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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Der Rückgang der französischen Bevölkerung

sich in einer Abnahme der Zahlen der Eheschließungen und der Geburten
ausdrückt, und während allerdings diese Vermehrung der Bevölkerung ein¬
getreten ist, hat sich auch deren Wohlstand unzweifelhaft ebenfalls erhöht, so-
daß wir sagen können, daß das dichter bevölkerte Europa im ganzen hente
behäbiger lebt, als die weit dünner gesäte Bevölkerung des vorigen Jahr¬
hunderts. Die Befürchtung von Malthus, daß ein Mißverhältnis zwischen
der Entstehung lind Schaffung von Lebensmitteln und Lebensbedingungen
einerseits und dem Wachstum der Bevölkerung andrerseits zu unerträglichen
Zuständen führen würde, hat sich gerade in unserm Jahrhundert, wo sich die
Bevölkerung von Europa in einer Weise vermehrt hat, wie es selbst Malthus
nicht ahnen konnte, nicht bewahrheitet. Malthus konnte keine Ahnung davon
haben, wie der freiheitliche Aufschwung unter den Völkern, wie die Entfesselung
aller Kräfte, wie die sich überstürzenden Erfindungen des menschlichen Geistes,
wie die Erleichterungen des Verkehrs und die Erschließung neuer Handels¬
verbindungen, wie endlich die Eröffnung eines allgemeinen Weltmarkts alle
Grundlagen seiner Berechnung verrücken und durcheinanderwerfen würde.

Wenn wir heute ein einzelnes Staatswesen für sich betrachten, so ist nicht
zu leugnen, daß ein Mißverhältnis zwischen Bevölkerung und Nahrungsquellen
des Landes zu einer Änderung der Wirtschafts- und der Zollpolitik nötigen
kann, aber es liegt dann noch kein Anlaß vor, die Lebensfrage überhaupt zu
stellen. Die Befürchtungen von Malthus sind nur richtig, wenn man sie für
die ganze arbeitende, schaffende und handelnde Welt stellt, und da läßt sich
wohl denken, daß in einer fernen Zukunft die Frage über das äußerste Maß
der Dichtigkeit der Bevölkerung einmal aufgeworfen werden wird. Es läßt sich
das denken, Befürchtungen brnnchen wir aber in dieser Beziehung uoch nicht zu
hegen; denn es zeigt sich heute schou deutlich, daß die Grundsätze von Malthus tief
in unser gesellschaftliches Leben eingegriffen haben, daß sie zu einem Losungs¬
worte, zu einem rettenden Auswege im Kampfe ums Dasein geworden sind.
Die Grundsätze von Malthus haben nicht nur keine Bestätigung, sondern eher
eine Widerlegung erfahren; der Gesichtskreis war zu enge gezogen für das
Leben eines Volks, das in den Wirbel des Weltverkehrs getrieben wird, aber
er war nicht zu enge gezogen für die Familie. Die volkswirtschaftlichen Be¬
fürchtungen von Malthus sind dnrch die Erfahrungen zerstreut, aber seiue
Schüler sind geblieben; diese Schüler aber sind nicht mehr die Volkswirte,
sondern es sind die Familienväter!

Während man aber hente noch über die Richtigkeit der Grundsätze von
Malthus streitet, erleben wir, daß sich in Frankreich gleichzeitig der Wohl¬
stand immer mehr vermehrt und verbreitet, und daß gleichwohl das Wachs¬
tum der Bevölkerung stetig abnimmt; oder sollte ans den Erscheinungen, die
sich bieten, die Folgerung so gebildet werden, daß sich der allgemeine Wohl¬
stand mehrt, weil sich das Wachstum der Bevölkerung stetig und bedeutend


Der Rückgang der französischen Bevölkerung

sich in einer Abnahme der Zahlen der Eheschließungen und der Geburten
ausdrückt, und während allerdings diese Vermehrung der Bevölkerung ein¬
getreten ist, hat sich auch deren Wohlstand unzweifelhaft ebenfalls erhöht, so-
daß wir sagen können, daß das dichter bevölkerte Europa im ganzen hente
behäbiger lebt, als die weit dünner gesäte Bevölkerung des vorigen Jahr¬
hunderts. Die Befürchtung von Malthus, daß ein Mißverhältnis zwischen
der Entstehung lind Schaffung von Lebensmitteln und Lebensbedingungen
einerseits und dem Wachstum der Bevölkerung andrerseits zu unerträglichen
Zuständen führen würde, hat sich gerade in unserm Jahrhundert, wo sich die
Bevölkerung von Europa in einer Weise vermehrt hat, wie es selbst Malthus
nicht ahnen konnte, nicht bewahrheitet. Malthus konnte keine Ahnung davon
haben, wie der freiheitliche Aufschwung unter den Völkern, wie die Entfesselung
aller Kräfte, wie die sich überstürzenden Erfindungen des menschlichen Geistes,
wie die Erleichterungen des Verkehrs und die Erschließung neuer Handels¬
verbindungen, wie endlich die Eröffnung eines allgemeinen Weltmarkts alle
Grundlagen seiner Berechnung verrücken und durcheinanderwerfen würde.

Wenn wir heute ein einzelnes Staatswesen für sich betrachten, so ist nicht
zu leugnen, daß ein Mißverhältnis zwischen Bevölkerung und Nahrungsquellen
des Landes zu einer Änderung der Wirtschafts- und der Zollpolitik nötigen
kann, aber es liegt dann noch kein Anlaß vor, die Lebensfrage überhaupt zu
stellen. Die Befürchtungen von Malthus sind nur richtig, wenn man sie für
die ganze arbeitende, schaffende und handelnde Welt stellt, und da läßt sich
wohl denken, daß in einer fernen Zukunft die Frage über das äußerste Maß
der Dichtigkeit der Bevölkerung einmal aufgeworfen werden wird. Es läßt sich
das denken, Befürchtungen brnnchen wir aber in dieser Beziehung uoch nicht zu
hegen; denn es zeigt sich heute schou deutlich, daß die Grundsätze von Malthus tief
in unser gesellschaftliches Leben eingegriffen haben, daß sie zu einem Losungs¬
worte, zu einem rettenden Auswege im Kampfe ums Dasein geworden sind.
Die Grundsätze von Malthus haben nicht nur keine Bestätigung, sondern eher
eine Widerlegung erfahren; der Gesichtskreis war zu enge gezogen für das
Leben eines Volks, das in den Wirbel des Weltverkehrs getrieben wird, aber
er war nicht zu enge gezogen für die Familie. Die volkswirtschaftlichen Be¬
fürchtungen von Malthus sind dnrch die Erfahrungen zerstreut, aber seiue
Schüler sind geblieben; diese Schüler aber sind nicht mehr die Volkswirte,
sondern es sind die Familienväter!

Während man aber hente noch über die Richtigkeit der Grundsätze von
Malthus streitet, erleben wir, daß sich in Frankreich gleichzeitig der Wohl¬
stand immer mehr vermehrt und verbreitet, und daß gleichwohl das Wachs¬
tum der Bevölkerung stetig abnimmt; oder sollte ans den Erscheinungen, die
sich bieten, die Folgerung so gebildet werden, daß sich der allgemeine Wohl¬
stand mehrt, weil sich das Wachstum der Bevölkerung stetig und bedeutend


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[0562] Der Rückgang der französischen Bevölkerung sich in einer Abnahme der Zahlen der Eheschließungen und der Geburten ausdrückt, und während allerdings diese Vermehrung der Bevölkerung ein¬ getreten ist, hat sich auch deren Wohlstand unzweifelhaft ebenfalls erhöht, so- daß wir sagen können, daß das dichter bevölkerte Europa im ganzen hente behäbiger lebt, als die weit dünner gesäte Bevölkerung des vorigen Jahr¬ hunderts. Die Befürchtung von Malthus, daß ein Mißverhältnis zwischen der Entstehung lind Schaffung von Lebensmitteln und Lebensbedingungen einerseits und dem Wachstum der Bevölkerung andrerseits zu unerträglichen Zuständen führen würde, hat sich gerade in unserm Jahrhundert, wo sich die Bevölkerung von Europa in einer Weise vermehrt hat, wie es selbst Malthus nicht ahnen konnte, nicht bewahrheitet. Malthus konnte keine Ahnung davon haben, wie der freiheitliche Aufschwung unter den Völkern, wie die Entfesselung aller Kräfte, wie die sich überstürzenden Erfindungen des menschlichen Geistes, wie die Erleichterungen des Verkehrs und die Erschließung neuer Handels¬ verbindungen, wie endlich die Eröffnung eines allgemeinen Weltmarkts alle Grundlagen seiner Berechnung verrücken und durcheinanderwerfen würde. Wenn wir heute ein einzelnes Staatswesen für sich betrachten, so ist nicht zu leugnen, daß ein Mißverhältnis zwischen Bevölkerung und Nahrungsquellen des Landes zu einer Änderung der Wirtschafts- und der Zollpolitik nötigen kann, aber es liegt dann noch kein Anlaß vor, die Lebensfrage überhaupt zu stellen. Die Befürchtungen von Malthus sind nur richtig, wenn man sie für die ganze arbeitende, schaffende und handelnde Welt stellt, und da läßt sich wohl denken, daß in einer fernen Zukunft die Frage über das äußerste Maß der Dichtigkeit der Bevölkerung einmal aufgeworfen werden wird. Es läßt sich das denken, Befürchtungen brnnchen wir aber in dieser Beziehung uoch nicht zu hegen; denn es zeigt sich heute schou deutlich, daß die Grundsätze von Malthus tief in unser gesellschaftliches Leben eingegriffen haben, daß sie zu einem Losungs¬ worte, zu einem rettenden Auswege im Kampfe ums Dasein geworden sind. Die Grundsätze von Malthus haben nicht nur keine Bestätigung, sondern eher eine Widerlegung erfahren; der Gesichtskreis war zu enge gezogen für das Leben eines Volks, das in den Wirbel des Weltverkehrs getrieben wird, aber er war nicht zu enge gezogen für die Familie. Die volkswirtschaftlichen Be¬ fürchtungen von Malthus sind dnrch die Erfahrungen zerstreut, aber seiue Schüler sind geblieben; diese Schüler aber sind nicht mehr die Volkswirte, sondern es sind die Familienväter! Während man aber hente noch über die Richtigkeit der Grundsätze von Malthus streitet, erleben wir, daß sich in Frankreich gleichzeitig der Wohl¬ stand immer mehr vermehrt und verbreitet, und daß gleichwohl das Wachs¬ tum der Bevölkerung stetig abnimmt; oder sollte ans den Erscheinungen, die sich bieten, die Folgerung so gebildet werden, daß sich der allgemeine Wohl¬ stand mehrt, weil sich das Wachstum der Bevölkerung stetig und bedeutend

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/562>, abgerufen am 25.08.2024.