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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Sozialdemokratie und der Staatssozialismus

"Unaufhaltsamkeit der fortschreitenden Demokratisirung der Staatsgewalt"
hegt, den Staatssozialismus daher eigentlich für durchaus ungefährlich hält.

Herr Liebknecht dagegen verdammt unbedingt jede Unterstützung des Staats-
sozialismus. Der alte Gedanke, die Forderungen des Sozialismus durch den
heutigen despotischen Staat durchzusetzen, sei undurchführbar, das demokra¬
tische Element habe der Sozialdemokratie zu ihrer jetzigen Macht verholfen,
habe sie vor der tötlichen Umarmung durch den Staatssozialismus bewahrt,
in dessen Bahnen die Lassallesche Bewegung geraten gewesen sei; ja in schnei¬
dendem Gegensatze zu allein, was Herr von Vollmar in seiner Schrift aus¬
geführt hat, kommt Herr Liebknecht zu dem Schlüsse, daß der Augenblick,
wo der Staatssozialismus im heutigen Staate zur vollen Herrschaft gelange,
immer näher rücke, und daß der letzte Kampf, den die Sozialdemokratie zu
bestehen habe, dann ausgefochten werde nnter dem Schlachtrufe: Hie Svzinl-
demokratie, hie Staatssozialismus!

Ganz ebenso, wenn auch etwas vorsichtiger, spricht sich Herr Kautsky,
der Theoretiker der Partei, in seinem in der "Neuen Zeit" abgedruckten Aufsatz
über "Vollmar und den Staatssozialismus" aus. "Was läge, so heißt es
da, der preußisch-deutschen Reichsregiernng näher als der Staatssozialismus,
der demselben Boden entsprungen ist, wie sie? Wenn dann ein geschickter
Staatsmann an der Spitze der Regierung stünde, konnte der Staatssozia¬
lismus der Sozialdemokratie noch gefährlich werden, indem er Verwirrung in
unsre Reihen trägt, gefährlicher als die kaiserliche Botschaft von 1881, denn
unsre Bewegung ist seitdem ungeheuer in die Breite gegangen, und es ist nicht
zu erwarte", daß die Masse der neuen Rekruten bereits vollkommen fest sei."

Wir können die Ansicht, daß es sich bei der Liebknecht-Vollmarschen Aus¬
einandersetzung mir um theoretische Haarspaltereien gehandelt habe, nicht teilen.
Unmittelbare praktische Bedeutung hat der Streit zwar nicht, weil die Grund¬
lage, aus der er sich entwickelte, eine der Wirklichkeit nicht entsprechende An¬
nahme war, nämlich die Annahme, daß sich der heutige Staat auf den Boden
des Staatssozialismus gestellt habe. Aber höchst wichtig war dieser Zwist
über eine angebliche Doktorsrage doch, und wir empfehlen ihn der Aufmerksam¬
keit aller unabhängigen Männer, die sich ihren Blick nicht durch Parteivor¬
urteile haben trüben lassen.

Wenn sich schon bei der bloßen Erwähnung des Staatssozialismus inner¬
halb der Sozialdemokratie ein Streit erhob, der nahe daran war, die Partei
auseinander zu sprengen, wie wird es erst werden, wenn der Staatssozialismus
wirklich ans Ruder kommt? Und wo sind denn die Staatssozialisten, die diese
Regierung stützen könnten, mit denen Herr Liebknecht den Entscheidnngskampf
kämpfen will, und denen er die Ehre erweist, sie als seine gefährlichsten Gegner
zu bezeichnen? Einige Professoren der Nationalökonomie, eine Anzahl höherer
Militärs, ein Teil des höhern Beamtentums und einige Großgrundbesitzer,


Die Sozialdemokratie und der Staatssozialismus

„Unaufhaltsamkeit der fortschreitenden Demokratisirung der Staatsgewalt"
hegt, den Staatssozialismus daher eigentlich für durchaus ungefährlich hält.

Herr Liebknecht dagegen verdammt unbedingt jede Unterstützung des Staats-
sozialismus. Der alte Gedanke, die Forderungen des Sozialismus durch den
heutigen despotischen Staat durchzusetzen, sei undurchführbar, das demokra¬
tische Element habe der Sozialdemokratie zu ihrer jetzigen Macht verholfen,
habe sie vor der tötlichen Umarmung durch den Staatssozialismus bewahrt,
in dessen Bahnen die Lassallesche Bewegung geraten gewesen sei; ja in schnei¬
dendem Gegensatze zu allein, was Herr von Vollmar in seiner Schrift aus¬
geführt hat, kommt Herr Liebknecht zu dem Schlüsse, daß der Augenblick,
wo der Staatssozialismus im heutigen Staate zur vollen Herrschaft gelange,
immer näher rücke, und daß der letzte Kampf, den die Sozialdemokratie zu
bestehen habe, dann ausgefochten werde nnter dem Schlachtrufe: Hie Svzinl-
demokratie, hie Staatssozialismus!

Ganz ebenso, wenn auch etwas vorsichtiger, spricht sich Herr Kautsky,
der Theoretiker der Partei, in seinem in der „Neuen Zeit" abgedruckten Aufsatz
über „Vollmar und den Staatssozialismus" aus. „Was läge, so heißt es
da, der preußisch-deutschen Reichsregiernng näher als der Staatssozialismus,
der demselben Boden entsprungen ist, wie sie? Wenn dann ein geschickter
Staatsmann an der Spitze der Regierung stünde, konnte der Staatssozia¬
lismus der Sozialdemokratie noch gefährlich werden, indem er Verwirrung in
unsre Reihen trägt, gefährlicher als die kaiserliche Botschaft von 1881, denn
unsre Bewegung ist seitdem ungeheuer in die Breite gegangen, und es ist nicht
zu erwarte», daß die Masse der neuen Rekruten bereits vollkommen fest sei."

Wir können die Ansicht, daß es sich bei der Liebknecht-Vollmarschen Aus¬
einandersetzung mir um theoretische Haarspaltereien gehandelt habe, nicht teilen.
Unmittelbare praktische Bedeutung hat der Streit zwar nicht, weil die Grund¬
lage, aus der er sich entwickelte, eine der Wirklichkeit nicht entsprechende An¬
nahme war, nämlich die Annahme, daß sich der heutige Staat auf den Boden
des Staatssozialismus gestellt habe. Aber höchst wichtig war dieser Zwist
über eine angebliche Doktorsrage doch, und wir empfehlen ihn der Aufmerksam¬
keit aller unabhängigen Männer, die sich ihren Blick nicht durch Parteivor¬
urteile haben trüben lassen.

Wenn sich schon bei der bloßen Erwähnung des Staatssozialismus inner¬
halb der Sozialdemokratie ein Streit erhob, der nahe daran war, die Partei
auseinander zu sprengen, wie wird es erst werden, wenn der Staatssozialismus
wirklich ans Ruder kommt? Und wo sind denn die Staatssozialisten, die diese
Regierung stützen könnten, mit denen Herr Liebknecht den Entscheidnngskampf
kämpfen will, und denen er die Ehre erweist, sie als seine gefährlichsten Gegner
zu bezeichnen? Einige Professoren der Nationalökonomie, eine Anzahl höherer
Militärs, ein Teil des höhern Beamtentums und einige Großgrundbesitzer,


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[0509] Die Sozialdemokratie und der Staatssozialismus „Unaufhaltsamkeit der fortschreitenden Demokratisirung der Staatsgewalt" hegt, den Staatssozialismus daher eigentlich für durchaus ungefährlich hält. Herr Liebknecht dagegen verdammt unbedingt jede Unterstützung des Staats- sozialismus. Der alte Gedanke, die Forderungen des Sozialismus durch den heutigen despotischen Staat durchzusetzen, sei undurchführbar, das demokra¬ tische Element habe der Sozialdemokratie zu ihrer jetzigen Macht verholfen, habe sie vor der tötlichen Umarmung durch den Staatssozialismus bewahrt, in dessen Bahnen die Lassallesche Bewegung geraten gewesen sei; ja in schnei¬ dendem Gegensatze zu allein, was Herr von Vollmar in seiner Schrift aus¬ geführt hat, kommt Herr Liebknecht zu dem Schlüsse, daß der Augenblick, wo der Staatssozialismus im heutigen Staate zur vollen Herrschaft gelange, immer näher rücke, und daß der letzte Kampf, den die Sozialdemokratie zu bestehen habe, dann ausgefochten werde nnter dem Schlachtrufe: Hie Svzinl- demokratie, hie Staatssozialismus! Ganz ebenso, wenn auch etwas vorsichtiger, spricht sich Herr Kautsky, der Theoretiker der Partei, in seinem in der „Neuen Zeit" abgedruckten Aufsatz über „Vollmar und den Staatssozialismus" aus. „Was läge, so heißt es da, der preußisch-deutschen Reichsregiernng näher als der Staatssozialismus, der demselben Boden entsprungen ist, wie sie? Wenn dann ein geschickter Staatsmann an der Spitze der Regierung stünde, konnte der Staatssozia¬ lismus der Sozialdemokratie noch gefährlich werden, indem er Verwirrung in unsre Reihen trägt, gefährlicher als die kaiserliche Botschaft von 1881, denn unsre Bewegung ist seitdem ungeheuer in die Breite gegangen, und es ist nicht zu erwarte», daß die Masse der neuen Rekruten bereits vollkommen fest sei." Wir können die Ansicht, daß es sich bei der Liebknecht-Vollmarschen Aus¬ einandersetzung mir um theoretische Haarspaltereien gehandelt habe, nicht teilen. Unmittelbare praktische Bedeutung hat der Streit zwar nicht, weil die Grund¬ lage, aus der er sich entwickelte, eine der Wirklichkeit nicht entsprechende An¬ nahme war, nämlich die Annahme, daß sich der heutige Staat auf den Boden des Staatssozialismus gestellt habe. Aber höchst wichtig war dieser Zwist über eine angebliche Doktorsrage doch, und wir empfehlen ihn der Aufmerksam¬ keit aller unabhängigen Männer, die sich ihren Blick nicht durch Parteivor¬ urteile haben trüben lassen. Wenn sich schon bei der bloßen Erwähnung des Staatssozialismus inner¬ halb der Sozialdemokratie ein Streit erhob, der nahe daran war, die Partei auseinander zu sprengen, wie wird es erst werden, wenn der Staatssozialismus wirklich ans Ruder kommt? Und wo sind denn die Staatssozialisten, die diese Regierung stützen könnten, mit denen Herr Liebknecht den Entscheidnngskampf kämpfen will, und denen er die Ehre erweist, sie als seine gefährlichsten Gegner zu bezeichnen? Einige Professoren der Nationalökonomie, eine Anzahl höherer Militärs, ein Teil des höhern Beamtentums und einige Großgrundbesitzer,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/509>, abgerufen am 23.07.2024.