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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Aus geschlossener Gesellschaft

Lieber Freund. Sie wissen, ich muß wegen der Lieferungen fürs Kasino den
Schnabel halten, aber -- wir verstehen uns! Dabei denkt der Mann, wie ich
bestimmt weiß, politisch ganz anders wie ich, sein gutes Herz drängt ihn aber
dazu, mir, dem "Dulder für seine Überzeugung," dem politischen Märtyrer,
etwas angenehmes, trostreiches zu sagen.

Die Justizbehörde hat also mit einem großen Aufwands von Schreib¬
und Mundwerk eine Strafe verhängt, die weder von mir in ihrer ganzen
Schwere empfunden, noch von der öffentlichen Meinung als Strafe gewürdigt
wird. Daraus folgt, daß sich die Rechtsprechung, die doch die Quintessenz
des allgemeinen Rechtsgefühls ist oder sein sollte, in Sachen der politischen
Preßprozesse mit dem Rechtsgefühl des Volkes in Widerspruch befindet.

Die Gefahren solcher Widersprüche auszumalen, kann ich mir wohl den
Lesern der Grenzboten gegenüber ersparen. Meine frühere Wirtin, eine alte
Frau, bei der ein Lnndgerichtsprüsident gleich hinter dein lieben Gott kam,
und die mein kleines Guttentagsches Reichsstrafgesetzbuch fast mit derselben
Ehrfurcht betrachtete wie ihre Bibel, schluchzte uach meiner ersten Verurteilung
in ihren Schürzenzipfel hinein und sagte: Nee, Herr, nee -- son vrntlichen
Minschen als 'n Spitzbuw int Gefängnis! Wenn he noch wat 'klaut hett,
aber wegen des bisken Schriewerie -- nee Herr, det is keen Recht nich!

Ja wegen des bischen Schreiberei! -- Ich gebe zu, daß damit viel an¬
gerichtet werden kann. Ein bischen Schreiberei hat schon Throne zum Wanken
gebracht, und das beschriebne Blatt Papier, das vor 375 Jahren an die
Schloßkirche zu Wittenberg geheftet wurde, hat Heiligenscheine in blauen Dunst
aufgelöst. Aber sehen wir uns doch einmal unsre heutigen Preßvergehen an.
Du lieber Himmel! Da sitzt so ein armes Wurm von Leitartikelschreiber
an seinem Schreibtisch und quält sich ab, die "brennende Tagesfrage" mit
allein nur möglichen Witz und Wissen zu behandeln. Die Zeit drängt, der
Setzerjunge reißt ihm je zehn Zeilen unter den Fingern weg. Der Artikel
soll interessant, er soll pikant sein! Woher nehmen? Da endlich fließen ihm
ein paar Bosheiten in die Feder, nicht etwa weil er eine unverträgliche oder
radiale Natur wäre, nein, sondern nur weil es das Publikum so verlangt.
Das Publikum muß sich gekitzelt fühlen vor Vergnügen und vor Schaden¬
freude über deu "geistreichen" Leitartikel -- so verlangt es der Verleger. Sind
nun die Bosheiten geschickt eingekleidet, so ists gut, sind sie aber ungeschickt
eingekleidet, so wird der Schreiber verhaftet, vernommen, verurteilt und ein¬
gesteckt.

Ich behaupte, daß es sich bei der übergroßen Mehrzahl aller Pre߬
prozesse nicht um Verbrechen oder Vergehen, sondern um pure Ungeschicklich¬
keiten handelt, und solche mit Gefängnis bestrafen, heißt mit Kanonen nach
Spatzen schießen. Für Preßvergehen schaffe mau einen Gerichtshof aus
sprachgelehrten. der den Delinquenten vorzuladen und uach Maßgabe seiner


Aus geschlossener Gesellschaft

Lieber Freund. Sie wissen, ich muß wegen der Lieferungen fürs Kasino den
Schnabel halten, aber — wir verstehen uns! Dabei denkt der Mann, wie ich
bestimmt weiß, politisch ganz anders wie ich, sein gutes Herz drängt ihn aber
dazu, mir, dem „Dulder für seine Überzeugung," dem politischen Märtyrer,
etwas angenehmes, trostreiches zu sagen.

Die Justizbehörde hat also mit einem großen Aufwands von Schreib¬
und Mundwerk eine Strafe verhängt, die weder von mir in ihrer ganzen
Schwere empfunden, noch von der öffentlichen Meinung als Strafe gewürdigt
wird. Daraus folgt, daß sich die Rechtsprechung, die doch die Quintessenz
des allgemeinen Rechtsgefühls ist oder sein sollte, in Sachen der politischen
Preßprozesse mit dem Rechtsgefühl des Volkes in Widerspruch befindet.

Die Gefahren solcher Widersprüche auszumalen, kann ich mir wohl den
Lesern der Grenzboten gegenüber ersparen. Meine frühere Wirtin, eine alte
Frau, bei der ein Lnndgerichtsprüsident gleich hinter dein lieben Gott kam,
und die mein kleines Guttentagsches Reichsstrafgesetzbuch fast mit derselben
Ehrfurcht betrachtete wie ihre Bibel, schluchzte uach meiner ersten Verurteilung
in ihren Schürzenzipfel hinein und sagte: Nee, Herr, nee — son vrntlichen
Minschen als 'n Spitzbuw int Gefängnis! Wenn he noch wat 'klaut hett,
aber wegen des bisken Schriewerie — nee Herr, det is keen Recht nich!

Ja wegen des bischen Schreiberei! — Ich gebe zu, daß damit viel an¬
gerichtet werden kann. Ein bischen Schreiberei hat schon Throne zum Wanken
gebracht, und das beschriebne Blatt Papier, das vor 375 Jahren an die
Schloßkirche zu Wittenberg geheftet wurde, hat Heiligenscheine in blauen Dunst
aufgelöst. Aber sehen wir uns doch einmal unsre heutigen Preßvergehen an.
Du lieber Himmel! Da sitzt so ein armes Wurm von Leitartikelschreiber
an seinem Schreibtisch und quält sich ab, die „brennende Tagesfrage" mit
allein nur möglichen Witz und Wissen zu behandeln. Die Zeit drängt, der
Setzerjunge reißt ihm je zehn Zeilen unter den Fingern weg. Der Artikel
soll interessant, er soll pikant sein! Woher nehmen? Da endlich fließen ihm
ein paar Bosheiten in die Feder, nicht etwa weil er eine unverträgliche oder
radiale Natur wäre, nein, sondern nur weil es das Publikum so verlangt.
Das Publikum muß sich gekitzelt fühlen vor Vergnügen und vor Schaden¬
freude über deu „geistreichen" Leitartikel — so verlangt es der Verleger. Sind
nun die Bosheiten geschickt eingekleidet, so ists gut, sind sie aber ungeschickt
eingekleidet, so wird der Schreiber verhaftet, vernommen, verurteilt und ein¬
gesteckt.

Ich behaupte, daß es sich bei der übergroßen Mehrzahl aller Pre߬
prozesse nicht um Verbrechen oder Vergehen, sondern um pure Ungeschicklich¬
keiten handelt, und solche mit Gefängnis bestrafen, heißt mit Kanonen nach
Spatzen schießen. Für Preßvergehen schaffe mau einen Gerichtshof aus
sprachgelehrten. der den Delinquenten vorzuladen und uach Maßgabe seiner


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[0542] Aus geschlossener Gesellschaft Lieber Freund. Sie wissen, ich muß wegen der Lieferungen fürs Kasino den Schnabel halten, aber — wir verstehen uns! Dabei denkt der Mann, wie ich bestimmt weiß, politisch ganz anders wie ich, sein gutes Herz drängt ihn aber dazu, mir, dem „Dulder für seine Überzeugung," dem politischen Märtyrer, etwas angenehmes, trostreiches zu sagen. Die Justizbehörde hat also mit einem großen Aufwands von Schreib¬ und Mundwerk eine Strafe verhängt, die weder von mir in ihrer ganzen Schwere empfunden, noch von der öffentlichen Meinung als Strafe gewürdigt wird. Daraus folgt, daß sich die Rechtsprechung, die doch die Quintessenz des allgemeinen Rechtsgefühls ist oder sein sollte, in Sachen der politischen Preßprozesse mit dem Rechtsgefühl des Volkes in Widerspruch befindet. Die Gefahren solcher Widersprüche auszumalen, kann ich mir wohl den Lesern der Grenzboten gegenüber ersparen. Meine frühere Wirtin, eine alte Frau, bei der ein Lnndgerichtsprüsident gleich hinter dein lieben Gott kam, und die mein kleines Guttentagsches Reichsstrafgesetzbuch fast mit derselben Ehrfurcht betrachtete wie ihre Bibel, schluchzte uach meiner ersten Verurteilung in ihren Schürzenzipfel hinein und sagte: Nee, Herr, nee — son vrntlichen Minschen als 'n Spitzbuw int Gefängnis! Wenn he noch wat 'klaut hett, aber wegen des bisken Schriewerie — nee Herr, det is keen Recht nich! Ja wegen des bischen Schreiberei! — Ich gebe zu, daß damit viel an¬ gerichtet werden kann. Ein bischen Schreiberei hat schon Throne zum Wanken gebracht, und das beschriebne Blatt Papier, das vor 375 Jahren an die Schloßkirche zu Wittenberg geheftet wurde, hat Heiligenscheine in blauen Dunst aufgelöst. Aber sehen wir uns doch einmal unsre heutigen Preßvergehen an. Du lieber Himmel! Da sitzt so ein armes Wurm von Leitartikelschreiber an seinem Schreibtisch und quält sich ab, die „brennende Tagesfrage" mit allein nur möglichen Witz und Wissen zu behandeln. Die Zeit drängt, der Setzerjunge reißt ihm je zehn Zeilen unter den Fingern weg. Der Artikel soll interessant, er soll pikant sein! Woher nehmen? Da endlich fließen ihm ein paar Bosheiten in die Feder, nicht etwa weil er eine unverträgliche oder radiale Natur wäre, nein, sondern nur weil es das Publikum so verlangt. Das Publikum muß sich gekitzelt fühlen vor Vergnügen und vor Schaden¬ freude über deu „geistreichen" Leitartikel — so verlangt es der Verleger. Sind nun die Bosheiten geschickt eingekleidet, so ists gut, sind sie aber ungeschickt eingekleidet, so wird der Schreiber verhaftet, vernommen, verurteilt und ein¬ gesteckt. Ich behaupte, daß es sich bei der übergroßen Mehrzahl aller Pre߬ prozesse nicht um Verbrechen oder Vergehen, sondern um pure Ungeschicklich¬ keiten handelt, und solche mit Gefängnis bestrafen, heißt mit Kanonen nach Spatzen schießen. Für Preßvergehen schaffe mau einen Gerichtshof aus sprachgelehrten. der den Delinquenten vorzuladen und uach Maßgabe seiner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/542>, abgerufen am 23.07.2024.