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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Auch ein Goetheforscher

bringen, wodurch die Lektüre und das Verständnis unsers größten deutscheu
Dichters mehr zurückgedrängt oder erschwert als gefördert wird. Während aber
bis jetzt, von wenigen Ausnahmen abgesehn, dieser Art von Schriftstellerei,
wie man auch immer ihre wissenschaftliche Bedeutung anschlagen mag, ein ge¬
wisser gutartiger, ja liebenswürdiger Zug nicht abzusprechen war, insofern sie
pietätvoll den Reliquien eines großen Menschen nachgeht, ist neuerdings in
Dr. Froitzheiin ein Forscher auf den Plan getreten, der offenbar von der
Ansicht ausgeht, daß der zahme Ton und die panegyrische Tendenz der Haupt¬
masse der Goethelitteratur die weitern Leserkreise zu langweilen anfange, und der
deshalb eine andre Tonart anzuschlagen beginnt. Freilich die Art seiner For¬
schung ist dieselbe, wie die seiner meisten Vorgänger. Auch er bewegt sich
lieber in den Vorwerken und Vorhöfen als in den innern Hallen des Goethe¬
studiums, auch er liefert in seinen Beiträgen mit Vorliebe Kleinkram, Brief¬
schnitzel, Aktenauszüge, Geburth- und Totenscheine, Kalenderdaten und Haus¬
nummern, und wenn einer, so ist er von der wissenschaftlichen Vedeutnng seiner
Forschungsergebnisse aufs tiefste durchdrungen. So hat er vor einigen Jahren
mit dem Selbstbewußtsein und der Miene eines Triumphators urdi et ort^
die durch seine exakte Aktenforschung ans Licht gebrachte welterschütternde
Thatsache verkündet, daß das Haus in Straßburg, wo Goethe als Student
1770 bis 1771 gewohnt hat, nicht, wie bisher angenommen worden war,
Nummer 16, sondern Nummer 36 des alten Fischmarkts, und das Haus, wo
er sein Mittagsmahl einzunehmen pflegte, nicht in der Krämergasse, sondern
in der Knvblochgasse zu suchen sei, und hat den Kummer und den Schaden,
den er durch diese wissenschaftliche Entdeckung zwei ehrsamen Straßburger
Hausbesitzern angethan hat, mit dem edeln Gefühle eines Märtyrers der Wissen¬
schaft getragen.

Die eigentümliche Färbung seiner Goetheforschung aber trat zuerst (1839)
hervor in seiner Studie über Goethe und sein Verhältnis zu H. L. Wagner,
dem Versasser der gegen gewisse Benrteiler des Werther gerichteten Spottschrift
"Prometheus, Deukaliou und seine Rezensenten" und des Trauerspiels "Die
Kindermörderin." Indem er nämlich Goethes und Wagners eignen ausdrück¬
lichen Erklärungen entgegen die Verfasserschaft jener Spottschrift Goethe zu¬
schreibt und ferner bestreitet, daß Wagner mit seiner "Kindermörderin," wie
Goethe behauptet, diesem "etwas von seinen Vorsätzen (nämlich zu seiner
Gretchentragödie) weggeschnappt" habe, versucht er überhaupt den Beweis an¬
zutreten, daß Goethes Selbstbiographie keinen Anspruch auf geschichtliche Glaub¬
würdigkeit habe, sondern "die Tendenz zeige, die Wahrheit zu seineu eignen
Gunsten im Kerne zu verändern" und nötigenfalls auch auf Kosten andrer
geradezu zu lügen.

So berechtigt natürlich eine Prüfung von Goethes "Dichtung und Wahr¬
heit" auf ihre geschichtliche Glaubwürdigkeit an und für sich ist, so fiel doch


Auch ein Goetheforscher

bringen, wodurch die Lektüre und das Verständnis unsers größten deutscheu
Dichters mehr zurückgedrängt oder erschwert als gefördert wird. Während aber
bis jetzt, von wenigen Ausnahmen abgesehn, dieser Art von Schriftstellerei,
wie man auch immer ihre wissenschaftliche Bedeutung anschlagen mag, ein ge¬
wisser gutartiger, ja liebenswürdiger Zug nicht abzusprechen war, insofern sie
pietätvoll den Reliquien eines großen Menschen nachgeht, ist neuerdings in
Dr. Froitzheiin ein Forscher auf den Plan getreten, der offenbar von der
Ansicht ausgeht, daß der zahme Ton und die panegyrische Tendenz der Haupt¬
masse der Goethelitteratur die weitern Leserkreise zu langweilen anfange, und der
deshalb eine andre Tonart anzuschlagen beginnt. Freilich die Art seiner For¬
schung ist dieselbe, wie die seiner meisten Vorgänger. Auch er bewegt sich
lieber in den Vorwerken und Vorhöfen als in den innern Hallen des Goethe¬
studiums, auch er liefert in seinen Beiträgen mit Vorliebe Kleinkram, Brief¬
schnitzel, Aktenauszüge, Geburth- und Totenscheine, Kalenderdaten und Haus¬
nummern, und wenn einer, so ist er von der wissenschaftlichen Vedeutnng seiner
Forschungsergebnisse aufs tiefste durchdrungen. So hat er vor einigen Jahren
mit dem Selbstbewußtsein und der Miene eines Triumphators urdi et ort^
die durch seine exakte Aktenforschung ans Licht gebrachte welterschütternde
Thatsache verkündet, daß das Haus in Straßburg, wo Goethe als Student
1770 bis 1771 gewohnt hat, nicht, wie bisher angenommen worden war,
Nummer 16, sondern Nummer 36 des alten Fischmarkts, und das Haus, wo
er sein Mittagsmahl einzunehmen pflegte, nicht in der Krämergasse, sondern
in der Knvblochgasse zu suchen sei, und hat den Kummer und den Schaden,
den er durch diese wissenschaftliche Entdeckung zwei ehrsamen Straßburger
Hausbesitzern angethan hat, mit dem edeln Gefühle eines Märtyrers der Wissen¬
schaft getragen.

Die eigentümliche Färbung seiner Goetheforschung aber trat zuerst (1839)
hervor in seiner Studie über Goethe und sein Verhältnis zu H. L. Wagner,
dem Versasser der gegen gewisse Benrteiler des Werther gerichteten Spottschrift
„Prometheus, Deukaliou und seine Rezensenten" und des Trauerspiels „Die
Kindermörderin." Indem er nämlich Goethes und Wagners eignen ausdrück¬
lichen Erklärungen entgegen die Verfasserschaft jener Spottschrift Goethe zu¬
schreibt und ferner bestreitet, daß Wagner mit seiner „Kindermörderin," wie
Goethe behauptet, diesem „etwas von seinen Vorsätzen (nämlich zu seiner
Gretchentragödie) weggeschnappt" habe, versucht er überhaupt den Beweis an¬
zutreten, daß Goethes Selbstbiographie keinen Anspruch auf geschichtliche Glaub¬
würdigkeit habe, sondern „die Tendenz zeige, die Wahrheit zu seineu eignen
Gunsten im Kerne zu verändern" und nötigenfalls auch auf Kosten andrer
geradezu zu lügen.

So berechtigt natürlich eine Prüfung von Goethes „Dichtung und Wahr¬
heit" auf ihre geschichtliche Glaubwürdigkeit an und für sich ist, so fiel doch


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[0438] Auch ein Goetheforscher bringen, wodurch die Lektüre und das Verständnis unsers größten deutscheu Dichters mehr zurückgedrängt oder erschwert als gefördert wird. Während aber bis jetzt, von wenigen Ausnahmen abgesehn, dieser Art von Schriftstellerei, wie man auch immer ihre wissenschaftliche Bedeutung anschlagen mag, ein ge¬ wisser gutartiger, ja liebenswürdiger Zug nicht abzusprechen war, insofern sie pietätvoll den Reliquien eines großen Menschen nachgeht, ist neuerdings in Dr. Froitzheiin ein Forscher auf den Plan getreten, der offenbar von der Ansicht ausgeht, daß der zahme Ton und die panegyrische Tendenz der Haupt¬ masse der Goethelitteratur die weitern Leserkreise zu langweilen anfange, und der deshalb eine andre Tonart anzuschlagen beginnt. Freilich die Art seiner For¬ schung ist dieselbe, wie die seiner meisten Vorgänger. Auch er bewegt sich lieber in den Vorwerken und Vorhöfen als in den innern Hallen des Goethe¬ studiums, auch er liefert in seinen Beiträgen mit Vorliebe Kleinkram, Brief¬ schnitzel, Aktenauszüge, Geburth- und Totenscheine, Kalenderdaten und Haus¬ nummern, und wenn einer, so ist er von der wissenschaftlichen Vedeutnng seiner Forschungsergebnisse aufs tiefste durchdrungen. So hat er vor einigen Jahren mit dem Selbstbewußtsein und der Miene eines Triumphators urdi et ort^ die durch seine exakte Aktenforschung ans Licht gebrachte welterschütternde Thatsache verkündet, daß das Haus in Straßburg, wo Goethe als Student 1770 bis 1771 gewohnt hat, nicht, wie bisher angenommen worden war, Nummer 16, sondern Nummer 36 des alten Fischmarkts, und das Haus, wo er sein Mittagsmahl einzunehmen pflegte, nicht in der Krämergasse, sondern in der Knvblochgasse zu suchen sei, und hat den Kummer und den Schaden, den er durch diese wissenschaftliche Entdeckung zwei ehrsamen Straßburger Hausbesitzern angethan hat, mit dem edeln Gefühle eines Märtyrers der Wissen¬ schaft getragen. Die eigentümliche Färbung seiner Goetheforschung aber trat zuerst (1839) hervor in seiner Studie über Goethe und sein Verhältnis zu H. L. Wagner, dem Versasser der gegen gewisse Benrteiler des Werther gerichteten Spottschrift „Prometheus, Deukaliou und seine Rezensenten" und des Trauerspiels „Die Kindermörderin." Indem er nämlich Goethes und Wagners eignen ausdrück¬ lichen Erklärungen entgegen die Verfasserschaft jener Spottschrift Goethe zu¬ schreibt und ferner bestreitet, daß Wagner mit seiner „Kindermörderin," wie Goethe behauptet, diesem „etwas von seinen Vorsätzen (nämlich zu seiner Gretchentragödie) weggeschnappt" habe, versucht er überhaupt den Beweis an¬ zutreten, daß Goethes Selbstbiographie keinen Anspruch auf geschichtliche Glaub¬ würdigkeit habe, sondern „die Tendenz zeige, die Wahrheit zu seineu eignen Gunsten im Kerne zu verändern" und nötigenfalls auch auf Kosten andrer geradezu zu lügen. So berechtigt natürlich eine Prüfung von Goethes „Dichtung und Wahr¬ heit" auf ihre geschichtliche Glaubwürdigkeit an und für sich ist, so fiel doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/438>, abgerufen am 22.12.2024.