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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Erinnerungen an Lothar Lucher

den Marienkirchen mit etwas plumpem Pyramidendache ragt noch über diese
Stadt empor, wie über so viele Städte an der Ostseeküste entlang von Lübeck
bis nach Livland. Die andern ehrwürdigen Reste, die unsre Phantasie be¬
schäftigten, haben natürlich in neuester Zeit den Anforderungen "gesteigerten
Verkehrs" weichen müssen!

Aber den Genuß und Gewinn, die der Jngend aus kleiustüdtischem Leben
erwachsen, steht auf Seiten der Alte" oft Entbehrung und Verzicht gegenüber.
So bei unserm Vater. Er hatte sich als junger Gelehrter dnrch Schriften
über eine rationellere Methode des Unterrichts in der Geographie in den Fach¬
kreisen einen geachteten Namen gemacht, war mit Ritter "ud Alexander von
Humboldt in wissenschaftlichen Verkehr gekommen und erlebte noch in späten
Jahren den bescheidnen Triumph, in Lttddes Litteratur der Erdkunde ganze
Reihen von Büchern mit der Note: "Abgeschrieben aus Bucher" abgefertigt
zu sehen. Sein Platz wäre an einer Uiüversität gewesen; die tägliche Mühsal
des Unterrichtens und Kvrrigirens, immer in demselben Unterrichtsstoffe und
an einem Orte, der ihm für seine Studien keine Förderung gewähren konnte,
verzehrte seine Kraft. Die Mutter wieder konnte ihr Berlin nicht vergessen.
So lebten beide viel in der Vergangenheit, und das kam nus Kindern aber¬
mals zu gute. Wir hörten von den Weimarern und dem Olympier selbst, die
der Vater als Hauslehrer in der Nähe von Lauchstädt wiederholt gesehn hatte,
von dem unglücklichen Kriege und der Franzosennot, vom Rückzüge der großen
Armee, von der Belagerung Danzigs, dem Befreiungskampfe und den Ent-
tünschungen in seinem Gefolge. In Berlin wußten wir gut Bescheid, ehe wir
die Stadt gesehen hatten, und als ich lange nachher den Roman ,,Cabanis"
von Wilibald Alexis las, wurden die Erzählungen meiner Mutter wieder
lebendig von den Franzosen, die so bald gute Preußen, dann auch gute
Deutsche geworden waren, aber sich abgesondert hielten, wie die Wallonen in
Wallensteins Lager. Daß sich solche Eindrücke nus den Kinderjahren nie ver¬
wischen, lehren auch meines Vrnders Schriften an vielen Stellen.

In dem schönen, von Herrn v. Poschinger glücklicherweise nnzerstttckt
wieder abgedruckten Weihnachtsaufsatze "Nur ein Märchen" hat er seine Knaben¬
zeit treu geschildert, doch ist einzelnes darin irrig gedeutet worden. Es ist
richtig, daß der Mutter, die ihn nicht zur See gehen lassen wollte, ein Stein
vom Herzen fiel, als er zum "Feldmesser" untüchtig gefunden wurde; dabei
war weniger im Spiel, daß das Baufach damals keine glänzenden Aussichten
eröffnete, als eine echt weibliche Sorge. El" befreundeter Vcmrat war in
frühen Mannesjahren gestorben, wenn ich mich recht erinnere, hieß es: an
gebrochenem Herzen, weil ihm eine Brücke eingestürzt war. Daher galt das
Banen als eine gefährliche Beschäftigung. Von dem beschränkten Kastengeiste,
der ja in Beamtenstüdten, wie Kostin eine war und vielleicht noch ist, nicht
selten vorkommt, war in unserm Elterhcmse keine Spur zu finden.


Erinnerungen an Lothar Lucher

den Marienkirchen mit etwas plumpem Pyramidendache ragt noch über diese
Stadt empor, wie über so viele Städte an der Ostseeküste entlang von Lübeck
bis nach Livland. Die andern ehrwürdigen Reste, die unsre Phantasie be¬
schäftigten, haben natürlich in neuester Zeit den Anforderungen „gesteigerten
Verkehrs" weichen müssen!

Aber den Genuß und Gewinn, die der Jngend aus kleiustüdtischem Leben
erwachsen, steht auf Seiten der Alte» oft Entbehrung und Verzicht gegenüber.
So bei unserm Vater. Er hatte sich als junger Gelehrter dnrch Schriften
über eine rationellere Methode des Unterrichts in der Geographie in den Fach¬
kreisen einen geachteten Namen gemacht, war mit Ritter »ud Alexander von
Humboldt in wissenschaftlichen Verkehr gekommen und erlebte noch in späten
Jahren den bescheidnen Triumph, in Lttddes Litteratur der Erdkunde ganze
Reihen von Büchern mit der Note: „Abgeschrieben aus Bucher" abgefertigt
zu sehen. Sein Platz wäre an einer Uiüversität gewesen; die tägliche Mühsal
des Unterrichtens und Kvrrigirens, immer in demselben Unterrichtsstoffe und
an einem Orte, der ihm für seine Studien keine Förderung gewähren konnte,
verzehrte seine Kraft. Die Mutter wieder konnte ihr Berlin nicht vergessen.
So lebten beide viel in der Vergangenheit, und das kam nus Kindern aber¬
mals zu gute. Wir hörten von den Weimarern und dem Olympier selbst, die
der Vater als Hauslehrer in der Nähe von Lauchstädt wiederholt gesehn hatte,
von dem unglücklichen Kriege und der Franzosennot, vom Rückzüge der großen
Armee, von der Belagerung Danzigs, dem Befreiungskampfe und den Ent-
tünschungen in seinem Gefolge. In Berlin wußten wir gut Bescheid, ehe wir
die Stadt gesehen hatten, und als ich lange nachher den Roman ,,Cabanis"
von Wilibald Alexis las, wurden die Erzählungen meiner Mutter wieder
lebendig von den Franzosen, die so bald gute Preußen, dann auch gute
Deutsche geworden waren, aber sich abgesondert hielten, wie die Wallonen in
Wallensteins Lager. Daß sich solche Eindrücke nus den Kinderjahren nie ver¬
wischen, lehren auch meines Vrnders Schriften an vielen Stellen.

In dem schönen, von Herrn v. Poschinger glücklicherweise nnzerstttckt
wieder abgedruckten Weihnachtsaufsatze „Nur ein Märchen" hat er seine Knaben¬
zeit treu geschildert, doch ist einzelnes darin irrig gedeutet worden. Es ist
richtig, daß der Mutter, die ihn nicht zur See gehen lassen wollte, ein Stein
vom Herzen fiel, als er zum „Feldmesser" untüchtig gefunden wurde; dabei
war weniger im Spiel, daß das Baufach damals keine glänzenden Aussichten
eröffnete, als eine echt weibliche Sorge. El» befreundeter Vcmrat war in
frühen Mannesjahren gestorben, wenn ich mich recht erinnere, hieß es: an
gebrochenem Herzen, weil ihm eine Brücke eingestürzt war. Daher galt das
Banen als eine gefährliche Beschäftigung. Von dem beschränkten Kastengeiste,
der ja in Beamtenstüdten, wie Kostin eine war und vielleicht noch ist, nicht
selten vorkommt, war in unserm Elterhcmse keine Spur zu finden.


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[0430] Erinnerungen an Lothar Lucher den Marienkirchen mit etwas plumpem Pyramidendache ragt noch über diese Stadt empor, wie über so viele Städte an der Ostseeküste entlang von Lübeck bis nach Livland. Die andern ehrwürdigen Reste, die unsre Phantasie be¬ schäftigten, haben natürlich in neuester Zeit den Anforderungen „gesteigerten Verkehrs" weichen müssen! Aber den Genuß und Gewinn, die der Jngend aus kleiustüdtischem Leben erwachsen, steht auf Seiten der Alte» oft Entbehrung und Verzicht gegenüber. So bei unserm Vater. Er hatte sich als junger Gelehrter dnrch Schriften über eine rationellere Methode des Unterrichts in der Geographie in den Fach¬ kreisen einen geachteten Namen gemacht, war mit Ritter »ud Alexander von Humboldt in wissenschaftlichen Verkehr gekommen und erlebte noch in späten Jahren den bescheidnen Triumph, in Lttddes Litteratur der Erdkunde ganze Reihen von Büchern mit der Note: „Abgeschrieben aus Bucher" abgefertigt zu sehen. Sein Platz wäre an einer Uiüversität gewesen; die tägliche Mühsal des Unterrichtens und Kvrrigirens, immer in demselben Unterrichtsstoffe und an einem Orte, der ihm für seine Studien keine Förderung gewähren konnte, verzehrte seine Kraft. Die Mutter wieder konnte ihr Berlin nicht vergessen. So lebten beide viel in der Vergangenheit, und das kam nus Kindern aber¬ mals zu gute. Wir hörten von den Weimarern und dem Olympier selbst, die der Vater als Hauslehrer in der Nähe von Lauchstädt wiederholt gesehn hatte, von dem unglücklichen Kriege und der Franzosennot, vom Rückzüge der großen Armee, von der Belagerung Danzigs, dem Befreiungskampfe und den Ent- tünschungen in seinem Gefolge. In Berlin wußten wir gut Bescheid, ehe wir die Stadt gesehen hatten, und als ich lange nachher den Roman ,,Cabanis" von Wilibald Alexis las, wurden die Erzählungen meiner Mutter wieder lebendig von den Franzosen, die so bald gute Preußen, dann auch gute Deutsche geworden waren, aber sich abgesondert hielten, wie die Wallonen in Wallensteins Lager. Daß sich solche Eindrücke nus den Kinderjahren nie ver¬ wischen, lehren auch meines Vrnders Schriften an vielen Stellen. In dem schönen, von Herrn v. Poschinger glücklicherweise nnzerstttckt wieder abgedruckten Weihnachtsaufsatze „Nur ein Märchen" hat er seine Knaben¬ zeit treu geschildert, doch ist einzelnes darin irrig gedeutet worden. Es ist richtig, daß der Mutter, die ihn nicht zur See gehen lassen wollte, ein Stein vom Herzen fiel, als er zum „Feldmesser" untüchtig gefunden wurde; dabei war weniger im Spiel, daß das Baufach damals keine glänzenden Aussichten eröffnete, als eine echt weibliche Sorge. El» befreundeter Vcmrat war in frühen Mannesjahren gestorben, wenn ich mich recht erinnere, hieß es: an gebrochenem Herzen, weil ihm eine Brücke eingestürzt war. Daher galt das Banen als eine gefährliche Beschäftigung. Von dem beschränkten Kastengeiste, der ja in Beamtenstüdten, wie Kostin eine war und vielleicht noch ist, nicht selten vorkommt, war in unserm Elterhcmse keine Spur zu finden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/430>, abgerufen am 23.12.2024.