Bevölkerung. Wenn aber die Bevölkerung<lb/>
stetig abnimmt, dann wird auch der Trieb zum Schaffen sinken, und hier<lb/>
scheint der schwache Punkt in den Ausführungen Levasfeurs zu liegen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1775"> Von Frankreich meint Levasseur, das es sich dem Beharrungszustande<lb/>
nähere. Frankreich habe mit Ausnahme der Kriegsjahre 1854, 1855, 1870<lb/>
und 1871, wozu allerdings auch noch das Friedeusjcchr 1890 gekommen sei<lb/>
und, wie zu befürchten, auch das Jahr 1892 kommen werde, stets Geburts¬<lb/>
überschüsse gehabt; obgleich gering, seien diese Überschüsse doch immer höher<lb/>
gewesen als die Zahl der Geburten in den Familien der Fremden; seit fünf¬<lb/>
zehn Jahren aber sei in dieser langsamen Bewegung noch ein Zögern eingetreten,<lb/>
während sich der allgemeine Wohlstand ohne Zweifel vermehrt habe. Eine<lb/>
Vermehrung der Bevölkerung, wie solche das neunzehnte Jahrhundert aufzu¬<lb/>
weisen habe, sei aber überhaupt uoch nicht dagewesen, sondern sei thatsächlich<lb/>
durch die Erfindungen in der Benutzung der Dampfkraft herbeigeführt worden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1776"> In der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts hätten sich die Statistiker<lb/>
überhaupt mit der Frage wenig beschäftigt, und die Nationalökonomen hätten<lb/>
darüber gedacht wie Malthus. Erst unter dem zweiten Kaiserreiche habe die<lb/>
öffentliche Meinung eine andre Richtung eingeschlagen, und seit Gründung<lb/>
des deutschen Reichs bedürfe es eines gewissen Muts, um wisseuschciftlich die<lb/>
wirtschaftlichen Vorteile eines langsamen Anwachsens der Bevölkerung zu<lb/>
untersuchen und mit den politischen Nachteilen einer Verrückung des euro¬<lb/>
päischen Gleichgewichts abzuwägen. Die Gefahr sei offenkundig und zeige sich<lb/>
bei jeder Zählung. Keine Großmacht in Europa habe eine so bedrohte Haupt¬<lb/>
stadt wie Frankreich. Levassenr fragt sich, ob ihm wohl der französische Leser<lb/>
verzeihen werde, wenn er sage, daß sich Frankreich mit dieser Thatsache ab¬<lb/>
finden müsse, und daß es würdiger und nützlicher sei, zu raten, die Heilmittel<lb/>
dort anzuwenden, wo sie wirksamer seien, statt sich in Klagen über eine uner¬<lb/>
bittliche Notwendigkeit zu ergehen. Auch die Thatsache müsse Frankreich als<lb/>
unabänderlich hinnehmen, daß Frankreich, das 1816 uuter den fünf Gro߬<lb/>
mächten Europas 21 Prozent darstellte, heute unter den sechs Großmächten<lb/>
kaum 13 Prozent vertrete.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1777" next="#ID_1778"> Zur Kennzeichnung der Lage des französischen Volks hebt Levasseur die<lb/>
geringe Sterblichkeit hervor (22,2 vom Tausend jährlich für den Zeitraum<lb/>
1881 bis 1888, während für dieselbe Zeit der Jahresdurchschnitt für Europa<lb/>
28 vom Tausend war). Ohne zu verkennen, daß diese günstige Zahl besonders<lb/>
mit der geringen Anzahl von Geburten zusammenhängt, glaubt Levasseur doch<lb/>
auf die Verlüugeruug der durchschnittlichen Lebensdauer hinweisen zu sollen,<lb/>
die sich unverkennbar allgemein geltend macht. Die Zahl der Eheschließungen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0567] Der Rückgang der französische» Bevölkerung Der von I. Stucirt Mill gepriesene Beharrungszustand lasse sich, meint Levasseur, für einen längern Zeitraum geschichtlich nicht nachweisen und sei auch nicht wünschenswert; der Stachel zum wirtschaftlichen Fortschritt liege gerade in dem Anwachsen der Bevölkerung. Wenn aber die Bevölkerung stetig abnimmt, dann wird auch der Trieb zum Schaffen sinken, und hier scheint der schwache Punkt in den Ausführungen Levasfeurs zu liegen. Von Frankreich meint Levasseur, das es sich dem Beharrungszustande nähere. Frankreich habe mit Ausnahme der Kriegsjahre 1854, 1855, 1870 und 1871, wozu allerdings auch noch das Friedeusjcchr 1890 gekommen sei und, wie zu befürchten, auch das Jahr 1892 kommen werde, stets Geburts¬ überschüsse gehabt; obgleich gering, seien diese Überschüsse doch immer höher gewesen als die Zahl der Geburten in den Familien der Fremden; seit fünf¬ zehn Jahren aber sei in dieser langsamen Bewegung noch ein Zögern eingetreten, während sich der allgemeine Wohlstand ohne Zweifel vermehrt habe. Eine Vermehrung der Bevölkerung, wie solche das neunzehnte Jahrhundert aufzu¬ weisen habe, sei aber überhaupt uoch nicht dagewesen, sondern sei thatsächlich durch die Erfindungen in der Benutzung der Dampfkraft herbeigeführt worden. In der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts hätten sich die Statistiker überhaupt mit der Frage wenig beschäftigt, und die Nationalökonomen hätten darüber gedacht wie Malthus. Erst unter dem zweiten Kaiserreiche habe die öffentliche Meinung eine andre Richtung eingeschlagen, und seit Gründung des deutschen Reichs bedürfe es eines gewissen Muts, um wisseuschciftlich die wirtschaftlichen Vorteile eines langsamen Anwachsens der Bevölkerung zu untersuchen und mit den politischen Nachteilen einer Verrückung des euro¬ päischen Gleichgewichts abzuwägen. Die Gefahr sei offenkundig und zeige sich bei jeder Zählung. Keine Großmacht in Europa habe eine so bedrohte Haupt¬ stadt wie Frankreich. Levassenr fragt sich, ob ihm wohl der französische Leser verzeihen werde, wenn er sage, daß sich Frankreich mit dieser Thatsache ab¬ finden müsse, und daß es würdiger und nützlicher sei, zu raten, die Heilmittel dort anzuwenden, wo sie wirksamer seien, statt sich in Klagen über eine uner¬ bittliche Notwendigkeit zu ergehen. Auch die Thatsache müsse Frankreich als unabänderlich hinnehmen, daß Frankreich, das 1816 uuter den fünf Gro߬ mächten Europas 21 Prozent darstellte, heute unter den sechs Großmächten kaum 13 Prozent vertrete. Zur Kennzeichnung der Lage des französischen Volks hebt Levasseur die geringe Sterblichkeit hervor (22,2 vom Tausend jährlich für den Zeitraum 1881 bis 1888, während für dieselbe Zeit der Jahresdurchschnitt für Europa 28 vom Tausend war). Ohne zu verkennen, daß diese günstige Zahl besonders mit der geringen Anzahl von Geburten zusammenhängt, glaubt Levasseur doch auf die Verlüugeruug der durchschnittlichen Lebensdauer hinweisen zu sollen, die sich unverkennbar allgemein geltend macht. Die Zahl der Eheschließungen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/567
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/567>, abgerufen am 23.07.2024.