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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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ist geschäftig, sich alle diese Wunderdinge auszumalen und zu verknüpfen, die
Zaubergebilde, die sich auf den Wellen schaukeln, das geheimnisvolle nächtliche
Leuchten des Meeres, den Alten mit dem Dreizack, der unten in krystallner
Wohnung haust, die helle Sonne, die auf ihrem Viergespann an jedem Morgen
im Osten aus den kühlen Fluten auftaucht, des Abends im Westen wieder
versinkt, um während der Nacht in "goldnem Becher" das Meer zu befahren,
hin zu dem Punkte, wo sie wieder aufsteigt.

lind da fällt ihm noch eins ein: wie war es doch nur mit jenen klaren,
windstillen Tagen, die sich mitten in dem Toben des Winters alljährlich wie
eine Ruhepause einstellen? Wie sind sie zu erklären? Sicherlich hat einer der
Götter die Hand dabei im Spiele; aber was mag er damit gewollt haben?
Wenn die Götter auch im Zorn manche rasche That vollbringen und den
Frevler schwer heimsuchen, so sind sie doch anch gnädig dem, der ihnen wohl-
gefüllt, und ändern wohl auch einmal ihm zuliebe das Gesetz der Natur. So
muß es auch hier gewesen sein. Wem zuliebe herrscht also wohl die Wind¬
stille in jenen Tagen? Um der Schiffer willen gewiß nicht, denn die können
nicht viel damit anfangen, es sind ja nur wenige Tage. Aber da ist ja der
Alkyon, der alljährlich gerade in dieser Zeit der winterlichen Meeresstille nistet
und die junge Brut aufzieht. Gewiß um seinetwillen haben die Götter alle
Stürme beruhigt; die Wellen würden sonst seine Eier aus dem Neste spülen
und an den Klippen zerschellen.

Ein seltsamer Vogel, dieser Alkyon! Wenn er am einsamen Strande
seinen eintönigen Ruf erhebt, so klingt es gerade wie ein menschlicher Klage¬
laut; wer es hört, dem geht es durch Mark und Bein, er betet schnell ein
Stoßgebet zum Erretter Zeus und versichert sich, ob ihm auch das Amulet
noch am Halse hängt. Auch manches andre noch an diesem Eisvogel ist
menschenähnlich. Wie ein rechter Zimmermann fügt er sich kunstvoll sein Nest
zusammen aus den Baumaterialien, die er am Strande findet, Fischgräten
und Seetang; es ist so fest gezimmert, daß man es nicht auseinanderreißen
kann, man muß es zerschlagen, um es zu zerstören. Und nun gar das Pär¬
chen, das im Neste sanft, ist es nicht völlig vernünftigen Menschen ver¬
gleichbar? Wie rührend ist ihre Liebe zu einander! Nie sieht man eins ohne
das andre; wenn eins krank und schwach wird oder vom Alter kraftlos, dann
wird es von dem andern gehegt und gepflegt und "auf Flügeln getragen";
und wenn gar das eine stirbt, rührt das Überlebende keine Nahrung mehr an
und grämt sich auch zu Tode. Es muß eine eigne Bewandtnis mit diesen
Vögeln haben. Es können keine richtigen Vögel sein; die Götter haben ja
auch für sie eine besondre Fürsorge; wie könnte man sich das alles anders
erklären, als dadurch, daß die Alkyonen eigentlich Menschen und nur in Vögel
verwandelt sind?

So fabelte der griechische Schiffer allenthalben an den Küsten des Mittel-


Grenzboten IV 1892 öl

ist geschäftig, sich alle diese Wunderdinge auszumalen und zu verknüpfen, die
Zaubergebilde, die sich auf den Wellen schaukeln, das geheimnisvolle nächtliche
Leuchten des Meeres, den Alten mit dem Dreizack, der unten in krystallner
Wohnung haust, die helle Sonne, die auf ihrem Viergespann an jedem Morgen
im Osten aus den kühlen Fluten auftaucht, des Abends im Westen wieder
versinkt, um während der Nacht in „goldnem Becher" das Meer zu befahren,
hin zu dem Punkte, wo sie wieder aufsteigt.

lind da fällt ihm noch eins ein: wie war es doch nur mit jenen klaren,
windstillen Tagen, die sich mitten in dem Toben des Winters alljährlich wie
eine Ruhepause einstellen? Wie sind sie zu erklären? Sicherlich hat einer der
Götter die Hand dabei im Spiele; aber was mag er damit gewollt haben?
Wenn die Götter auch im Zorn manche rasche That vollbringen und den
Frevler schwer heimsuchen, so sind sie doch anch gnädig dem, der ihnen wohl-
gefüllt, und ändern wohl auch einmal ihm zuliebe das Gesetz der Natur. So
muß es auch hier gewesen sein. Wem zuliebe herrscht also wohl die Wind¬
stille in jenen Tagen? Um der Schiffer willen gewiß nicht, denn die können
nicht viel damit anfangen, es sind ja nur wenige Tage. Aber da ist ja der
Alkyon, der alljährlich gerade in dieser Zeit der winterlichen Meeresstille nistet
und die junge Brut aufzieht. Gewiß um seinetwillen haben die Götter alle
Stürme beruhigt; die Wellen würden sonst seine Eier aus dem Neste spülen
und an den Klippen zerschellen.

Ein seltsamer Vogel, dieser Alkyon! Wenn er am einsamen Strande
seinen eintönigen Ruf erhebt, so klingt es gerade wie ein menschlicher Klage¬
laut; wer es hört, dem geht es durch Mark und Bein, er betet schnell ein
Stoßgebet zum Erretter Zeus und versichert sich, ob ihm auch das Amulet
noch am Halse hängt. Auch manches andre noch an diesem Eisvogel ist
menschenähnlich. Wie ein rechter Zimmermann fügt er sich kunstvoll sein Nest
zusammen aus den Baumaterialien, die er am Strande findet, Fischgräten
und Seetang; es ist so fest gezimmert, daß man es nicht auseinanderreißen
kann, man muß es zerschlagen, um es zu zerstören. Und nun gar das Pär¬
chen, das im Neste sanft, ist es nicht völlig vernünftigen Menschen ver¬
gleichbar? Wie rührend ist ihre Liebe zu einander! Nie sieht man eins ohne
das andre; wenn eins krank und schwach wird oder vom Alter kraftlos, dann
wird es von dem andern gehegt und gepflegt und „auf Flügeln getragen";
und wenn gar das eine stirbt, rührt das Überlebende keine Nahrung mehr an
und grämt sich auch zu Tode. Es muß eine eigne Bewandtnis mit diesen
Vögeln haben. Es können keine richtigen Vögel sein; die Götter haben ja
auch für sie eine besondre Fürsorge; wie könnte man sich das alles anders
erklären, als dadurch, daß die Alkyonen eigentlich Menschen und nur in Vögel
verwandelt sind?

So fabelte der griechische Schiffer allenthalben an den Küsten des Mittel-


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[0489] ist geschäftig, sich alle diese Wunderdinge auszumalen und zu verknüpfen, die Zaubergebilde, die sich auf den Wellen schaukeln, das geheimnisvolle nächtliche Leuchten des Meeres, den Alten mit dem Dreizack, der unten in krystallner Wohnung haust, die helle Sonne, die auf ihrem Viergespann an jedem Morgen im Osten aus den kühlen Fluten auftaucht, des Abends im Westen wieder versinkt, um während der Nacht in „goldnem Becher" das Meer zu befahren, hin zu dem Punkte, wo sie wieder aufsteigt. lind da fällt ihm noch eins ein: wie war es doch nur mit jenen klaren, windstillen Tagen, die sich mitten in dem Toben des Winters alljährlich wie eine Ruhepause einstellen? Wie sind sie zu erklären? Sicherlich hat einer der Götter die Hand dabei im Spiele; aber was mag er damit gewollt haben? Wenn die Götter auch im Zorn manche rasche That vollbringen und den Frevler schwer heimsuchen, so sind sie doch anch gnädig dem, der ihnen wohl- gefüllt, und ändern wohl auch einmal ihm zuliebe das Gesetz der Natur. So muß es auch hier gewesen sein. Wem zuliebe herrscht also wohl die Wind¬ stille in jenen Tagen? Um der Schiffer willen gewiß nicht, denn die können nicht viel damit anfangen, es sind ja nur wenige Tage. Aber da ist ja der Alkyon, der alljährlich gerade in dieser Zeit der winterlichen Meeresstille nistet und die junge Brut aufzieht. Gewiß um seinetwillen haben die Götter alle Stürme beruhigt; die Wellen würden sonst seine Eier aus dem Neste spülen und an den Klippen zerschellen. Ein seltsamer Vogel, dieser Alkyon! Wenn er am einsamen Strande seinen eintönigen Ruf erhebt, so klingt es gerade wie ein menschlicher Klage¬ laut; wer es hört, dem geht es durch Mark und Bein, er betet schnell ein Stoßgebet zum Erretter Zeus und versichert sich, ob ihm auch das Amulet noch am Halse hängt. Auch manches andre noch an diesem Eisvogel ist menschenähnlich. Wie ein rechter Zimmermann fügt er sich kunstvoll sein Nest zusammen aus den Baumaterialien, die er am Strande findet, Fischgräten und Seetang; es ist so fest gezimmert, daß man es nicht auseinanderreißen kann, man muß es zerschlagen, um es zu zerstören. Und nun gar das Pär¬ chen, das im Neste sanft, ist es nicht völlig vernünftigen Menschen ver¬ gleichbar? Wie rührend ist ihre Liebe zu einander! Nie sieht man eins ohne das andre; wenn eins krank und schwach wird oder vom Alter kraftlos, dann wird es von dem andern gehegt und gepflegt und „auf Flügeln getragen"; und wenn gar das eine stirbt, rührt das Überlebende keine Nahrung mehr an und grämt sich auch zu Tode. Es muß eine eigne Bewandtnis mit diesen Vögeln haben. Es können keine richtigen Vögel sein; die Götter haben ja auch für sie eine besondre Fürsorge; wie könnte man sich das alles anders erklären, als dadurch, daß die Alkyonen eigentlich Menschen und nur in Vögel verwandelt sind? So fabelte der griechische Schiffer allenthalben an den Küsten des Mittel- Grenzboten IV 1892 öl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/489>, abgerufen am 22.12.2024.